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XXXII

In jener Nacht gegen ein Uhr schlief Gant ein und träumte, er ginge die Straße hinunter, die nach Spanglers Run führt. Und obschon er seit fünfzig Jahren diese Straße nicht mehr gegangen war, war alles dort so frisch und grün, so lebendig und vertraut, wie es ihm immer gewesen war. Er kam an dem Weg, der nach Schäfers Farm führt, vorbei, und zu seiner Linken lag die kleine, weiße, aus Holz gebaute Kirche der United Brethren, und um das Kirchlein herum war der Friedhof, auf dem seine Verwandten und Freunde ruhten. Von der Straße herüber konnte er die Reihe der Familiengrabsteine sehen, die er selber gemeißelt und aufgestellt hatte, als er nach seiner Gesellenzeit aus Baltimore zurückgekehrt war. Die Steine waren, einer wie der andre, hohe, flache Marmorplatten, lange Rechtecke und oben einfach abgerundet; und da war einer für seine Schwester Susanne, die als Kind gestorben, und einer für seine Schwester Hulda, die während des Bürgerkriegs im Wochenbett gestorben war; einer für Huldas Gatten, einen jungen Bauern, namens Jakob Lentz, der in der Schlacht bei Chancellorsville gefallen, und einer für den Gatten seiner ältesten Schwester Auguste, einen wandernden Photographen namens Martin, der bald nach dem Krieg gestorben war, und am Ende der Reihe einen für Gants Vater. Und weil nun noch keine Grabsteine für seinen Bruder Georg, noch auch für seinen Bruder Elmer, noch auch für seinen Bruder John da waren, und auch keiner für seine Mutter und keiner für Auguste, wußte Gant, daß er noch ein junger Mann wäre, und gerade kürzlich erst nach Hause zurückgekehrt. Die Steine, die er ja selber aufgestellt hatte, waren noch weiß und neu, und in die rechte untere Ecke von jedem Stein hatte er seinen eignen Namen eingemeißelt: W. O. Gant.

Es war ein schöner Morgen, Anfang Mai, und alles war süß und so traut, wie es immer gewesen war. Der Kirchhof war mit dichtem, grünem Gras wie mit einem Teppich bedeckt, und ringsum in der Weite war überall das unvergleichliche Sammetgrün der Weizensaat. Und Gant kam der Gedanke, der ihm schon tausendmal zuvor gekommen war, nämlich daß der Weizen rings um den Kirchhof grüner und üppiger stünde als irgendein Weizen, den er je gesehen habe. Rechts von ihm lagen die großen Äcker von Schäfers Farm, einige davon dicht bedeckt mit der jungen, grünen Weizensaat, und andere umgepflügt in lange, bronzerote Furchen der fruchtbaren, edlen, schwellenden Erde. Und hinter ihm auf der großen Böschung, die süße und gleichgültig-lässig hingebreitete Landschaft von der Majestät ihrer unvergleichlichen Lage herab überblickend, waren Jakob Schäfers große, rote Scheuer und rechts daneben das saubere Backsteinhaus mit den weißgestrichenen Fensterrahmen und dem weißen Lattenzaun, der grüne Garten mit seiner prangenden Blumenpracht und den Fliederbüschen und den breiten, laubmassigen, großen Ahornbäumen. Und hinterm Haus stieg der Hügel an, und all der Wald auf dem Hügel war schon ausgeschlagen ins Grün des Mai, duftigzart und noch nicht ganz entfaltet die jungen, zaubrisch-goldgrünen Blätter. Und halbwegs am Hang vor dem Wald war der Obsthag mit den Apfelbäumen, und die Bäume waren schwer von der Blüte und standen in all ihrer dichten, stillen Blust unglaublich.

Und aus den ergrünten Bäumen hob sich der Sang der Vögel, das Gras war dicht betupft mit der goldnen Herrlichkeit des Löwenzahns, und überall ringsum waren tausend zaubrische Dinge, die kamen und gingen und nicht gefangen werden konnten. Gant ging an dem alten Holzhaus hinter der Kirche vorbei, in dem Elly Spangler wohnte, die die Schlüssel zur Kirche verwahrte, und hinter dem Haus standen Apfelbäume in dichter Blust, aber das Haus war wackelig und nicht angestrichen und im Verfall, so wie es immer gewesen war, und Gant fragte sich verwundert, ob die Küche wohl noch von einer Million Fliegen surrte und ob Ellys Brüder Jim und Willi, die beide halbblöde waren, im Hause wären. Und gerade als er den Kopf schüttelte und, wie schon so oft, »Arme Elly!« dachte, ging die Hintertür auf, und Willi Spangler, ein Mann von über dreißig in einem Arbeitsanzug und mit einem lieben, töricht blöden Gesicht kam über den Garten her auf ihn zugaloppiert, warf die Hände in überschwenglichem Gruß in die Luft und rief ihm dasselbe Willkommen zu, das er jedem Vorübergehenden, sei er Freund oder Fremder, stets zurief: »Ich hab' auf Dich gewartet! Ich hab' auf Dich gewartet, Oll!« Wie es Brauch unter Freunden und Gesippen seiner Jugend in Pennsylvanien war, nannte Willi ihn bei seinem zweiten Vornamen, und nun fragte Willi ängstlich und flehentlich die Frage, die er an jeden richtete: »Bleibst Du nicht da?«

