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Drittes Buch
Telemach

XXXIX

Oktober war wiedergekommen, heftig und bald und mit frühem Frost; das fette Grün der Bergflanken entbrannte in lodernden Massen, und in der Luft war die Schärfe von Schmerz-und-Lust und von Oktober. Bei Tag war's oft warm, und besonders die Nachmittage waren voll goldner Wärme, polligem Dunst und einem alten, schläfrigen Licht, aber dennoch – überall atmete die Erde in der Ahnung des Frosts, in der frohlockenden Freude über die Menschen, die heimkehrten, im bangen Kummer um die Begrabenen und um alle die, die gegangen waren und nicht wiederkommen würden.

Sein Vater war tot und ihm war nun, als hätte er ihn nie gefunden. Sein Vater war tot, und er suchte ihn überall, denn er konnte nicht glauben, daß er tot sei, und war sicher, er würde ihn finden. Es war Oktober, und in jenem Jahr war er nach jahrelanger Abwesenheit und Wanderschaft heimgekehrt.

Er konnte sich nicht vorstellen, daß sein Vater gestorben sei, aber er war im Oktober heimgekommen, und all das Leben hier, das er einst gekannt hatte, war sonderbar sorgenvoll wie in Träumen. Er erlebte alles in der Beschaffenheit einer todlosen Helle – die Stadt, die Straßen, das zaubrische Gebirg und die einfachen, kinnstarken Gesichter der Leute, die ihm bekannt waren. Er sah alle Leute im Zustand und in der Wesenheit todloser Helle, und alles an ihnen und alles an allen Dingen war ihm inständig-augenblicklich vertraut, so wie ihm seines Vaters Gesicht vertraut war, und doch war ihm auch alles fremder und phantomischer als in einem Traum.

Worte trafen ihn mit dem Ton einer äußersten Natürlichkeit, und dennoch klangen sie ihm traurig und verloren und wie von Traumstimmen gesprochen, und in Augen las er ein verlorenes und einsames Licht, so, als wären alle Leute Phantome und alle verloren. Oft war ihm dann auch, als wäre er brennenden Herzens und mit einem schmerzverzückten Schrei zu dieser großen Erde zurückgekehrt, in unerträglicher Sehnsucht und im Bedauern des herrlichen und schwallhaften Lebens eingedenk, das er hier gekannt hatte, und müsse diese Erde nun immerdar heimsuchen wie ein Gespenst, ohne an ihrer spürbaren Wärme greifend, haltend oder besitzend teilzuhaben. Er war heimgekehrt und konnte nicht glauben, daß sein Vater tot war; er dachte, er höre die große Stimme auf der Straße dröhnen, er sähe die große Gestalt mit dem erdeverschlingenden Schritt über den Stadtplatz kommen, er träfe den Vater gleich an der nächsten Ecke, ja, er erblickte den Alten nun aufs Haus zukommend, schiebenden Schritts, ein Riesenpaket Fleisch und Lebensmittel unterm Arm, und der Alte brächte ihm und den Seinen dann all die todlose Sicherheit seiner Stärke und Leidenschaft und Lebensmacht mit, die brüllende Botschaft seiner schornsteinerschütternden Feuer und die glückhafte Botschaft, daß die guten zaubrischen Tage und das goldne Daseinswetter wiederkämen, und daß diese traumhaft-phantomische Welt zurückverwandelt würde in eine Welt fühlbarer Wärme und Erdenherrlichkeit.

