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XCVII

Er erwacht und denkt heim, morgens in einem fremden Land, sei's auf den wehmütigen Pußten Ungarns, sei's im immensen London auf einem stillen Platz in einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert, er erwacht und denkt heim, oder sei's in einer kleinen Provinzstadt in Frankreich, er erwacht und denkt heim, er fährt nachts aus dem Schlaf auf, er fährt auf in die lebendige brütende Nachtstille, denn plötzlich ist ihm, als hätt' er die Laute Amerikas und der Wildnis gehört, die Dinge, die ihm im Blut, im Herzen, im Hirn, in jeder Faser des Fleischs und Gewebs sind, die Dinge, um deretwillen er mühsam atmet, die Dinge, die ihn rasend machen mit einer unerträglichen und namenlosen Pein.

Und was sind das für Dinge? Es ist der klagende Pfiff einer großen amerikanischen Lokomotive, wenn der Zug über den nächtlichen Kontinent donnert; es sind die Stimmen der Großstadtstraßen, diese harten, lauten, den Slang sprechenden Stimmen, Stimmen voll Heftigkeit, Humor und Verwegenheit, Stimmen, die nun stärker und weiter weg sind als die Leute Asiens; es sind die Geräusche, die vom Hafen von Manhattan kommen in der Nacht, diese großartige, aufregende Musik von der Flucht, vom Geheimnis und der Freude mit der mächtigen Orchestrierung der Transatlantikdampfer, dem heiseren Tuten der Schleppboote, der Fähren und der Lichterfahrzeuge, Laute, die aufwallen aus dem Golf der dunklen Unendlichkeit und einem durch Mark und Bein gehn.

Dies nämlich wird immer eins der unsterblichen Daseinsdinge in Amerika sein, wird eine ewige, unwandelbare Tatsache sein in jener Weltstadt, deren einzige Dauer der Wechsel ist: – immer werden dort die großen Flüsse sein, die die Stadt im Dunkel umfließen, die Ströme, die so viel namenloses Leben umzogen, so viel Verwandlung wie Gräben eingeschlossen haben, die die Wildnis und so viel hartes, glänzendes und Aufsehen erregendes Tun und Treiben umgürtet haben, so viel Schmerz, Schönheit und Häßlichkeit, so viel Mord, Lust, Verderbnis, Liebe und wilden Jubel.

Noch größere Maschinen werden gebaut werden und noch höhere Türme, aber immer fließen die Ströme, fließen tags, fließen nachts in der Dunkelheit; sie, die ihre Wasser ungeheuer aus der Wildnis ziehn, fluten an den Ufern der fabulösen Stadt vorbei, an den kleinen, tickenden Zeitlauten vorbei, am Leben vorbei und am Tod der Millionen Menschen. Immer fließen die Ströme, und immer werden große Schiffe auf der Flut sein, werden die großen Sirenen tuten an der Mündung im Hafen, und nachts sind tausend Menschen gestorben, während der Strom, immer der Strom, der dunkle, ewige Strom, er, der voll fremder, geheimer Zeit ist, er, der den Makel der Weltstadt hinwegwäscht, er, der dick ist und trübe vom Müll, an uns vorbei, an uns vorbei, an uns vorbeifließt ins Meer.

Er erwacht und denkt heim morgens in einem fremden Land. Ruhen kann er nicht, sein Herz ist wild vor Weh und vom Alleinsein, er schläft, aber er weiß doch, daß er schläft, und hört den dunklen, geheimen Bannlaut der Zeit rings in der Runde; in diesen altmodischen Städtchen kommt das volle Taumelgedröhn der Kathedralenglocken durchs Dunkel gewallt, aber in den Wandelgängen seines krankhaften, des Vergessens unfähigen Schlafs gehn die Laute des Gedenkens an Amerika um; nun ist es bald Tag, draußen auf der Straße hört er ein Pferd, und in Amerika rattern nun Räder, Hufe machen Klapp-klapp auf dem Pflaster, dann wird es still, und gleich darauf wird mit schepperndem Rasseln eine Milchkanne abgestellt.

Er erwacht morgens in einem fremden Land und atmet mühsam in der wollig-weichen europäischen Luft; diese grauwollene Luft ist allenthalben um ihn wie ein lebendiger Stoff, sie ist in seiner Lunge, in seinem Herz, in seinen Eingeweiden, sie ist in den langsamen und den lebhaften Bewegungen der Menschen, sie rieselt vom gedunsenen Himmel auf die Erde herab, sie schlägt sich auf die schweren Gebäude, tränkt die Glieder, die Herzen und Hirne der lebendigen Menschen. Sie dringt ein in den Geist des Wandrers; sein Herz wird dumpf von der grauen Müdigkeit der Verzweiflung, schmerzt vor Hunger nach der Wildnis, dem Heulen des Sturmwinds, dem Beißen und Funkeln klarer, kalter Luft, dem Sausen und Tosen und dem wilden Frohlocken. Diese dunstige, wollene Luft ist allenthalben um ihn, und da ist keine Hoffnung, denn diese Luft war da, eh William der Erobrer, Clovis und Karl Martell da waren, ehe Attila und Hengist und Horsa und Vercingetorix und Julius Agricola da waren.

