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X

Der junge Mensch war nach Noten verloren, alles prasselte auf ihn herein, er wußte nicht, wie sich wehren im Getümmel der Welt. Er hatte während seiner letzten vier Jahre in einer wohlgefälligen und verständlichen Umwelt eine Kruste angesetzt, sie bröckelte nun ab von ihm wie ein Panzer aus getrocknetem Schlamm. Er war nichts, er war niemand, sein Mut und sein Selbstvertrauen ließen ihn im Stich. Er wurde sich jener bodenlosen Unkenntnis bewußt, mit der nach Sokrates die Weisheit anfängt.

Er wollte etwas vorstellen auf der Welt, dabei hatte er keine Vorstellung von den vielen Leuten, die auf dieser Welt herumlaufen. Wie es den meisten geht, die die Einsamkeit liebhaberisch-zärtlich ans Herz drücken, so ging's auch ihm: gelegentlich drang das Bedürfnis nach Geselligkeit durch ihn hindurch wie ein Schwert. Geselligkeit freilich müsse immerdar lieblich und nahrhaft sein, empfand er. Man müsse sie nach Belieben herbefehlen und entlassen können.

Nun bestand da unter den Mitgliedern des dramatischen Kurses ein regsamer Geselligkeitsbetrieb, dessen Ersprießliches gar wohl berechnet war. Die angeblichen Vorteile, die man aus der Diskussion zog, aus dem Gegenspiel der Geister und vor allem aus jenem Austausch von Gedanken, die man zwar sein eigen nannte, die aber andrer Leute Gedachtes waren, – diese höchst schätzenswerten Vorteile wurden oft erwähnt und gehörten zu den Hauptwohltaten, die der Kursteilnehmer empfing.

Zugegeben, Schriftstellern ließ sich überall. Wo aber konnte man besser zu Werke gehen als hier, wo einen dauernd Leute anregten, die ebenfalls schriftstellerten? Fehlte einem etwas, nun, wo konnte man's leichter ausfinden als hier vor der ernst-richtenden Gemeinschaft der Kunstgenossen? Die Kunstgenossen waren es zufrieden; sie kriegten, was sie begehrten. Aber ihr Mangel an Wärme, oder vielmehr das Fehlen der ursprünglichen und entscheidenden Herz- und Kernhitze, die ihnen weder gegeben war, noch von ihnen ersehnt wurde, – das entsetzte Eugen und erfüllte ihn mit einer machtlosen Wut auf den ganzen Geselligkeitsbetrieb.

Der kritische Sinn hatte sich noch kaum in ihm geregt; auf den Gedanken, anerkannten Rang und maßgebliche Gültigkeit zu bezweifeln, war er nie gekommen. So stand er nun vor einer der ältesten Aufgaben des geistigen Lebens, einer Aufgabe, die für den schöpferischen Menschen zu den allerschmerzlichsten gehört, und die die Suche nach gültigen Geschmacksgrundsätzen betrifft. Er hatte in seinem ersten Jahr auf der Staatsuniversität mit der sieghaften Welteinsicht seiner siebzehn Jahre Gott geleugnet, – und nun war er außerstande, Robert Browning zu leugnen. Es war ihm nie beigefallen, daß es etwas wertgültig Schönes auf der Welt gäbe, das nicht weit und breit, allzeits und allseits vor der Universalgemeinschaft der Einsichtigen als wertgültig schön bestünde. Er dachte, jedermann müsse doch erkennen, daß der König Lear zu den größten Schauspielen aller Zeiten und Zonen gehöre, und nun fand er allmählich heraus, daß nicht jedermann solches tat.

Ferner bedrängte ihn zum erstenmal die Sorge, modern zu sein. Wie alle jungen Leute hatte er eine Heidenangst davor, sich unmodern zu gebärden, und die Vorstellung, nicht zum literarischen und künstlerischen Vortrupp zu gehören, war ihm unerträglich. Er kannte mehrere junge Leute, die bereits Kurzgeschichten, Gedichte und kritische Aufsätze veröffentlicht hatten, und zwar in Zeitschriften, die von Eingeweihten für Eingeweihte herausgegeben wurden. Dort fielen, mit ein paar gutgewählten Worten abgetan, die meisten anerkannten Schriftsteller der Verächtlichkeit anheim, und in die freigewordenen Ränge rückten die obskuren Namen von Eingeweihten, die, wie versichert wurde, die wichtigen Leute der Zukunft waren.

Eugen hörte nun zum erstenmal, daß das Wort mittel-viktorianisch als Schimpflichkeitsausdruck verwandt wurde. Was damit gesagt sein solle, ging ihm nicht ein. Robert Louis Stevenson, von dem er kaum mehr als die Knabenbücher kannte, die er einst heißhungrig und begeistert gelesen hatte, wurde hier als Wahrzeichen der Gefahr angesehen und galt als ein Verfasser, der einen zwar nicht näher bestimmten, aber dennoch unheimlich-heillosen Einfluß ausübe.