Deswegen konnte er nicht denken, daß sein Vater tot wäre, und doch: es war Oktober und er, der Sohn, war heimgekehrt. Nachts im Haus seiner Mutter lag er im Bett, lag er in der Dunkelheit und hörte draußen auf der leeren Straße das welke Laub auf dem Pflaster rascheln und hörte den Wind und hörte weither im Wind einen Hund bellen und spürte die fremde Zeit, die dunkle Zeit, die dunkel-geheime Zeit, die ihn umfloß, und erinnerte sich seines Lebens, dieses Hauses und der ganzen Million der fremden und geheimen Gesichter der Zeit, der dunklen Zeit, und er dachte, fühlte, dachte:

»Oktober ist wiedergekommen, wiedergekommen ... Ich bin wieder heimgekommen und fand, daß mein Vater gestorben ist ... und das war Zeit ... Zeit ... Zeit ... Wo soll ich nun hingehn? Was anfangen? Denn Oktober ist zwar wiedergekommen, aber es ist der Reichtum aus dem Leben, das wir kannten, davongegangen, und wir sind verloren.«

Der Sturm rüttelte an dem nächtlichen Haus – dem alten Haus, dem Haus seiner Mutter –, in dem er seinen Bruder auf dem Sterbebett erlebt hatte. Die alten Türen schwangen in den Angeln und ächzten in der Dunkelheit; die Dunkelheit drückte auf das Haus, die Dunkelheit trat in die Türen, die Dunkelheit tappte leise und heimlich und spürbar im Haus herum und erfüllte es mit tausendfach geheimer Gegenwart aus sorgenvoller Zeit und Eingedenken, die Dunkelheit bewegte sich wogend um ihn, der im Zimmer unterm Zimmer seines Bruders wachlag, indessen der Sturm der Spätoktobernacht am Haus rüttelte, und etwas krächzte und raschelte im mächtigen Stieben des Winds. Es war Oktober, und er war wieder heimgekommen, er, der nicht glauben konnte, daß sein Vater tot war.

Wind rammte gegen das Haus mit ruppigen Schultern nachts, Dunkelheit wandelte im Haus herum wie etwas Stilles und Spürbares, – und ein Geist, der im Haus der Mutter atmete, ein Dämon, ein Freund sprach zu ihm die stumme und unerträgliche Wahrsagung von Flucht, Dunkelheit und Sturm, umwallte und umwogte ihn unaufhörlich, schlich sich heran an die Grenzen seines Wesens, war immer neben ihm, mit ihm, in ihm und flüsterte:

»Kind, Kind, – komm mit mir, komm mit mir heut nacht zu Deines Bruders Grab! Komm mit mir an den Ort, wo die jungen Männer liegen, die seit langem begraben sind. Komm mit dorthin, wo sie heut nacht umgehen, ... da wirst Du Deinen Bruder wiedersehn von Angesicht und seine Stimme hören ... und sehn, wie er von den Gräbern her im Zug der jungen Männer kommt, die wie er im Oktober starben ... und die jungen Männer alle werden Dir Botschaften sagen von Flucht und Triumph und allbegeisternder Dunkelheit, ... werden Dir sagen, daß alles wieder sein wird, wie es einst war.«

Oktober war wiedergekommen, und er lag da in seiner Mutter Haus in der Nacht, er spürte, wie die Dunkelheit sanft ihn umwallte, und er hörte das Schnurren des welken Laubs draußen auf der Straße und die mächtigen Rammstöße des Winds. Und dann brauste der Wind davon mit ungeheuren Sätzen, und er hörte ihn in der Ferne heulen mit leisem, sinnlosem Geschrei in der Umarmung riesiger Bäume, und er lag da und dachte:

»Oktober ist wiedergekommen ... ist wiedergekommen.« Er spürte das Dunkel um sich und, außerstande zu glauben, daß sein Vater gestorben sein könnte, dachte er: »Die fremden und einsamen Jahre sind wiedergekommen ... ich bin wieder heimgekommen ... bin wieder heimgekommen ... und wird nun nicht alles mit uns wieder sein, wie es einst war?« Er spürte die Dunkelheit, die ihn umwallte, und dachte: »Ist es nicht dieselbe Dunkelheit, die ich als Kind kannte, und bin ich nicht zuvor hier im Bett gelegen und habe diese Dunkelheit gespürt, als sie mich umschritt? ... Haben wir damals im Oktober nicht im Dunkel Hunde bellen hören? ... Und klang ihr Gebell nicht heulend und wie im Winde zerschellt? ... Und welkes Laub auf der Straße schurren hören? ... Und diese ruppigen Rammstöße des Winds gehört? ... Und das Stöhnen und Ächzen von riesigen Bäumen in der Umarmung des sinnlosen, heulenden Winds? ... Und damals ganz wie nun der Menschen gedacht, die gegangen sind und nicht wiederkommen werden, und unsrer Freunde und Brüder gedacht, die unter der Erde liegen? Oh!« schrie er auf, »ist nicht Oktober wiedergekommen wie immer, wie er immer war?« Er hörte die Dunkelheit, die im Haus seiner Mutter umherschlich, und er dachte, fühlte, dachte:

»Nun ist der Oktober wiedergekommen, der bei uns zu Haus anders ist wie Oktober in anderen Landen. Der reife goldne Monat ist wiedergekommen, und in Virginien fallen die Chinkapins. Die Musik der Jahreszeiten klingt heller und schärfer und klarer vom Frost, und alles, was auf Erden sein Leben hat, wendet sich heimwärts. Amerika ist so groß, daß Du nicht sagen kannst, es hätt' ein und denselben Oktober. In Maine kommt der Frost schnell und heftig, als triebe er Nägel ein: auf eine Woche oder zehn Tage flackern die Wälder auf mit dem grellen, bitteren Laub: die Ahorne in ein herbes Hochrot und die Blätter anderer Bäume in ein lebendiges Leuchtegelb, und wenn Du durch die Wälder gehst, fallen die Blätter herunter wie kleine Sonnenfetzen, und dann kannst Du nicht sagen, ob da das Sonnenlicht auf dem Waldboden zittert und huscht oder das frischgefallene Laub.

An den Palisaden des Hudson derweil schmelzen die Farbmassen bunt und bunter zusammen, die Jahreszeit schwingt sich über die Landschaften hin, und ein wenig später fangen in den Südstaaten die dichten Hügelwälder an weich zu ergluten, und wenn in Ohio ein Hauch von brennendem Holz in der Luft liegt, dann sagen die Kinder: ›Da ist sicher ein Waldbrand in Michigan.‹ Und in Nord-Karolina drunten geht der Mann im Gebirge auf die Jagd, er bleibt bis spät in den Abend draußen mit seinen traurigen, flappohrigen Hunden, ein Neumondbogen erscheint zart über zackigen Gipfeln: was aber sagen die Freunde zu dem Jäger, wenn er so spät heimkommt? Grobschlächtig-unschuldig und lachend sagen sie ihm: ›Geh lieber nicht heim, Mann, zu Deiner Alten, sonst setzt's was!‹

O kehre zurück, kehre zurück!

Der Oktober ist am reichsten unter allen Zeiten des Jahrs: die Felder sind abgemäht, die Kornhäuser sind voll, die Vorratskammern sind bis oben beladen, und von der Apfelkelter quillt das üppig-braune Sickergemaisch der ›York Imperials‹. Die Biene bohrt ihren Stachel in den Bauch der gelbreifen Traube, die Fliege wird alt und fett und blau, sie summt laut, krabbelt langsam und kriecht sich an den Fensterbrettern und Zimmerdecken zu Tode. In Blut und Pollen geht die Sonne unter über den bronzenen Stoppelfeldern des alten Oktober.

Die Maiskolben sind enthülst; sie hängen in hartgelben Reihen an den großen roten Scheunen in Pennsylvanien, bereit für die gelblichen, großen, malmenden Zähne der Pferde. Die trägen Hufe knallen hart gegen die Verschlage im Stall, und in Scheuer und Stall duftet es süß nach Heu und Leder, nach Äpfeln und Holz. Dies und das harte Knirschen der malmenden Pferde ist alles – der Pflug ruht, der Schweiß und die Plackerei sind herum. Die Spätbirnen liegen auf einem Brett in der Sonne und werden mürb; geräucherte Schinken hängen an verborgenen Dachbalken, die Bretter in der Speisekammer sind beladen mit dreihundert Krügen voll Obst. Derweilen hat sich das Laub in Maine verfärbt, verfärbt, in Windstößen fallen die stachelkapsligen Kastanien dumpf zu Boden, und in Virginien fallen die Chinkapins.

