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LXII

Die Geschwister verstummten augenblicklich, als Eugen eintrat. Joel war aufgestanden, schloß die Tür hinter dem Gast und deutete auf einen Ledersessel, in dem der Autor, der nun sein Stück vorlesen sollte, bequem säße. Dann nahm Joel wieder neben Rosalind Platz und wartete, daß die Vorlesung begann.

Eugen fing stockend zu lesen an, es fiel ihm schwer, er las mit der verlegenen Befangenheit eines jungen Manns, der seine Fähigkeit zunächst erproben muß, der seine Begabung zum erstenmal öffentlich zur Schau stellt, an dem die Angst, die Hoffnung, die Befürchtungen und die stolze Ungewißheit der Jugend zerren.

Das Stück hieß Mannerhouse, ›Gutshof‹, und schon allein der Titel vermag es, die Natur von Eugens Irrtum gänzlich zu enthüllen. Gegenstand der Handlung waren Niedergang, Fall und endgültiges Erlöschen einer stolzen, alten Aristokratenfamilie aus den Südstaaten in den Jahren nach dem Bürgerkrieg. Das Familienvermögen geht in die Brüche, und das stolze Besitztum mitsamt dem großartigen, alten, von Säulen getragnen Herrschaftshaus wird schließlich von einem Mitglied der aufstrebenden ›unteren Klasse‹ erworben, einem vulgären, groben, gemeinen, aber ungeheuer fähigen Mann, namens Porter.

Bei der Wahl seines Stoffs, in der allgemeinen Anlage des Stücks und in den Folgerungen, die sich aus dem Thema ergaben, war Eugen vermutlich stark von Tschechows ›Kirschgarten‹ beeinflußt worden; im Gehalt mischten sich romantische Gefühligkeit und byronsche Ironie mit sardonischem Realismus. Der Held selber war eine etwas byronsche Gestalt, ein Charakter, der das dunkel und zart Poetische seines Wesens hinter einer sardonisch-humoristischen Maske verbirgt. Der Held liebt, aber die Liebe unterliegt, und die Liebschaft endet mit Irrtum und Trennung. Nach Jahren schließlich kehrt der Held zurück, ein einsamer, namenloser Wandrer, dem das Leben nach Maßen zugesetzt hat, einer, der mit seinem Leben Schiffbruch erlitten hat. Er kehrt zurück zu dem alten, baufälligen Haus seiner Ahnen, aber dort sind die Abbruchsarbeiter schon am Werk, und die düstern Hammerschläge hallen. Diese Rückkehrszene war temperiert mit dem galanten Romantizismus des Cyrano. Ganz cyranoisch war das Wiedersehn und die letzte Begegnung des Helden mit seiner Geliebten; die beiden bescheiden sich edelmütig vor ihrem Los, dem Schicksal und dem Altwerden. Dann folgte die Schlußszene des Schauspiels; sie war offenbar dem Simsonstoff nachgebildet. Ein treuer, riesenhafter Negersklave, der nun alt und beinah blind ist, in dem aber noch die wilde Ergebenheit und die Majestät des afrikanischen Königsbluts leben, aus dem er stammt, reißt das Haus ein. Er schlingt die großen Arme um die morsche Mittelsäule der Halle, mit der letzten, krampfhaften Anstrengung seines fliehenden Lebens bricht er die Säule entzwei, und der brüchige Tempel kracht nieder. Von den Trümmern werden der Neger und sein geliebter Herr, der Held des Stücks, begraben, und freilich auch der verhaßte Feind, der Emporkömmling Porter.

Trotz all dem, es war auch gutes Material in dem Stück, dramatischer Konflikt und eindrucksvolle Theatralik. Der Charakter der harten, habsüchtigen, ungeheuer fähigen Materialisten aus der ›unteren Klasse‹, dem aufstrebenden Mittelstand der Südstaaten, war klar gezeichnet. Eugen hatte seinen Onkel William Pentland als Urbild benutzt. Gut waren auch die Szenen zwischen dem Helden und seinem Vater, einem löwenhaften, großartig heldischen General. Und gut waren auch die Szenen zwischen dem Helden und dem Emporkömmling. Sogar in diesen romantisch hochtrabenden Auftritten hatte Eugen bereits begonnen, das mächtige und unnachahmbare Material des Lebens selber zu benutzen und Selbsterfahrenes zu verwenden; Porter drückte sich stets auf die schlichte, füllige, beißende, erdhafte, stark farbige Art aus, in der sich Eugens Mutter, Eugens Onkel William Pentland und überhaupt alle älteren Pentlands ausdrückten.