Sie war immer da, sie ist nun da, sie wird immer dasein; man hat sie im lustigen Alt-England geatmet und im heiteren Paris und ist nicht oft lustig gewesen und selten heiter. Die dunstige, wollene Luft ist über München, ist über Paris, ist über Rouen und Madame Bovary, sie weicht ganz England ein, sie dringt ins gekochte Hammelfleisch und den Rosenkohl, sie tränkt Hammersmith am Sonntag und brütet über Bloomsbury und den Privathotels und dem British Museum; sie rieselt herab auf das Land Europa und hält das Gras grün. Sie ist immer dagewesen, sie wird immer dasein.

Seine Augen sind irr und dumpf; er kann nicht schlafen, weil ihm das phantomische Gedächtnis hinter den Augen gespenstert; sein Hirn ist überspannt und müde, aber im Gefängnis des Schädels geht das Gedenken um und hört nicht auf. Die Jahre gehn ihm im Hirn um, die Stimme seines Vaters klingt ihm im Ohr, und ihm im Blut dröhnt das Tamtam des Pulsschlags. Sein ganzes Gewebe, der fleischgewordene Staub, ist gespeichert vom Gedächtnis, zweihundert Millionen Menschen wandeln in seinem Gebein, er hört das Heulen des Winds um vergessene Giebel, und schlafen kann er nicht. Er geht durch die Wandelgänge der Mitternacht, er schaut die Wildnis, die vom Mondlicht betrauften Wälder, er kommt zu Lichtungen, auf mondbeglänzte Stoppeläcker, er hat den Weg verloren, und doch: er ist daheim. Sein Schlaf ist verwunschen vom Traum von der Zeit, Drähte klingen über ihm in der Weiße des Himmels, die Drähte summen in der Hitzglut des Mittags.

Die Schienen sind durch achthundert Quadratmeilen goldnen Weizenlandes gelegt, sie zwängen sich in Kurven durch lehmgelbe Einschnitte, laufen durch Tunnels, führen auf Dämmen über das Marschland hin, gehn hart an den Uferklippen vorbei am Flusse entlang, ziehn quer durch die Ebnen aus Staub und Donner, gleiten durch flache Dünung und das Krüppelföhrengestrüpp und kommen schließlich ans Meer.

So erwacht er morgens in einem fremden Land und denkt heim.

Denn wir sind morgens erwacht in einem fremden Land und haben die Stimme der bittren Verwünschung gehört, und wir wissen, was wir wissen, und es wird immer dasselbe sein.

»Einmal«, legte die Stimme los mit dem Gewicht ihrer bittren Unzufriedenheit, und an der Bar lehnte der Sprecher: »Einmal, ein einzigesmal bin ich zurückgefahren, einmal in sieben Jahren, und Herrgott! Das war genug. Einmal, und mir hat's gelangt! Der Teufel soll's holen, das ganze verdammte Land! Was hamm'se denn drüben jetzt außer 'nem Haufen bill'ger Spaghettibuden und Wolkenkratzer? Wenn Du was zu saufen willst, mußt Du durch drei Kehrichtgassen schleichen, dann wirst Du von einem Paar ehemaliger Preisboxer prüfend in Empfang genommen, und dann endlich darfst Du 'nen Dollar auf den Tisch des Hauses legen für 'nen Schuß Firnis, der 'nem Geisbock die Därme zerreißt ... Und erst die Weiber?« Die Stimme wurde gell vor Wut und Empörung. »Was für 'ne nette Blase kaltblutiger Goldgräberinnen aus diesen Bastarden geworden ist! Einmal gab ich dreißig Dollar für eine aus, ging mit ihr in 'ne Revue, dann in 'nen Nachtklub, na, und als es dann Schlafgehzeit war, glaubste vielleicht, ich hätt' was davon gehabt? ›Kannst mir's Händchen küssen‹, hat se jesagt. ›Du kannst mich am ... Abend besuchen, das kannste mal‹, hab ich drauf gesagt.« Die Stimme fauchte vor berechtigter Erbitterung. »Weißte was, als ich das Mensch fragte, ob se mitginge, da fing se an, nach der Polizei zu schreien! Wenn einen hier in Europa 'ne Frau so 'reinlegte, würde sie nach Sibirien geschickt! Nöh, ich halte das nich' für'n nettes Land. Nun, ich sag's Ihnen ein für allemal: Ick bin Franzose«, versicherte die Stimme mit überzeugendem Ernst. »Die Leute hier vastehn zu leben, sehn Se? Und dies hier ist das Land, wo ich hinjehöre, sehn Se? ... Johnny, le même tchoss pour mowah et m'sihr! Schenken Se m'l ein, Jung!«