Nachmittags in den Kleinstädten riecht's nach verbranntem Laub, Männer rechen das Laub in den Gärten zusammen, Buben kommen vorbei, und die kleinen Kinder auf der Straße waten knietief in den angewehten Wächten aus großen braunen Eichenblättern. Die Feuerchen krachen und knallen wie Peitschengeknatter, der bittre Rauch beißt einem in die Augen; auf den Stoppelfeldern, die abgebrannt werden, springen die züngelnden Flammen über den Boden wie Heuschreckenschwärme. Feuer treibt den Dorn des Gedenkens ins Herz.

Das halmige Gras, ein Wald kleiner Eisspeere, taut am Vormittag auf; der Sommer ist vorbei, aber die Sonne scheint wieder warm, und durch das ganze Land hin gibt es Tage von Gold und Rotbraun. Aber der Sommer ist tot und vergangen, die Erde wartet, ein hingehaltnes Verzücken nagt an den Herzen der Menschen, die brütende Vorahnung des Frosts ist da. Die Sonnenuntergänge sind feuerrot-blutrot, das alte Rot glitzt auf verbeulten Eimern, die große Scheuer steht im Widerschein der alten Abendröte, und der Bub mit den Eimern voll schaumiger Milch geht nach Haus. Die großen Schatten auf den Fluren werden länger und länger, das alte Abendrot stirbt am Himmel, und das Bellen der Hunde nach Sonnenuntergang klingt schon matt und fern und frostverweht: es wird den Hunden gepfiffen, dann ist der Frost da, und die Stille ist da, und das ist alles. Ein Wind regt sich, scharrt und schurrt im welken Laub, und die ganze Nacht hindurch fallen die Blätter von den Eichen.

Züge fahren über den Kontinent in einem Wirbel von Staub und Donner, die welken Blätter fliegen auf dem Geleis hinter ihnen auf: die großen Züge fahren durch Klammen und Klüfte, rumpeln mit Schienendonner auf Brücken über dem mächtigen braunen Wellengang der Ströme, schnauben durch Gebirge, fahren durch braunes abgeerntetes Ackerland, sie peitschen an den leeren Bahnhöfen kleiner Städtchen vorbei, und ihr großes Dahinfahren stößt wie ein steter Pulsschlag durch ganz Amerika. Felder und Berge und Höhen und Senken, Berge und Ebenen und Strom, eine Wildnis mit umgestürzten Bäumen, braunem Dickicht aus Unterholz und Unkraut, eine Ebene, eine Wüste, eine Plantage, eine mächtige Landschaft ohne nette Eingezäuntheit, eine Unabsehbarkeit von Falten und Windungen, wie man sie nie behalten und nie vergessen kann, und wie sie nie beschrieben worden ist – erntemüd, fruchtbar von jeder Frucht und alle Erze bergend, der unendliche Reichtum vom Herbst eingebräunt, geil, roh, ungezähmt, gelassen, jenseits der Schönheit und des Entstelltseins, immerdar dauernd und großartig, ein Schrei, ein Raum, eine Verzücktheit! – die amerikanische Erde im alten Oktober.

Und die großen Winde heulen und fegen über das Land, sie sausen fern in großen Bäumen, und da denken die Buben nachts verzückt-erregt in ihren Betten an Dämonen und an mächtige Bewegungen im Erdreich. Die ganze Nacht hindurch prasseln hart und herb die Eicheln zu Boden, und die Kastanienkapseln plumpsen dumpf auf den Grund.