Aber die Szenen zwischen dem Helden und der Heldin waren weniger geglückt. Der Charakter des Mädchens war schattenhaft und ungenau, eine phantomische Verbindung der Charaktere der Roxane im Cyrano und der Ophelia. Auch im inneren Gerück der Handlung stand diese Frau nicht an rechter Stelle, denn es war unüberzeugend, wieso gerade ihre innige, romantisch holde, sehnsüchtig zärtliche, liebesreine Natur den sardonischen Humor, den herben, fast brutalheftigen Witz des Helden herausfordern sollte. Zu ihrer Haltung paßte dieser Gegenspieler nicht, der seinen Schmerz, seine Liebe, seine Bitterkeit hinter einer Maske verbarg und ihre Annäherungen zurückwies. (Nebenbei: die Szene, auf die hier angespielt wird, war zweifellos stark vom Stand der Dinge zwischen Hamlet und Ophelia beeinflußt.)

So waren Ton, Bewegtheit und Wesen des Stücks auf vielerlei und interessante Weise von Gelesenem, Angeschautem und tatsächlich Erlebtem bestimmt worden. Dies zeigte sich deutlich an dem Charakter des alten Majors. Der Major war der Vater der Heldin, er gehörte derselben Generation an wie der General und war dessen Freund. Das Pompöse, Banale und Konventionelle dieses Charakters wurde zur Zielscheibe gemacht für den beißenden, sardonischen Spott des Helden in Unterhaltungen, auf die die Hamlet-Polonius-Dialoge stark abgefärbt hatten. Aber es stak auch Gutes in diesen Auftritten; bei der Charakterisierung des alten Majors war Eugen mit beträchtlicher Originalität und Natürlichkeit verfahren; der Major versuchte zum Beispiel eine nicht mehr standfeste military school zu stützen, die ein Vorfahr von ihm vor ein paar Generationen gegründet hatte, und die kolossale Vergeblichkeit dieses Unternehmens in den Jahren nach dem verlorenen Bürgerkrieg, mitten im Zusammenbruch einer Gesellschaftsordnung und nach dem Hinschwinden eines Systems, ward ironischerweise offenbar. Diese Situation, die in der Tat viel ausgesprochen Satirisches hatte, war im ganzen wohlgelungen. Überdies waren die Anspielungen aufs Zeitgenössische sehr leicht zu ziehen. Gegeißelt wurden – neben der kläglichen Liebe, die der Amerikaner aus den Südstaaten für bunte Uniformen und militärischen Aufputz hat – jene unzähligen, nichtsleistenden, billigen, brutalen, kleinen ›military schools‹ (Privatschulen, in denen angeblich soldatisch erzogen wird), die die ganzen Südstaaten wie ein gräßlicher Ausschlag bedecken, und deren Weltanschauung nach dem Grundsatz »Sie stellen uns den Jungen, wir schicken Ihnen den Mann zurück« übelkeiterregend ist wegen der Heuchelei, der Unehrlichkeit, der billigen Geschäftsprätensionen.

In diesen Szenen zwischen dem Major und dem Helden war noch manches andere gut, schlagkräftig und originell. Gar vieles von dem, was in der Welt der Südstaaten falsch, hypokritisch und sentimental ist, wurde mit dem Polierlappen blankgerieben, und der Krieg – der Bürgerkrieg 1861 bis 1865 – mußte tüchtig als Deckmantel herhalten für eine Satire auf den großen Weltkrieg unserer Tage. Da war zum Beispiel eine gute und originelle und auch im großen ganzen sehr wahre Variation des Generationenkonflikts, des streitbaren Gegensatzes von jung und alt, des Vater-und-Sohn-Problems, des Revolte-der-Jugend-Geschreis, das damals in so vordringlicher Weise den Stoff zu vielen Büchern, Theaterstücken und Gedichten abgab. In Eugens Szenen nun wurde machtvoll und ergötzlich dargetan, daß dieser streitbare Gegensatz zwischen jung und alt ein Element eingestandener Heuchelei enthält, ein beiderseitiges, gleichsam stillschweigend vereinbartes Hinnehmen einer literarischen Spielregel über Verhältnis und Wesen von jung und alt, von der sowohl die Jungen wie die Alten zutiefst wußten, sie sei falsch, obschon sie doch beide nach der Regel spielten.