»Carpentier«, raunzte die Stimme dann hohnvoll. »Awwah sichah, Mensch, ick bin Franzose – awwah Carpentier, wie kommen Se denn auf so'nen Quatsch? Herrgott! Dempsey hätte den Frosch k. o. geschlagen wie nix! ... 'n Zufall, glooben Se?!« gellte die Stimme. »Was Se nich sag'n, 'n Zufall? Ick hab doch selber die beiden boxen sehn, und dann, 'ne Stunde spätah hab ick Jack selbah jesprochen. 'n Zufall, meinen Se? Herrgott! Der einz'ge Zufall war, daß er den Carpentier vier Runden lang zappeln ließ. ›Ich hätt 'en in der ehrsten Runde umleg'n können‹, sagt mir der Jack ... Awwah sichah, ick bin Franzose«, sagte die Stimme mit kriegerischer Treue, »... awwah Carpentier! Nöh, Mensch, wie komm'n Se nur auf so'nen Quatsch?«

Und, Bruder, ich hab' die Stimme gehört, die Du nie hören wirst, und diese Stimme sprach von einem Leben, das kultivierter ist als irgendeins, das Du je kennen wirst, und – ich weiß und ich weiß, und dennoch bleibt es beim alten.

Bitteres Boston, bitter und abermals bitter: – der Wind enttrug das Blatt, die Wolke zerriß – »Ich denke, wir werden ein bißchen hier leben«, sagte die Stimme. »Ich denke«, sagte sie, »wir fahren nächste Woche mal ein bißchen 'runter nach Spanien, so daß Francis ein wenig was schreiben kann ... Und wirklich«, ging es in heiteren, aber durchaus kultivierten Tönen weiter, »es ist ganz wunderbar, was man hier alles anfangen kann, wenn man ein bißchen Geld in der Tasche hat ... Ja! tatsächlich, meine Liebe, es ist unglaublich«, wurde in feinen Akzenten und im Ton heiterer Überzeugtheit versichert. »Ich weiß zufällig, daß man ein richtiges, bitte, ein regelrechtes Schloß kaufen kann, ein château in der Nähe von Blois, und das kostet nicht mal ganze siebentausend Dollar! Einfach unglaublich, wissen Sie«, ging es weiter in dieser leichten, halbenglischen Aussprache, »wenn man dann damit vergleicht, was das Leben in Brookline kostet! ... Francis war es immer so zumute, als ob er mal ein bißchen was schreiben möchte, und ich habe irgendwie das Gefühl, daß die Atmosphäre hier einem derartigen Vorhaben günstiger ist, – und wirklich, wissen Sie, sie ist es ja auch«, sagte diese heitere, kultivierte Stimme aus Boston, die Du, mein Bruder, doch nie noch gehört hast. »Und schließlich und endlich«, meinte diese Stimme mit dem Nachdruck einer drolligen Aufrichtigkeit, »hier in Paris sieht man ja all die Leute, die man wirklich gern sieht. Sie wissen ja, wie ich es meine, nicht wahr? Über kurz oder lang kommen sie alle einmal nach Paris, – ich möchte schon vielmehr sagen, daß die wirkliche Schwierigkeit die ist, daß man hier ein bißchen Zeit für sich selbst behält ... Oder finden Sie das nicht?« wurde glatt und leichthin gefragt. »Oh! Da sehn Sie doch bloß! Dort!!« jubilierte die Stimme entzückt. »Ich meine den Burschen dort mit seinem Mädchen, ... wie sie umschlungen miteinander gehn! Finden Sie das nicht a-aha-an-betungswürdig? ... Ist so was nicht wu-hu-underbar?« fragte diese feine, silbertönende Stimme und fuhr fort mit patriotischer Zartheit: »Ich meine, so etwas ist doch vollkommen süß! Ich meine, daß diese jungen Menschen hier so etwas tun können und so ganz und gar selbst-un-befangen dabei sind! Nun frage ich Sie: WO? – ja: WO? – Wo könnten Sie in Boston so etwas erleben?« erkundigte sich die Stimme triumphant und in vollem, gepflegtem Bostoner Ernst.