Und oftmals nachts ist nur die lebendige Stille, das ferne, frostverwehte Gebell eines Hunds und die Unruhe der Hühner, die sich fiedrig plusternd auf ihren bekalkten Schlafstangen regen. Und der Mond, der tiefhängende schwere Herbstmond, erst hinter den kahlen Stämmen des Kiefernstands, dann am Rand der Kiefernkronen, fällt nun mit milchigem Gespensterlicht auf bereifte Schollenklumpen und auf den Frostschorf der Kürbisse; dann wird er weißer, kleiner, heller, er hängt an der Schräge des Kirchturmdachs, er hängt gleicherweise über tausendmal tausend Straßen, er tränkt die Erde mit Frost und Stille.

Dann mag es wohl sein, daß frostkalte Glocken erklingen durch das brütende Schweigen der Luft, und die Leute in ihren Betten werden dann lauschen. Sprechen oder sich regen werden sie nicht, die Stille wird an der Dunkelheit nagen wie eine Ratte, aber in den Herzen der Leute wird es flüstern:

›Der Sommer kam und ging, kam und ging. Und nun –?‹ Mehr werden sie nicht sagen, sie werden nichts weiter zu sagen haben: sie werden warten; brütend, stumm und schweigsam werden sie sein wie der Frost, und sie werden lauschen. Sie werden der Zeit, der seltsamen, hintickenden Zeit, der dunklen Zeit lauschen, die uns mit der Kürze unsrer Tage heimsucht. Sie werden an Längstverstorbne denken, die nun in der Erde liegen, an den Frost und die Stille von ehedem, an ein vergessenes Gesicht und an einen Augenblick aus verlornen Zeiten, und an Dinge werden sie denken, die sie mit Worten nicht sagen können, weil das Wort dort gebricht.

Und in der Nacht, in der Dunkelheit, in der lebendigen, schlafenden Stille der Städte, in den Millionen Straßen werden sie den Donner der schnellen Züge hören und das Tuten großer Schiffe auf dem Strom.

»Was werden sie dann sagen? Was?«

 

Nur die Dunkelheit bewegte sich um ihn, der denkend und fühlend in der Dunkelheit lag; eine Tür ächzte leis im Haus.

»Oktober ist Heimkehrzeit: die Eingeweide der jungen Menschen brennen vor Sehnsucht nach Liebe. Ihre Münder sind trocken und bitter von der Begier, ihre Herzen sind zerrissen von den Dornen des Frühlings, denn der liebliche April, der grausame und blühselige, hat sie gestachelt mit scharfer Freude und wortloser Lust. Der Frühling hat keine Sprache außer dem Schrei, grausamer aber als April ist die Natter der Zeit.

Oktober ist Heimkehrzeit, selbst die Stadt ist neugeboren. Die Flutzeit des Lebens ist wieder im Schwall, die reichen Leute sind vom Land wieder zurückgekehrt zu ihrem Geschäft oder zu modischen Vergnügungen, und die Leiber der Armen sind errettet aus der Hitze und der Mattigkeit. Der Harm und die Schrecken des Sommers sind vergessen, sind nun nur noch eine Erinnerung an heiße Kammern und feuchte Wände, an eine häßliche Hölle aus Schweiß, Plackerei, Not und Hoffnungslosigkeit und an einen Limbo mit fahlen, fettigen Gesichtern. Und nun sind Freude und Hoffnung in den Herzen von vielen Millionen Menschen wieder erstanden, sie atmen wieder begierig die Luft, ihre Bewegungen sind voll von Leben und Tatkraft. Der Stempel des Sommers, der auf ihre Gesichter gedrückt ward, hat noch leserliche Spuren hinterlassen, es ist irgend etwas Verhungertes und Geduldiges in ihren Augen und ein kindlicher Blick, in dem Hoffnung und Erwartung sind.