So sagte da etwa der alte Major melancholisch seufzend und schüttelte heuchlerisch bedauernd den Kopf:

»Ah, ja, mein Junge! ... Wir Alten haben da einen recht betrüblichen Trümmerhaufen aus der Welt gemacht ... Wir haben das Vertrauen enttäuscht, das Ihr jungen Männer in uns gesetzt habt, wir haben uns dieses Vertrauens unwürdig erwiesen ... Uns ward die Gelegenheit gegeben, die Welt zu einem besseren Wohnort zu machen, und wir haben nichts wie Verfall, Armut und Elend gestiftet und aus der Welt einen Haufen Asche gemacht ... Und nun ist die Reihe an Euch, Ihr jungen Männer von der Welt – nun ist die Jugend an der Reihe, die glorreiche, tapfere, edelmütige Jugend –«

»Ah, Jugend, Jugend«, murmelte der Held sardonisch-beifällig an dieser Stelle, und der Major, der pompöse alte Narr, dem freilich die Ironie des Helden völlig entging, schüttelte alsdann bestätigend das Haupt und fuhr fort:

»Ja, die Jugend, die tapfere, großherzige, hingabefreudige Jugend, ... ihr fallen nun die Aufgaben der Wiedergutmachung zu, ... ihr jungen Männer habt den Schaden zu beheben, den wir Alten angerichtet haben, ... Ihr müßt die offnen Wunden am Volkskörper verbinden, ... zusehn, daß die Welt zu einem Haus wird, in dem Eure Kinder und unsere Enkel würdig wohnen können, alles dransetzen, daß – –«

»– das Volk vom Volk fürs Volk regiert wird«, ergänzte der Held.

»Ja«, pflichtete der Major bei, »– und daß die Kinder der kommenden Generation nicht auf Euch sehen können, wie Ihr auf uns sehen könnt und sagen: ›Was habt Ihr getan, Ihr alten Männer, mit Eurer Erbschaft? Was für eine Welt hinterlaßt Ihr uns? Wie könnt Ihr uns bloß in die Augen sehn, da Ihr doch wißt, daß Ihr Euch des heiligen Vertrauens unwürdig erwiesen habt, da Ihr doch wißt, daß Ihr die jungen Männer schändlich betrogen habt?‹ –«

»Ei, Major!« rief hier der Held in gemimtem Staunen und ironisch applaudierend aus. »Das nenne ich Beredsamkeit! ... Hört! Hört! ... Und Sie haben recht, Major, Sie haben recht! Die jungen Männer sind betrogen, ja, nicht nur betrogen, nein, fur-r-rchtbar betr-r-rogen worden! ... Und von wem?« fragte er in sardonischer Rhetorik. »Ei, von diesen falschen, lügnerischen, habsüchtigen, heuchlerischen Alten, die die Welt zu verwalten hatten und ein Schlachthaus aus ihr gemacht haben! ... Major, wer hat den Krieg geführt? Wer hat uns junge Männer ins Feld geschickt? ... Ei, die falschen, lügnerischen, habsüchtigen Alten natürlich! ... Und wer hat im Krieg gekämpft ... Ei, diese tapferen, ritterlichen, hingabefreudigen, edelmütigen Jungen, natürlich! ... Und warum habt Ihr Alten uns Junge in den Krieg geschickt? ... Ei, aus Raubgier und damit wir Euern schlimmerworbenen Wohlstand schützen sollten. Wir sollten einmarschieren, rauben und erobern, damit Ihr noch reicher würdet! ... Und wie sind wir Jungen in den Krieg gezogen? ... Ei, im Glauben und im Vertrauen und in der Reinheit hoher Überzeugungen ... Und wie sind wir aus dem Kriege heimgekehrt? Mit der Hölle im Blick ... Wir Jungen ziehen immer in den Krieg im Glauben und im Vertrauen und in der Reinheit hoher Überzeugungen, und wir kehren immer aus Kriegen heim mit der Hölle im Blick! Und warum, Major? ... Ei, weil Ihr falschen, lügnerischen, habgierigen, selbstsüchtigen, heuchlerischen Alten uns angelogen habt. Und wie, auf welche Art und Weise, lügt Ihr uns an, Major? ... Ei, Major«, sagte der Held feierlich-ernst, »Ihr erzählt uns, Krieg wäre schön, ideal, heroisch, – Ihr erzählt uns, daß um hohe Denkbilder, um edle Glaubenswerte gekämpft würde ... Und was finden wir heraus, Major?« Hier ließ der Held seine Stimme zu einem ironisch-ernsten Flüstern herabsinken: »Ei, Major, wir finden heraus, daß Krieg tatsächlich häßlich, wirklich grausam, entsetzlich, niedrig ist ... Ei, Major, wissen Sie denn, was wir Jungen im Felde entdeckten? Wir entdeckten da, daß Männer im Krieg tatsächlich einander totschießen ... Ja, Herr«, flüsterte der Held gewichtig, »sie schießen einander tot, sie jagen einer dem andern die Kugel durch den Kopf, ganz genau das tun sie, – ei, und das ist doch Mord, Major, glattweg kaltblütiger Mord, und durchaus nicht das, was Ihr Alten behauptet habt, – und das kommt eben daher, daß die habgierigen, lügnerischen, selbstsüchtigen Alten uns angelogen und beschwindelt und betr-r-rogen haben!«