Eugen merkte sofort, was hinter diesen Zweifeleien stak. Wer Anerkanntes bezweifelte, stieg in der Achtung der Gruppe. Eugen sah auch ein, daß sich das ganze Sach- und Fachgerede um ein Schaugerüst drehte, auf dem Platz und Anerkennung zu finden wäre, denn gerade für junge Leute ist es ja stets eine unerträgliche Schande, mit einem verjährten und abgelegten Denkmuster betroffen zu werden. Das Schaugerüst, an dem sie nun turnten, stellte für die jungen Leute das sichtbare Mahn- und Merkmal ihrer geistigen Entwicklung dar. Es ging ihnen genauso, wie es den jugendlichen Denkern im ersten Universitätsjahr geht. Bekanntlich fällt man da mit dem Glauben, Gott sei ein weißbärtiger alter Mann, der allgemeinen Lächerlichkeit anheim; glaubt man aber, Gott sei ein Ozean ohne End und Ufer, oder Gott sei ein all-durchdringender, all-einschließender Gehalt, oder Gott entspräche irgendeiner andern, gleichviel kindlichen und ungewöhnlichen Auffassung, dann wird das als ein sicheres Zeichen kühner Erleuchtung gedeutet. So bildet sich oft einer ein, er habe seine Grenzen weiter gesteckt, er habe seine Fesseln gesprengt und sich in den weiten Äther gehoben, und dabei hat er weiter nichts geschafft, als einen alten Aberglauben für einen neuen eingetauscht und eine schöne Mythe um einer unschönen willen aufgegeben.

Den jungen Männern in Professor Hatchers Klasse taten viele Sachen und gar manche Männer leid. Auch Galsworthy, Shaw und Barrie.

»Barrie?« Der junge Mr. Scoville, ein eleganter, begüterter Zeitvergeuder aus Philadelphia, zog die Brauen hoch, sog tief an seiner Zigarette, meinte verneinenden Hauptes: »Barrie? Bedaure. Ich kann ihn nicht lesen. Ich habe mich ehrlich bemüht. Es geht mit dem besten Willen nicht.«

Beifälliges Lachen.

»Schade, wissen Sie, jammerschade«, bemerkte Francis Starwick, erfolgreich den Ausdruckstrick anwendend, der seinen Urteilen die traurig-ernste Endgültigkeit verlieh.

Starwick wandte sich zum Gehen.

»Aber-aber-aber, wie-wie-wie ... wie interessant! Warum ist's denn schade, Frank?« wollte Hugh Dodd in seinem durchaus ernsten, stammelnden Erkenntniseifer wissen. Er hegte tiefe Ehrfurcht vor Starwicks kritischer Fähigkeit.

»Warum was wie ist?« fragte Starwick. Manierierte Stimme. Sehnsuchtsmüde Miene. Mit luxusdamenhafter Wollust zupfte er den blauen Seidenschal in üppiges Gefältel. Er hatte die buschigen Brauen heruntergezogen. Äußerste Sammlung im Gesicht. Der Wertwisser. Der Werterkenner. »Also warum es schade um Barrie ist? – Der Mann hatte einmal etwas. Wirklich. Etwas Seltsames und Heimsuchendes. Den Genius der Kelten.«

Er ging, langsam den Stock schwingend, sich mit schmerzlicher Schärfe bewußt, daß er beobachtet wurde. Er ging steif wie ein Mensch, der schon erstarrend mit dem Tod kämpft, denn Totenstarrnis war auf dem Grund seines Wesens. Er ging anmutig-leichtschrittig über den winterlieblichen, winteröden Harvard Yard, und auf den verkahlten Ästen lag harscher Schnee.

»Wißt Ihr-wißt Ihr-wißt Ihr, das ist sehr interessant. Ich hatte es nie auf gerade diese Weise angeschaut«, sagte nun Dodd. Er meinte es wörtlich.

»Barrie«, klönte Wood, der Epigrammatist, »Barrie ist eine Zuckerstange, die auf einem Meer von zähflüssiger Zuckerschmelzmasse dahintreibt.«

Gelächter.

Wood machte immer und ewig dieserlei Epigrämmchen. Sein Gesicht hatte etwas Saturninisches, seine Lippen waren ironisch gezogen, sein Blick verschoß satirische Pfeilsplitter. Er sah aus, als hätte er den Humor, der wie Höllenstein ätzt; unglückseligerweise aber hatte er überhaupt keinen Humor. Kein Mensch mit so einem Gesicht könnte weniger Scharfsinn besitzen.

Wood hatte so ein sagbares Sächelchen für jede Gelegenheit. Er hatte ausgefunden, daß die witzige Gebärdung für Witz gehalten wird. Wäre nun die Rede auf Shaws Unzulänglichkeit als Dramatiker gekommen, dann hätte er beispielsweise bemerkt: »Na, wenn's ihm da drauf ankommt, dann sollte er doch Vorträge mit Lichtbildern halten!« Folglich stand Wood da nicht nur als der subtile Kenner und der listenreiche Psychologe, sondern auch als der junge Mann mit dem beißenden Witz.

»Galsworthy hat mal was geschrieben, das wie ein Schauspiel aussah«, bemerkte einer. »Ganze Stellen in ›Justice‹ waren nicht schlecht.«

»Stimmt, stimmt«, sagte Dodd und suchte gespannt nach Worten. »Da waren sehr interessante Sachen in dem Stück. Es ist wirklich schade um ihn, nicht wahr?« Dodds Mitleid mit Galsworthy war echt. An Güte und Menschenliebe fehlte es bei Dodd nicht.

Als sie auseinandergingen, bemerkte einer, daß Shaw einen Dramatiker abgegeben hätte, wenn er das Stückeschreiben verstünde.

»Aber er datiert doch so sehr zurück!« bemerkte Scoville.

»Immerhin, die ersten Stücke ...«

»Zugegeben«, entschied Wood bündig. »Beinah mittel-viktorianisch! Shaw: – ein Seher mit rückwärtsgewandtem Gesicht.«

In kleinen Gruppen gingen sie auseinander.


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