Und Gant grinste, aber jenes unbestimmbare Gefühl aus Trauer und Mitleid regte sich in ihm, das sich von Kind auf immer beim Gruß dieses gütigen Halbblödels in ihm geregt hatte. Er schüttelte den Kopf und sagte leise:

»Nein, Willi, heut nicht. Ich muß drunten an der Straße jemanden treffen« – und in derselben Sekunde spürte er heftig-pochenden Herzens eine mächtige, namenlose Erregung, die Dringlichkeit jener Begegnung, von der er soeben gesprochen hatte; warum, wo und mit wem, das wußte er nicht, aber die zwang- und dranghafte Unvermeidlichkeit spürte er.

Und Willi mit seinem verwunderten, torenhaften, gütigen Gesicht, der ein Stück neben ihm hergelaufen war, fragte nun begierig, was er jeden fragte:

»Hast Du mir was mitgebracht? Hast Du Kautabak dabei?«

Und Gant, der schon verneinend nicken wollte, hielt an sich, als er die Enttäuschung auf dem Gesicht des Blödels sah, griff in seine Rocktasche nach einem Riegel Apfelkautabak und sagte:

»Ja. Hier, Willi. Den kannst Du haben.«

Und Willi, närrisch vor Freude, ein glückliches Grinsen auf dem torenhaften Gesicht, nahm begierig den Tabak, ging wieder ein paar Schritte neben Gant her und fragte dann ängstlich:

»Kommst Du wieder zurück, Oll? Kommst Du wirklich bald wieder zurück?«

Und Gant, der einen fremden, unsäglichen Kummer empfand, antwortete:

»Ich weiß es nicht, Willi«, – denn plötzlich verstand er, es möchte sein, daß er nie wieder dieses Wegs käme.

Aber Willi, noch ganz beglückt und torenhaft-zufrieden, wandte sich nun um und galoppierte zurück auf das Haus zu und warf seine Arme in die Luft und schrie beim Laufen:

»Ich wart' auf Dich, Oll! Ich wart' auf Dich!«

Und Gant ging allein weiter die Straße hinunter, und ein unsäglicher Kummer, den er nicht verstehn konnte, machte ihm das Herz schwer, und der Tag hatte nun ein wenig von seiner Helle verloren. Als er zu der Mühle kam, wandte er sich nach rechts auf die Straße, die nach Spangler's Run hinunterführt, drunten ging er über die Brücke, und dann bog er von der Straße ab auf den Waldpfad auf dem anderen Ufer.

Auf dem Pfad stand ein Kind. Das Kind wandte sich um und ging ihm voran durch den Wald. Sonnenkringel schossen durch die laubigen Kronen der Bäume und huschten über den Pfad; die Sonnenkringel tanzten und huschten über das Goldhaar des Kindes, und rings um ihn waren plötzlich lauter Waldlaute: Knacken und Rauschen, knatterndes Schwingengeschwirr und gebrochen das kühle, gluckernde Gemurmel von verborgenen Bächen.

Der Wald wurde dichter und dunkler, Gant ging weiter, und als er zu einer Stelle kam, wo der Pfad sich gabelte, blieb er stehen, wandte sich an das Kind und fragte: »Welchen Pfad soll ich nehmen?« Und das Kind gab keine Antwort.

Aber irgend jemand war da vor ihm in dem Wald. Er hörte Schritte auf dem Pfad, sah Fußspuren auf dem Boden, und so nahm er jenen Pfad, auf dem er Fußspuren sah, und auf dem er die Tritte zu hören vermeinte.

Und dann in der brückenlosen Jähheit der Träume schien ihm all das helle Grüngold des Waldes um ihn in ein Düsteres und Dunkles verwandelt, der Pfad ward dunkler, und auf einmal ging er durch einen fremden, finsteren Forst, der in einem gespenstischen, braunen Schummer und in einem tragischen Lichte lag. Große Bäume ragten rings um ihn auf, und nun konnte er keine Vögel mehr singen hören, und selbst seine eignen Tritte waren ohne Hall. Aber immer dachte er, er höre irgendwen, der vor ihm her durch den Wald ginge. Er blieb stehn und lauschte. Die Tritte klangen gedämpft, der Boden bebte wie von einem sanften Donner von diesen Tritten, die ihm so nahe zu sein schienen, daß er dachte, er könne den, dem er nachginge, mit ein paar Schritten einholen, und dann wieder schienen die Tritte ungeheuer weit weg zu sein und sich im Geheimnisduster dieses dunkeln Walds zu verlieren. Und wieder blieb er stehen und lauschte. Die Tritte verhallten, verklangen ganz. Er rief, niemand antwortete. Und plötzlich wußte er, er hätte den falschen Pfad genommen, er wäre verloren. Und eine ungeheure und stille Trauer legte sich ihm aufs Herz, und das dunkle Licht des ungeheuren Waldes umgab ihn ganz; keine Vögel sangen.


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