»Ah, mein Junge«, antwortete hierauf tiefbekümmert der alte Major. »Das ist eine sehr schwere Anklage, die Sie da gegen uns erheben, aber ich befürchte – ich befürchte –« Hier sank seine Stimme zu einem traurigen Flüstern herab. »– ich befürchte leider, daß die Anklage gerechtfertigt ist.«

Auf diese Weise bekam die Szene eine vielsagend-satirische Ironie; sie war gut angelegt und durchgeführt und hätte wohl auf der Bühne ihre Wirkung nicht verfehlt.

Aber die vermutlich wirkungsvollste Szene des ganzen Stücks war der Prolog. Hier war der Auftritt wirklich glänzend und erregend in seiner theatralischen Bewegtheit und würde sich zweifellos sehr gut und ergreifend auf der Bühne gemacht haben. Ort der Handlung war der Hügel, auf dem das große, weiße Haus erbaut wurde – und tatsächlich stellte der Vorgang die Stiftung einer ganzen Gesellschaftsordnung dar. Vor dem unvollendeten Bau, die Flinte schußfertig im Arm, steht die strenge, stille Gestalt des Gründers. Und vor ihm, bergauf, bergab, zur Baustelle hin, von der Baustelle weg, an den großen, noch unvollendeten Säulen des emporwachsenden Hauses vorbei gehen in zwei stummen, endlosen Reihen die Sklaven, kräftige, stattliche Neger, nackt bis zum Gürtel, und schleppen auf dem Kopf die Baumaterialien herbei. Und aus dem Haus hallen dauernd die Hammerschläge, und es wird Nacht, große Wachtfeuer flackern auf, und schnell und lautlos wie Katzen gehn die großen schwarzen Gestalten vorüber. Ein Augenblick des Aufruhrs kommt: ein riesiger Neger springt die strenge, einsame Gestalt des Gründers an, ein Messer blitzt, und der Empörer fällt ohnmächtig um; der Meister hat ihn mit dem Ladestock seines Gewehrs gefällt.

Alsdann tritt ein zweiter weißer Mann auf: – ein Geistlicher. Mit leiser, eindringlicher Stimme redet er dem Gründer zu und versucht diesen davon zu überzeugen, daß die Sklaverei ein Verbrechen ist, er belegt seine Mahnung mit gutgewählten Bibelstellen, fordert den Gründer auf, zu bereuen und sich dem Leben in der Stadt und in der Kirche zuzuwenden, kurz, »zu Gott zu kommen.«

Und der unbeugsame Gründer erwidert ruhig: »Ich muß mein Heim bauen.«

Und schließlich nichts wie Nacht und Dunkelheit. Die großen Gestalten der Sklaven – barfuß – gehn lautlos wie Katzen vorbei, und aus dem Geheimnis der Nacht erhebt sich nun der klagende Gesang der ganzen Dschungel, das Wehgeschrei des Menschen über sein Dasein der Plage, des Kummers und der bittren Fron, das Sklavenlied.