(Selten in Brookline, gnädige Frau. Oh, selten, nicht oft, beinah nie in der Millionärsvorstadt, gnädige Frau. Aber an der Esplanade. Sind Sie je, gnädige Frau, nachts an der Esplanade spazierengegangen? Vielleicht in einer schwummerschwülen Augustnacht? Nun, das dort sind keine Franzosen, das sind lauter Juden, Iren und Italiener, aber der Lärm ihres Küssens ist, wie wenn der Wind durch einen laubigen Hain rauscht, – es ist, als ritten hunderttausend Mann Kavallerie durch einen Sumpf und Sie hörten, wie die Gäule die Hufe aus der schluckrigen Erde ziehn, meine liebe, gnädige Frau.)

»Ich meine, diese Leute hier verstehn sich auf dergleichen Dinge so viel besser als wir drüben ... Sie nehmen das alles so viel einfacher ... Ich meine, Sie haben viel mehr Anmut in solchen Sachen ... Il faut un peu de sentiment, n'est-ce pas? ... Oder meinen Sie nicht?« So fragten diese leichten, diese heiteren, diese silbrigen und halbenglischen Töne aus dem kultivierten Boston, die Du, mein Bruder, doch nie noch gehört hast.

(Ich versteh Sie vollkommen, gnädige Frau. Das ist eben das Französische an diesen Menschen. Ich weiß ... Aber wenn ich Ihnen nun an die Waden griffe, wenn ich anfinge, Ihre Beine ganz sacht, ganz zart, ganz anmutig streichelte, wissen Sie, auf eine irgendwie französisch graziöse Weise streichelte und dazu sagte: »Chérie! Petite chérie!« würden Sie sich dann dran erinnern, gnä' Frau, daß wir hier in Paris sind?)

Oh, bittres Boston, bitter und abermals bitter: die Silberstimmen der Frauen von dort sprechen mit einem Akzent, den Du nie verstehn wirst, und aus ihren Hüften wird Marmor werden, aber – es gibt noch weizenblonde Mädchen, Bruder, draußen in Minnesota, Neilsen heißen sie, und die Schenkel des blonden Mädchens Lundquist könnten einem Stier den Nacken brechen.

Oh, bittres Boston, bitter und abermals bitter: – Die Franzosen haben kleine Artigkeiten, die wir nicht haben, aber Bruder, es werden noch immer Wiegen verkauft in Georgia, und in New Orleans haben die Frauen dunkle Augen und weiße Zähne und können beißen bis auf die Knochen.

Oh, bittres Boston, bitter und noch einmal bitter, – und aus ihrem Fleisch wird Kabeljau werden. Droben im Staate Maine hinter Eurer Scheuer wartet Dein großer Bruder mit den roten, klobigen Fäusten auf Dich, und in den alten Südstaaten gibts immer noch Hochzeiten, bei denen das Schießgewehr mitspricht.

 

Oh, Bruder, es gibt Stimmen, die Du nie hören wirst, – Ahnenstimmen, die wahrsagen Krieg, – und ganz seltene und strahlende Stimmen, von denen Du, mein Bruder, nichts weißt, die den Stab über uns brechen. So hörte ich einst die vornehme Stimme von Oxenford, und wie ein abgeklimpertes, unbegeistertes Glockenspiel klang sie über mein Hirn hin, sie sprach mir ein teilnehmend Urteil über unser verderbtes Leben, liebenswürdig, mein Bruder, gar liebenswürdig erkannte sie allem im Weltall sein Teil zu, mühelos liebenswürdig, oh Bruder, unsagbar sanft, mit leichter Herablassung und belustigter Geringschätzung erkannte sie unser aller Los:

»B'fürchte, altah Junge«, bemerkte Oxenfords vornehme Stimme, »Ihah da drüben kämpft einen aussichtslosen Kampf ... Wirklich, ich muß es befürchten ... Für das Individuum ist dort wohl kein Platz meah«, meinte die vornehme Stimme, oh, unindividueller Bruder. »Ganz offenbah«, wurde ich duldsam unterrichtet, »ist doch kein kulturelles Leben möglich in einem Land, das deah Übahliefrung so vollkommen bah ist wie Eures ... Es ist alles so objektiv, wenn Sie vehstehn, wie ich's meine; einfach kein Raum da füah den Ausdruck des innahren Leben«, sagte die Stimme, oh auswärtsgewandter Bruder. »Wiah Europäah haben öftah bemerkt, (seah merkwürdig ist das schon, wissen Sie), daß deah Amehrikanah aussahstand ist, das Wahre wah' zu empfinden; es scheint füah ihn ganz unmöglich zu sein, das echte Gefühl von deah Sentimentalität zu trennen und unfehlbah entscheidet eah sich füah die letzterah. Sonderbah, nich' wah'?« – Oder meinst Du nicht auch, Bruder? – »Und, 'türlich, da ist Euah furchtbah vahbiestatahs Sexualproblem ... Eure Frauen! ... Oh Liebah, Liebah! ... Vielleicht sprechen wiah bessah gah nicht davon, abah so ist's doch!« Mitten ins Schwarze getroffen war das, mein Bruder. »Euah Land ist eine Matriarchie, mein liebah Junge. Wirklich, wissen Sie, so ist es.« Ich hoffe, Du kannst uns hier folgen, Bruder. »Die Frauen halten die Männah im Zustand vollkommenah Unterjochung. Der Mann wird zusehends geschlechtslosah un' unmännlichah«, fuhr die liebenswürdige Stimme fort, unsre Verdammnis zu beurteilen. »Ganz entschieden habt Ihah da ein großes Problem voah Euch, denn offenbah ist doch untah solchen Umständen eine Kultuah unmöglich ... Und deswegen antworte ich immah, wenn miah meine Freunde sagen, ich müsse Amehrika sehn, das müsse ich wirklich: – ›Neihn, danke, wenn Ihah nichts dagegen habt, möcht ich liebah nicht.‹ – Tut miah leid, abah so empfinde ich eben, ... wissen Sie ... Ich weiß, daß Sie diese Empfindung nich' vastehn können, denn schließlich un' endlich, Sie sind ein Yank, so ist's doch, nich' wah'!« Und dann, als dieses zwar höfliche, aber unverrückbare Urteil gesprochen war, mit dem Oxenford sich selbst auf immer aus Amerika verbannte und Dich, mein Bruder, der Möglichkeit beraubte, ihn jemals dort reden zu hören, sagte er: »B'daure, liebah Alta! Abah so empfinde ich eben! Ich hoffe, Sie stoßen sich nicht dran!« Und Liebenswürdigkeit und Beileid waren in seiner Stimme.

Nein, Herr, ich stoße mich nicht dran. Wir stoßen uns nicht dran. Er, sie oder es stößt sich nicht dran. Sie alle stoßen sich nicht dran. Kein Mensch, Herr, kein Mensch stößt sich dran. Denn, ganz wie Sie sagen, Herr, ein Ozean ist's, der uns trennt, ein Meer ist's, das uns gesondert hat, Ihr habt einen Zauber in Euch, den wir nicht ergründen können, – ein Licht, eine Flamme, eine Glorie, ein untastbares, undefinierbares, unverständliches, unbestreitbares Etwas, ein Dieses-oder-Jenes, das ich nie begreifen oder ermessen kann, weil ich, ganz wie Sie sagen, Herr, ganz wie Sie so mitleidig bedauernd sagen, ein Yank bin.

Also, mein Bruder, wahr ist, wir sind Yanks. Oh, wahr ist's, ja, wahr, ich bin ein Yank. Aber was heißt denn schon ein Yank, guter Bruder? Hat ein Yank keine Ohren? Hat er nicht Lügen, Wahrheiten, Eingeweide voll Mitgefühl, Ängste, Freuden und Lüste? Wärmt ihn nicht dieselbe Sonne, wäscht ihn nicht dasselbe Weltmeer, fressen ihn nicht dieselben Würmer, die einen Deutschen fressen? Stirbt er nicht, wenn man ihn tötet? Stinkt er nicht, wenn er schwitzt? Und wenn seine Frau oder seine Geliebte mit Dir ins Bett geht, betrügt sie dann nicht und hurt genauso wie eine Französin? Wenn Du ihm die Kleider ausziehst, ist er dann nicht ganz so nackt wie ein Schwede? Ist seine Haut weniger weiß als die Haut Baudelaires? Riecht er ärger aus dem Hals als der König von Spanien? Ist sein Bauch größer, sein Nacken feister, sein Gesicht schweinshafter und sein Auge glanzfeuchter als das eines Münchner Brauers? Und wird er nicht, wenn's drauf ankommt, betrügen, rauben, stehlen, Unzucht treiben, fluchen, hassen und morden genau wie jeder Europäer? Hei ja, Yank! Aber was heißt da schon Yank, guter Bruder, was soll es besagen, dies ›Yank‹?

