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XX

Mehrere Monate lange besuchte Eugen Genevieve recht oft. Als er die Familie besser kennenlernte, verging ihm das Verführergelüst ganz und gar. Statt dessen stellte sich eine berauschende und unersättliche Fröhlichkeit bei ihm ein, denn er fand heraus, daß ihn nie im Leben etwas so ungeheuer und andauernd ergötzt hatte wie diese Simpsons. Tagelang im voraus freute er sich schon auf seinen nächsten Besuch. Er erfand kühne, hochstaplerische Fabeln, die er dort zum besten zu geben gedachte, und mußte oft plötzlich auf der Straße laut lachen, weil ihm irgendeine Szene einfiel, die sich bei einem seiner bisherigen Besuche abgespielt hatte. Oft war es nur eine Kleinigkeit, die ihn so maßlos beglückte, der Ton und Bedeutungsnachdruck, mit dem da ein Wort gefallen war, eine Gebärde, die die ohnehin völlig durchsichtige Künstelei des Gehabens von Mutter und Tochter zueinander preisgab oder die geradezu ins Unglaubliche übertriebene Art, mit der diese Leute sich wichtig nahmen.

Eugen war bezaubert und berückt: er schwärmte und ging Tag für Tag mit völlig ausgefallenen Plänen schwanger. Das Herz bebte ihm in einem engen Käfig nervöser Heiterkeit, wenn er daran dachte, welch eine unendliche Fülle an unsinnigem Ulk dort für ihn aufgespeichert lag. Sein ethisches Gewissen war damals noch kaum erwacht: er hielt die drei Simpsons einfach für ungeheuerliche Schaustücke auf dem Jahrmarkt des Lebens und dachte, deren Vorführung fände zu seiner Belustigung statt. Der Haß auf die Grausamkeit, das ekelerregende Entsetzen vor der stumpfsinnigen Rohheit der Jugend hatte sich noch nicht genügend aus ihm herausgearbeitet, um seinem Übermut Zügel anzulegen. Er ließ sich mit voller Stromesgeschwindigkeit in das Abenteuer treiben. Im übrigen dachte er an nichts.

 

Durch einen ganzen Winter hindurch bis in den Frühling hinein besuchte er diese kleine Familie in der Bostoner Vorstadt. Dann wurde er des Spiels müde und der Leute leidig. Mit derselben Plötzlichkeit, mit der das Vergnügen an der Sache gekommen war, stellten sich nun der Verdruß ein, das Angeödetsein und jenes leidenschaftliche Nicht-länger-ertragen-Können, dessen man in der Jugend fähig ist. Und als nun der Spaß aus war, schämte er sich wenigstens der Rolle, die er gespielt, und der anmaßenden Verachtung, mit der er sich da auf anderer Leute Kosten lustig gemacht hatte. Und er merkte auch, daß die Simpsons schließlich doch dahintergekommen waren, daß er einen Jux mit ihnen trieb. Er fand die Familie gegen sich vereint in einer Haltung, die er den dreien gar nicht zugetraut hätte, und die er später nie vergessen konnte.

Eines Abends, als er im Wohnzimmer auf das Mädchen wartete, kam die Mutter herein und sah ihn eine Weile stillschweigend an. »Sie kommen nun schon ziemlich lange hier ins Haus«, sagte sie schließlich, »und wir haben uns immer über Ihr Kommen gefreut. Meine Tochter mochte Sie gern, ... sie mag Sie jetzt noch gern ...« Sie sprach langsam, ganz offenbar fiel es ihr wirklich schwer und machte es sie wirklich verlegen, dies zu sagen. »Daß meine Tochter gut im Leben fährt«, sagte sie ernst, »das bedeutet mir mehr als alles in der Welt. Ich würde alles tun, was in meinen Kräften steht, um sie vor Unglück und Mißgeschick zu bewahren.« Sie schwieg eine Weile. Dann erklärte sie rundheraus: »Ich glaube, ich habe das Recht, Sie etwas zu fragen. Sagen Sie, welche Absichten haben Sie, die meine Tochter betreffen?«