Dies war eine feine Szene, und auf der Bühne hätte sie sich wohl schön gemacht und ergreifend gewirkt.

 

Aus dieser Beschreibung läßt sich etwa erkennen, wie Eugens Stück beschaffen war, daß es gute und schlechte Seiten hatte, daß es in vieler Beziehung stark von verehrten Vorbildern – von Shakespeare, Tschechow, Shaw, Rostand und der Bibel – abhängig war, daß der Verfasser außerdem bereits Selbstgelebtes, Selbsterfahrnes und Selbstgefühltes verarbeitet hatte, und daß selbst in diesem täppisch unsicheren Werk ein wenig von der wirklichen Größe, der wahren Schönheit, der echten Furchtbarkeit und der unsagbaren Lieblichkeit Amerikas sichtbar wurde. Mit all seinen Fehlgriffen und Nachahmungen konnte das Schauspiel als eines der gar nicht häufigen Anschauungsbeispiele dienen für die wirrselige Ungewißheit und das Aufblitzen der blinden, aber mächtigen Intuition, die die frühen Versuche des Künstlers in Amerika kennzeichnen, – und hauptsächlich aus diesem Grund war es interessant.

Als er sich hinsetzte, um sein Stück vorzulesen, spürte Eugen diese Ungewißheit, dieses aus Hoffnung, Angst und bebebanger Befangenheit gemischte Gefühl, das der Künstler empfindet, wenn er zum erstenmal ein Werk aus dem einsamen Gefängnis der Schöpfung entläßt, damit es dann unwiderruflich auf eignen Füßen stehe, unbeschirmt den nackten Augen der großen Welt standhalte und kraft seines eignen Verdiensts sich behaupte oder untergehe, – und diese schicksälige Verhängtheit, diese unwiderrufliche Endgültigkeit der Handlung spürend, las Eugen anfangs in einem stockenden, verlegenen, fast unhörbaren Tone vor, ganz erfüllt von der stolzen und verzweifelten Hoffnung, der zitternden Befangenheit, der fast grausamen Feindseligkeit gegen eingebildete Verleumder, wie sie wohl jeder junge Mensch bei einem solchen Anlaß empfindet.

Er merkte bald, daß seine Befürchtungen unbegründet waren. Nie hatte ein Mensch eine bereitwilligere, begeistertere und ergebenere Zuhörerschaft, als Eugen sie an diesem Morgen hatte in Gegenwart von Joel und Rosalind Pierce. Er sah – spürte vielmehr – sofort ihre hingeriss'ne und gebannte Aufmerksamkeit. Joel saß nach vorn gelehnt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt in einer Haltung gespannter, regloser und äußerst stiller Hingabe, und wenn Eugen mal von Zeit zu Zeit von einer seiner großen Manuskriptseiten aufblickte, sah er, wie stet und unentwegt ihm Joels schmales, hageres Gesicht mit dem ihm eignen reinen und strahlenden Eifer entgegengehoben war, oder wie Rosalind dasaß, die warmen, starken jungen Hände ruhig im Schoß gefaltet, das warme, liebliche Gesicht vor Erregung gerötet, die Augen glänzend, vag und zärtlich, ganz so, als säße sie wirklich im Theater und sähe die Gestalten des Spiels in zaubrischer Wahrmachung auf der Bühne. Ihre Haltung zeigte eine Teilnahme, die, wenn auch gelöster und nicht so streng aufs Eigentliche eingehend, nichtsdestoweniger in gleicher Weise gesammelt und hingegeben war wie die ihres Bruders.