Bruder, stammen wir von einem Menschenschlag ab, der dem Verderben geweiht ist? Steht ein Schicksalszeichen, ein schlimmes, über uns von Geburt an? Haben uns dunkle Engel den Namen gegeben, als uns die Mutter noch trug? Und wozu? Und wozu? Sollen wir vaterlos auf dem dunklen Meeresboden dahintappen, die Fühler ausgereckt unter dem Schwarm der Polypen, den blinden Saug- und Krabbeltierchen des Hirns, beladen mit einem Gedenken, das nicht sterben wird? Sollen wir unsere Liebe hinausschreien in die Wildnis, immer nachts aufwachen in einem fremden Land und mit der Faust auf das Kopfkissen schlagen und immerdar der Myriaden Anblicke und Laute der Heimat gedenken?

»Während Paris schläft«, – bei Gott! Während Paris schläft, sollen wir da wachen und herumlaufen und nicht schlafen, wachen und herumlaufen und schlafen und wachen und wieder schlafen und den Tag kommen sehn wie damals im Fensterrechteck, das schmerzend vor unsern glasigen, halbschlafenden Augen stand, und dieses weiche, verhaßte, ausländische Licht sehn und diese weiche, sehnsüchtig schlaffe Luft atmen, eine Luft, die nicht beißt auf der Haut und das Blut nicht funkeln macht, und Legenden und Lügen und Fabeln vor unsern Augen verwittern sehn, wie damals, als wir sahn, was wir sahn, und erkannten, was wir erkannten.

Söhne von Vätern, die verloren waren und allein standen, Söhne der Wandrer, der Kinder der harten Lenden und der unbezähmten Erde, der Pioniere, – was hatten wir denn zu schaffen mit ihren Glocken und Kirchen? Konnten wir unsern Hunger stillen an den Bildern des spanischen Königs? Bruder, wofür, wofür? Um den Riesen der Einsamkeit und der Furcht zu erschlagen, um den Hunger umzubringen, der nicht ruhte, der uns keine Ruhe gab.

 

Vom immerwährenden Wandern und der Erde wiederum ... Bruder, wofür? Wofür? Wofür? Für die Wildnis, das unermeßliche und einsame Land. Für den unausstehlichen Hunger, das unerträgliche Weh, die unheilbare Einsamkeit. Für jenes innere Frohlocken, dem einzig der wilde Bocksschrei erwidert. Für eine Million Erinnrungen, zehntausend Anblicke und Laute und Formen und Gerüche und Namen von Dingen, die wir nur wissen können.

Wofür, wofür? Nicht für eine Nation. Nicht für ein Volk, nicht für ein Weltreich, nicht für ein Ding, das wir lieben oder hassen.

Wofür? Für einen Schrei, einen Raum, eine Verzückung. Für einen unbändigen und namenlosen Hunger. Für ein lebendiges und unleidliches Gedächtnis, das sich auch nicht auf eine Sekunde vergessen läßt, da es alle Augenblicke aus unsren Leben und all unser Sein und Tun einschließt. Für ein lebendiges Gedächtnis, für zehntausend Erinnrungen, für eine Million von Anblicken, Lauten und Momenten; für etwas, dem nichts auf Erden gleicht, für etwas, das uns besitzt.

Für etwas unter unsern Füßen und rings um uns und über uns; für etwas, das in uns ist und ein Teil von uns ist, und das von uns ausgeht und in all unserm Blut durch die Adern pocht.

Bruder, wofür?

Zunächst für den Donner der imperialen Namen, für die Namen von Männern und Schlachten, von Orten und großen Strömen, die mächtigen Namen der Staaten. Den Namen The Wilderness und die Namen Antietam, Chancellorsville, Shiloh, Bull Run, Fredericksburg, Cold Harbor, The Weath Fields und Saratoga; der Namen Death Valley, Chikkamauga und Cumberland Gap. Die Namen der Nantahalahs, der Bad Lands, der Painted Desert, des Yosemite und des Little Big Horn; die Namen der Counties von Yancey und Cabarrus und den furchtbaren Namen Hatteras.

Dann: – für den kontinentalen Donner der Staaten: – die Namen Montana, Texas, Arizona, Colorado, Michigan, Maryland, Virginien und die Dakotas; die Namen Oregon und Indiana, Kansas und des reichen Ohio, den mächtigen Namen Pennsylvanien und den Namen Old Kentucky und den Namen des weithingewellten Alabama, die Namen Florida und Nord-Karolina.

Um Tagesanbruch liegen die Jäger der langen Jagd im Roteichendickicht und lauern dem Bär auf, – die Pfeile rattern im Lorbeerlaub, das Kriegsgeschrei gellt um die Buntfelsschlüfte, – und die majestätischen Namen der indianischen Volkschaften: Pawnee, Algonkin, Irokesen, Komantschen, Schwarzfuß, Seminolen, Cherokesen, Sioux, Huronen, Mohawk, Navajo, Ute, Omaha, Onondaga, Chippewa, Cree, Chickesaw, Arapahoe, Catawba, Dakota, Apachen, Croatan, Tuscarora; die Namen des Powhatan und des Sitting Bull und des großen Häuptlings Rain-in-the-Face.