Der Sinn weist heimwärts im alten Oktober: Seefahrer zum Meer, Reisende zu Wällen und Zäunen, Jäger zum Gefild und zu den Senken und zum Laut der Hunde, den Liebhaber zum Herzen der Liebsten, die er verließ ... alles, was lebt auf der Erde, kehrt heim, kehrt heim: Vater, willst nicht auch Du heimkehren?

Wo bist Du nun, da alle Wesen auf Erden wiederkehren? Denn sind nicht alle Dinge schon zuvor gewesen, haben wir sie nicht gesehn, gehört und gekannt, und werden sie nicht wieder leben für uns, wenn Du nur zurückkehrst?

Vater, in der Nacht Zeit, im Dunkel, ich habe den Donner des Schnellzugs gehört. In der Nacht, im Dunkel hab' ich das Heulen der Winde gehört in den großen Bäumen und den prasselnden Windschutt der Eicheln. In der Nacht, im Dunkel hab' ich den Regen auf den Dächern laufen gehört, das Gegurgel in der Dachrinne und den weichen Schluckauf der Erde, die sich volltrank im Monat Mai, – und ich habe die kummervolle Stille des Flusses im Oktober vernommen. Die Bergbäche wälzen sich schäumend in stetigem Sturz, der gelockerte Lehm fällt hinein und zerlöst sich in Strudeln nachts, die Schlange windet sich kühl und glänzend unter den träufelnden Farnen, das Wasser schießt über die Mühle hinaus und stürzt hinab in einer durchsichtigen Strahlwand, und das macht ein stetes Rauschen, und in der Nacht, im Dunkel fließt der Strom an uns vorbei in das Meer.

Der große Rachen trinkt das Land, derweilen wir schlafen: unterwaschene Ufer brechen ein und bröckeln ab im Dunkeln, die Erde schmilzt ab und fällt in Brocken in den Flutschwall, große Hörner bellen an der Mündung des Stroms. Und so denn, verdunkelt von unserm Abfall, verdickt von unserm Erdschmutz, üppig, geil, schön und nicht-endend wie alles Leben, nicht-endend wie alles Lebendige fließt der Strom, der dunkle, unsterbliche Strom, der von fremder, tragischer Zeit erfüllte, an uns vorbei – an uns vorbei – an uns vorbei ins Meer.

Alles dies ist auf Erden gewesen, und wird dauern auf immerdar. Du aber bist gegangen: unsre Leben sind zerstört und zerbrochen in der Nacht, unsre Leben sind unterwaschen vom Flutgang des Stroms, unsre Leben werden von den Strudeln davongewirbelt in die Dunkelheit und in das Meer, und wir sind verloren, es sei denn, Du kommst und gibst uns das Leben wieder.

Komm zu uns, Vater, in den Wachen der Nacht, komm, wie Du immer kamst, und bring uns die nieversagende Stütze Deiner Kraft, die grenzenlosen Schätze Deiner Fülle, den ungeheuren Aufriß Deines Lebens, der alles Verlorne und Zerbrochene auf Erden wiederum in ein goldnes Gerück aus Freude und Lust bringen wird. Komm zu uns, Vater, wenn der Wind heult in der Dunkelheit, denn der Oktober ist wiedergekommen mit ungeheurer Verheißung von Tod und Leben und mit der großen Last der Menschen, die zurückkehren wollen. Denn wir sind zerstört, verloren, zerbrochen, wenn Du nicht kommst, und unsre Leben, wie schadhafte Schiffe, wirbeln um uns in die Dunkelheit, uns voran nach dem Meer.«

So dachte, fühlte und sprach er; er lag in seiner Mutter Haus, aber im Haus war nichts außer der Stille und der wandelnden Dunkelheit; das Haus bebte vom Sturm, und große Winde warfen sich auf das Haus; und dann wußte er, sein Vater würde nicht wiederkommen, und daß all das Leben, das er gekannt hatte, nun verloren wäre und zerbrochen wie ein Traum.


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