Was er spürte und sah, dazu die Sicherheit, die ihm dies einflößte, das wirkte wie ein mächtiger, herrlich trunkenmachender Likör auf Herz, Gemüt und Geist Eugens. Eine überwältigende Wärmewelle der Zuneigung wallte in ihm auf, er verspürte eine stolze und zärtliche Erkenntlichkeit gegen Joel und dessen Schwester. Ihm schien, diese beiden seien die feinsten, die großherzigsten, wahrhaftigsten, hochsinnigsten und anständigsten Menschen, die ihm je begegnet wären, – und die Tatsache, daß ihnen sein Stück gefiel, ja, daß sein Stück sie erobert, von ihnen Besitz ergriffen, sie außer sich und unter die Gewalt und Magie der Dichtung – und somit auch unter die Gewalt und Magie des Dichters – gebracht hatte, erschütterte ihn auf einen Augenblick mit dem Gefühl der reinsten, höchsten und herrlichsten Glückseligkeit, die das Leben zu bieten vermag, – jener Glückseligkeit des Künstlers, der erkennt, daß sein Werk für gut befunden worden ist, im Herzen der Menschen einen Platz der Ehre, des Ruhms und der stolzen Achtung besitzt und andere Wesen im Bann seiner Zaubergewalt hält. In diesem Augenblick ward Eugen eine grelle Erkenntnis, eine unsägliche Einsicht ins Wesen des Künstlers zuteil, er sah, warum ein Künstler lebt und schafft und sein Dasein wahrmacht, er sah den Lohn, nach dem der Künstler strebt, den einzigen Lohn, der ihm der Mühe wert ist, und ohne den nichts für ihn gilt. Des Künstlers Streben ist es, die Geister der Menschheit in magische Netze zu verstricken, sein Leben in seinem Werk durchzusetzen, seine Seinsschau, den schmerzlich-rüden Gehalt seiner Lebenserfahrung ins übereinstimmige Wesen greller, zaubrischer Wahrbilder zu bannen, die ihrerseits wieder Samengehäuse des Lebens sind, seinshaltige Grundordnungen, von denen alle andern Dinge ausgehen, Kerne der Ewigkeit. Dies denn ist der Grund, warum der Künstler lebt und schafft und sein Dasein wahrmacht: – er will aus dem Lehm des Lebens und aus seiner eignen Natur und dem groben Erdstoff, der Mühsal, dem Schweiß, der Gewalttätigkeit, dem Irrtum und der bittren Angst seines Vaters die Schönheit einer immerdar dauernden Form herausziehen, er will die Menschen mit Zaubergewalt berücken, sie zu Sklaven machen, sie erobern, seinen Bann auf die Geschlechterfolgen werfen, den Tod in die Knie zwingen, den Tod endgültig töten und die Ewigkeit mit den Hucken und Haken seiner Kunst festhalten. Sein Leben ist seelenwassersüchtig, von einem unstillbaren Herrlichkeitsdurst, sein Geist wird von Besitzängsten gefoltert, von dem unerträglichen Begehren, einen einzigen Augenblick aus dem Menschenleben auf ewig ins Muster einer unzerstörbaren Form zu bannen, – einen einzigen Augenblick der Lebensschönheit, der Leidenschaft, der unsäglichen Berückung, die vorüberzieht, aufflackert, von dannen geht, die auf immer durch unsere Finger schlüpft, die wie der Sand der Zeit im Stundenglase läuft, die sich für immer unserm verzweifelten Zugriff entzieht, ganz so, wie ein Fluß fließt und nicht festgehalten werden kann. Dies denn ist der Künstler: – der Lebenshungrige, der Ewigkeitsvielfraß, der Schönheitsgeizhals, der Herrlichkeitshörige, ein Mensch, der – um sich durchzusetzen, um sich seinen ersehnten Lohn zu holen, um mit seiner eignen Unsterblichkeit das Leben zu besiegen und zu erobern, die Menschheit zu versklaven, die Schönheit ganz und gar einzufangen und zu besitzen – zu allem fähig ist, der ausnützerisch, rücksichtslos, mörderisch, zerstörerisch, kalt, grausam, vernichtungswillig und erbarmungslos wie die Hölle sein kann, bloß um jenes Ding zu kriegen, das er begehrt, bloß um jenes Wesen wahrzumachen, das ihm wert ist, ... ein Mensch, der nur eine Wahl hat: Tat oder Tod.