Vom immerwährenden Wandern und der Erde wiederum: – Um Tagesanbruch liegen die Jäger der langen Jagd im Roteichendickicht und lauern dem Bär auf, die Pfeile rattern im Lorbeerlaub, und Ulmwurzeln umklammern die Gebeine begrabener Liebespaare. Kriegsgeschrei ist erschallt auf den Wanderstraßen im Westen, und auf den Ebnen liegt die verrostete Flinte bei einer Handvoll gebleichter Knochen. Die brache Erde? Hat keine Liebe gewohnt in der Wildnis?

Die Schienen weisen westwärts im Dunkeln. Bruder, hast Du Sternlicht auf Schienen gesehn? Hast Du den Donner des großen Expreßzugs gehört?

Vom immerwährenden Wandern und der Erde wiederum. Die Namen der mächtigen Bahnen, die die Staaten verbinden, den Räderdonner der Namen derer, die wie ein Netz auf dem Kontinent liegen: die Pennsylvania, die Union Pacific, die Santa Fé, die Baltimore and Ohio, die Chicago and Northwestern, die Southern, die Louisiana and Northern, die Seabord Air Line, die Chicago, Milwaukee and Saint Paul, die Lackawanna, die New York, New Haven and Hartford, die Florida East Coast, die Rock Island und die Denver and Rio Grande.

Bruder, die Namen der Lokomotiven, der Maschinisten und der Schlafwagen, die großen Lokomotiven vom ›Pacific‹ Typ mit den drei Sätzen von achtführigen Triebrädern, die 400 Tonnen schweren Donnerbolze mit J. T. Cline, T. J. McRae und den Dämonhabichtsaugen des H. D. Campbell auf den Geleisen.

Die Namen der großen Tramps, die mit den schnellsten Zügen in allen Staaten herumfahren: Oklahoma Red, Fargo Pete, Dixie Joe, Iron Mike, Frisco Kid, Nigger Dick, Red Chi, Ike the Kike, Jersey Dutchman.

 

Bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit, Lord Tennyson stand auf den Klippen und starrte. Er hatte langes Haar, seine Augen waren tief und voll Schatten, und er trug ein Cape. Er war ein Dichter, und in seiner Berührung waren Mysterium und Magie, denn er hatte die Elflandhörner leise erklingen hören. Und bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit stand Lord Tennyson auf den kalten grauen Klippen und befahl der See: »Brich! Brich! Brich!« Und die See brach sich am Fels, bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit, wie Lord Tennyson es befahl, und sein Herz war traurig und einsam, als er die stattlichen Schiffe (von der Hamburg-American-Packet-Company, Fahrgeld für fünfundvierzig Dollars an aufwärts für erste Klasse) entschwinden sah auf der Fahrt zu Häfen hinter dem Bogen des Meers, und Lord Tennyson wünschte sich's, sagen zu können, was ihm das Herz nun bewegte.

Bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit: – die Namen der mächtigen Ströme, der Schwemm-, Saug- und Schiebrinnen, der Trockenleger des Kontinents, den Gurgeln, die Amerika trinken. (Fließ leise, Themse süße, bis mein Lied ich end'.) Die Namen der Menschen, die dahingehn, und die Myriaden Namen der Erde, die auf immerdar dauert; die Namen der Menschen, die zum Wandern verdammt sind und den Namen des unermeßlichen und einsamen Lands, auf dem sie wandern, zu dem sie zurückkehren, in dem man sie einmal begraben wird: – Amerika! Die unsterbliche Erde, die immerdar wartet, die Züge, die über den Kontinent donnern, die Männer, die wandern, und die Frauen, die aufschreien: »Kehre zurück!«

Schließlich die Namen der großen Ströme, die in der Dunkelheit fluten. (Fließ leise, Themse süße, bis mein Lied ich end'.)

Bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit: – die Namen der großen Mäuler, der mächtigen Rachen, der breiten, feuchten, gewundenen, nie übersättigten, unendlichen Schlangen, die den Kontinent aussaufen. Wo, Ihr Menschensöhne, und in welch einem anderen Land werdet Ihr Ströme wie diese finden und eine Musik von Namen, die der Musik ihrer Namen gleichkommt? Monongahela, Colorado, Rio Grande, Columbia, Tennessee, Hudson (Süße Themse!), Kennebec, Rappahannock, Delaware, Penobscot, Wabash, Chesapeake, Swannanoa, Indian River, Niagara (Süßer Avon!), Sankt Lorenz Strom, Susquehanna, Tombigbee, Nantahala, French Broad, Chattahoochee, Arizona und Potomac (Vater Tiber!), – dies sind ein paar von ihren fürstlichen Namen, dies sind ein paar von ihren großen, stolzen, glitzernden Namen, würdig des unermeßlichen und einsamen Lands, das sie bewohnen.