Eugen sagte sich zwar, daß diese Worte ganz in das burleskkomische Bild dieser Leute paßten, trotzdem aber fand er, daß es ihm unmöglich war, darüber zu lachen. Er starrte ins Feuer, wußte keine Antwort und gestand endlich murmelnd: »Ich habe keine Absichten, die Ihre Tochter betreffen.«

»Das ist schon recht«, sagte Mrs. Simpson leise. »Das ist alles, was ich wissen wollte ...« Nach einer Pause fuhr sie langsam fort: »Sie sind ein junger Mensch und sicher sehr gescheit und klug, aber es gibt sehr viele Dinge, die Sie noch nicht verstehn. Ich weiß natürlich nun, daß wir Ihnen komisch vorkamen, und daß Sie sich über uns lustig gemacht haben ... Ich verstehe zwar nicht, warum Sie dachten, so etwas wäre spaßig, aber ich glaube, Sie werden den Tag erleben, an dem Ihnen Ihr Betragen leid tun wird. Es ist nicht recht, sich einen Spaß mit Leuten zu machen, so wie Sie es mit uns taten, mit Leuten, die Sie gern mochten und sich ehrlich Mühe gaben, freundlich zu Ihnen zu sein.«

»Das weiß ich«, sagte er und murmelte: »Es tut mir nun leid.«

»Und doch, ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Mrs. Simpson, »daß Sie so ein Bursch sind, der einem Menschen, der ihm nie das geringste zuleid getan hat, mutwillig Kummer und Schmerzen bereitet ... Ich sage das ... meiner Tochter wegen ...«

»Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen«, erklärte er. »Es tut mir nun wirklich leid, daß ich mich so benommen habe, – ich habe jedoch nichts getan, was Sie nicht wissen. Und ich werde nicht wiederkommen. Aber ich möchte Ihre Tochter gern noch einmal sehen und ihr, ehe ich weggehe, sagen, daß es mir leid tut.«

»Ja«, sagte die Frau, »ich glaube, das sollten Sie wirklich tun.«

Sie ging. Ein paar Minuten später kam das Mädchen herein, und er sagte ihr Lebewohl. Er versuchte mit täppischen Worten sich zu entschuldigen, sie sagte nichts. Sie stand ganz still da, beinah steif, die Lippen fest zusammengepreßt, die Hände verkrallt, die Tränen zurückblinzelnd. Schließlich gab sie ihm die Hand und sprach:

»Es ist schon recht. Ich sage Ihnen ohne Groll Lebwohl ... Eines Tages ... eines Tages ...« Ihre Stimme klang erstickt, sie blinzelte heftig. »... oh, eines Tages werden Sie es hoffentlich verstehn ... Leben Sie wohl!« rief sie und wandte das Gesicht schnell ab. »Ich bin nicht länger wütend auf Sie ... ich wünsche Ihnen viel Glück ... Sie wissen so viele Sachen ... und sind so viel gescheiter als wir ... nicht wahr? Und doch tun Sie mir leid, wenn ich denke, was Sie noch alles lernen und durchmachen müssen, bis Sie etwas verstehen.«

»Leben Sie wohl«, sagte er.

Er sah nie jemanden von den Simpsons wieder. Aber vergessen konnte er sie nicht. Die Albernheit, die Falschheit und die Heuchelei dieser Familie verwandelten sich seltsamerweise im Lauf der Jahre in seiner Erinnerung oder wurden unterdrückt. Statt dessen erstand ihm ein lebhaftes und eindringliches Bild von einer kleinen Familie, die wie Millionen ihresgleichen unter den ungeheuren, zeitlos über uns hingewölbten Himmeln, in der Dunkelheit der namenlosen und ungezählten Leben, in der einsamen Daseinswildnis Amerika tapfer zusammenstand gegen die riesenhaften Feinde, um dem Schicksal Behagen, Wärme und Liebe abzuzwingen mit einem Mut und einer Redlichkeit, die nicht sterben würden, die nicht vergessen werden konnten.


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