Er ist gleichzeitig das vom Leben verstoßne Ungeheuer und der schönheitstrunkne Liebhaber des Lebens, des Menschen blutiger, rücksichtsloser, erbarmungsloser und schlechthin unnachgiebiger Feind und der beste Freund, den die Menschheit überhaupt hat; ein Geschöpf, verdichtet aus den selbstsüchtigsten, niedrigsten, unedelsten, lasterhaftesten, grausamsten und unrechtschaffensten Leidenschaften, wie das Leben sie aufdecken, wie die Welt sie enthalten kann, und doch ein Geschöpf, dessen Dasein mit seiner Müh, seinem Schweiß und seiner bittren Angst das Höchste, Größte, Edelste und Selbstloseste darstellt und das erlesen glücklichste, beste und schicksalsschönste Leben ist, das irgendein Mensch erreichen oder der Mensch überhaupt erkennen kann. Er ist die Zunge seiner Brüder, die sich nicht aussagen können, er ist die Sprache des begrabnen Menschenherzens, er ist des Menschen Musik und des Lebens großer Entdecker, das Auge, das sieht, der Schlüssel, der aufschließen kann, die Zunge, die vom begrabnen Hort im Herzen der Menschen spricht, von jenem Hort, um den alle wissen und von dem keiner sprechen kann, – und am Ende ist er seines Vaters Sohn, aus seines Vaters Erdstoff, Blut, Schweiß, Mühsal und bittrer Todesangst geschaffen: – und so hat er gleichzeitig eine Elternschaft und eine Sohnschaft im Leben, und in ihm sind das Leben und aller Menschen Natur verdichtet; er gleicht dem Menschen gerade in seiner Unterschiedlichkeit am meisten, denn er ist ja, was alle Menschen sind, und was doch keiner unter einer Million wirklich ist; und er hat alles, weiß alles, sieht alles, was irgend jemand auf Erden zu sehn, zu hören, zu wissen vermag.

Diese Erkenntnis kam Eugen an jenem Morgen, als er sein Stück seinen beiden Freunden vorlas. Und beim Weiterlesen, freudig-stolz und sieghaft-glücklich die Ergebenheit seiner Zuhörer spürend, machte er mit einer vom Selbstvertrauen festgewordenen Stimme und mit all seiner Leidenschaft die Szenen, Worte und Gestalten seines Dramas feurig und blutvoll lebendig. In seinem Schauen bewegte sich das ganze Stück in flammenden Wahrbildern der Schönheit, Wahrheit und Holdheit, sein Geist hob sich auf den Schwingen jubelnder Überzeugtheit, maßloser Glückseligkeit, sein Herz schlug wie ein Schwinghammer und schien mit jedem Schlag wie ein Glockenklöppel im Ton der Gewißheit an die Rippen zu dröhnen.

 

Er brauchte etwa zwei Stunden, um sein Stück zu lesen. Als er geendet hatte, empfand er ein Gefühl triumphanter Endgültigkeit, einen ungeheuren, freudigen Frieden. Er wartete, daß die beiden sprächen. Eine Weile blieb es vollkommen still. Joel saß noch nach vorn gebeugt in derselben Haltung, den Kopf auf die hagere Hand gestützt. Auch Rosalind saß ruhig da. Keins von den beiden rührte sich. Und dann sprach Joel. Er nickte und ließ sich mit einer gewissen sachlichen Bestimmtheit vernehmen, die bei weitem wunderbarer und erregender war, als es irgendein schwärmerisch-warmherziges Lob hätte sein können:

»Ja«, wisperte er, gedankenvoll nickend, »– es ist so gut wie ›Der Kirschgarten‹ – mir gefällt es noch besser – aber so gut ist's.« Und nun war es, als wäre ein elektrischer Strom in Joel gefahren, er reckte sich mit einem scharfen Ruck, mit dem grellen Ernst der Überzeugtheit sah er Eugen in die Augen und rief in einem fast strengen Ton aus: »Eugen! ... Es ist einfach großartig! ... Es ist leichthin das größte Stück, das je hier in Amerika geschrieben wurde! ... Allen andern weit überlegen ... Meilen über O'Neill hinaus ... es ist ... es ist so gut wie der ›Cyrano‹, und Du mußt zugeben«, meinte er entschieden nickend. »... das ist ziemlich groß ... der ›Cyrano‹ steht ziemlich klotzig da ...« wisperte er. »... Und diese Szenen zwischen dem jungen Mann und jenem alten Major sind einfach großartig ... Ich will damit nur sagen, daß ich gar nicht ahnte, daß Du diese satirische Ader hättest, ... aber das ist ja ... das ist ja«, er wurde rot, nickte störrisch, beinah grimmig, so, als wäre er willens, mit dieser Überzeugung gegen die ganze Welt zu stehn, »es ist ja ... es is ja ... so gut wie SHAW!« Er lachte plötzlich sein strahlendes, lautloses Lachen und wisperte drollig. »... Und weißt Du, wenn ich sag', es wär etwas so gut wie Shaw, dann geh' ich wirklich ziemlich weit ... Ros'«, sagte er ruhig zu seiner Schwester, »was meinst Du denn? ... Sagst Du nicht auch, daß das Stück ziemlich groß ist?«