O Tiber, Vater Tiber! Ein Säugling bloß wärst Du in jenem mächtigen Land! Und was Dich betrifft, süße Themse: fließ leise weiter, bis mein Lied ich end', fließ artig, artige Themse, benimm Dich wohlerzogen, süße Themse, sprich sanft und höflich, kleine Themse, fließ leise, bis mein Lied ich end'!

Bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit: – und von der gelben Katze, die die Nation mit der Pranke schlägt, vom Bauch der Schlange, die sich übers Land hin windet, – die furchtbaren Namen der Hochwasser führenden Ströme, der Ströme, die im Dunklen schäumen und schwellen, die die Dämme zerreißen, die das Tiefland zweitausend Meilen weit überschwemmen, die mit ihren Fluten die Rippen von Städten meerwärts führen: die furchterregenden Namen Tennessee, Arkansas, Missouri, Mississippi, und selbst die Namen der kleinen Gebirgsflüsse, Brüder, zur Hochwasser-Jahrzeit.

Vorsichtig wird nach den Griechen gefischt vor dem Bahnhof; das Kanu fährt geschickt durchs Portal des Wartesaales für Weiße; volle fünf Faden tief liegt das Geripp des alten Lype (aus seinem Gebein wird Korallengestein); und immer weiter wird gefischt nach den Griechen, die im Lunchroom vorm Bahnhof ertranken.

Bruder, ach, was für ein Fischzeug ist das da? Das Treibsel eingestürzter Zimmer, die trüben Brautschleier der Armut, verschleimter, zerschlissener Gute-Stuben-Plüsch, versoffne Gesichter im Familienalbum, Verwaschnes, in den Augen längst Ertrunkner, verquollne Gesichtszüge, weißgelaugtes, gedunsenes Fleisch.

Vorsichtig wird gefischt nach den Griechen vorm Bahnhof. Die strengen, guten, halbertränkten Gesichter der Brüder Tide und Mark überblicken die Fluten. Cardui! Miß Lillian Leitzell renkt einen Arm über dem Wasserstand; der Clown, eingesunken im Schlamm bis zur Hüfte, schwimmt aus dem gelben Gestrudel herauf; der Tiger bleckt die Zähne über dem Schwall eines Flusses, von dem er nicht trinken will. Die zerrissenen Fetzen der Zirkusplakate pappen an eingeweichten Brettern. Und vorsichtig wird gefischt nach den Griechen vorm Bahnhof.

 

Haben wir das nicht gesehn, Bruder?

Denn was sind wir, mein Bruder? Wir sind ein phantomisches Flackern gekränkten Begehrens, die Gespenstlinge und das phosphorische Flackern der unsterblichen Zeit, eine Kürze von Tagen, die heimgesucht sind von der Ewigkeit der Erde. Wir sind eine unaussprechliche Äußerung, ein unersättlicher Hunger, ein unlöschbarer Durst; eine Lust, die uns die Sehnen zerschnellt, die uns die Hirne zerbirst, die uns die Eingeweide krank macht bis zur Fäulnis, die uns die Herzen zerreißt. Wir sind eine Verrenkung aus Leidenschaft, eine Flamme aus Liebe und Verzücktheit auf einen Nu, ein Gewebe aus hellem Blut und Sterbensqual, ein verlorner Schrei, eine Musik aus Schmerz und Lust, eine Heimsuchung aus kurzen, heftigen Stunden, eine beinah eingefangne Schönheit, ein Dämonengeflüster aus körperlosem Gedenken. Wir sind die, die die Zeit prellt.

Denn, Bruder, was sind wir?

Wir sind die Söhne unsres Vaters, dessen Antlitz wir niemals sahn, dessen Stimme wir niemals hörten, wir sind die Söhne unsres Vaters, zu dem wir in Sterbensqualen um Kraft und Trost schrien, wir sind die Söhne unsres Vaters, dessen Leben wie unsres gelebt ward in Einsamkeit und in der Wildnis, wir sind die Söhne unsres Vaters, vor dem wir allein die fremde, dunkle Bürde unsres Herzens und Geistes aussprechen können, wir sind die Söhne unsres Vaters, und wir werden aufimmerdar in seinen Fußtapfen folgen.


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