Sie schwieg zunächst. Ihre Augen leuchteten wie Sterne und waren ganz entrückt. Und dann sagte sie in ihrer tiefen, süßen, lieblich jungen Stimme:

»Oh, es ist wundervoll ... Es ist das Herrlichschönste, was ich je zu hören kriegte ... Lieber!« sagte sie und nahm Eugens Hand in ihre starken, warmen, lebensvollen Hände, ganz wie sie es am Abend zuvor getan hatte, »... Sie sind ein großer Mann ... ein großer Schriftsteller ... Ich bin so stolz und glücklich, daß ich Sie kennengelernt habe ... und daß Sie mir erlaubten, Ihr Stück anzuhören.«

Eugen verspürte den übermächtigenden Glücks- und Freudenschauer, die blinde, sprachlose Dankbarkeit, die hilflose, sterbliche Verlegenheit, die ein junger Mann in einem solchen Augenblick verspürt. Er wußte nicht, was er sagen oder tun, noch auch, wie er die Erkenntlichkeit, die Zuneigung und das Zärtliche, das er für die beiden empfand, ausdrücken könne. Er wandte sich an Joel, bewegte hilflos die Lippen, ohne jedoch ein Wort hervorbringen zu können, er machte eine bestürzte, nichtssagende Bewegung mit den Händen, und legte schließlich einfach seine Arme um Rosalind und drückte sie täppisch und hilflos an sich, und das war vielleicht das Richtigste, was er unter den Umständen tun konnte, und sagte alles, was er zu sagen begehrte.

Es war ja nicht, was die beiden jungen Menschen ihm gesagt hatten, das diesem Augenblick die seltene, unverderbliche Holdheit verlieh. Selbst in jenem blinden Glückstaumel und Freudenschwall, in dem er selber leidenschaftlich zu glauben wünschte, sein Stück wäre wirklich so gut, wie Joel und Rosalind meinten, er selber wäre in der Tat der große Mann, der bedeutende Schriftsteller, als den sie ihn bezeichneten, selbst nun blieb ihm noch ein Gran jener Urteilsfähigkeit, die ihn vor der äußersten Selbsttäuschung bewahrte. Und merkwürdigerweise war gerade aus diesem Grund seine Freude noch größer, empfand er gerade deswegen sein sieghaftes Glücksgefühl noch süßer, als er es hätte empfinden können, wenn das, was sie sagten, wahr gewesen wäre. Nämlich gerade in der Maßlosigkeit ihres Darfürhaltens, gerade in der begeisterten Übertreibung ihres Lobs, da war die ganze blinde, aber edle und anständige Selbsttreue der Jugend, war das schön und großherzig Bewundernde der Jugend, war etwas, das so fein, so gut, so stolz im Glauben, im Vertrauen und in der Ergebenheit, und eben deswegen auch so richtig ist. Und aus diesem Grund war es, daß Eugen, selbst als Jahre vergangen waren und er vielleicht bessere Arbeit geleistet und verdienteres Lob eingeheimst hatte, sich immer mit einem ganz eigenen, stolzen und zärtlichen Gefühl der Erkenntlichkeit an diesen Vormittag erinnerte. Auf eine Art und Weise, wie es sonst nichts auf Erden vermochte, brachte ihm diese Erinnerung die Schönheit und Unschuld der Jugend zurück, die Verschwärmtheit der Jugend und ihre blinde Ergebenheit, die soviel Irrtum mitbringt und die doch so wunderbar ist, den großherzigen Enthusiasmus des sich treubleibenden Glaubens der Jugend, der so verkehrt ist und dennoch so richtig, die edle Aufrichtigkeit der Jugend, die auch noch im kümmerlichsten Fehlurteil prächtig brennt, und die irgendwie wahrer ist als die Tatbestände, wirklicher als Herrlichkeit und dauernder und köstlicher als des Menschen Ruhm.


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