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XXVI

Ein paar Minuten nach vier an jenem Morgen, als McGuire noch immer über seinen Schreibtisch gefläzt lag, läutete das Telephon abermals. Und wieder rührte er sich nicht. Er blieb sitzen, wie er saß, die Ellenbogen aufgestützt, und starrte stumpf vor sich hin. Da das elektrische Geschrill die Krankenhausstille störend bedrohte, erschien alsbald Miss Creasman, und diesmal nahm sie, ohne sich um McGuire zu scheren, das Gespräch an.

Es war Lukas Gant. Sein Vater hatte um vier Uhr infolge einer Blutung das Bewußtsein verloren; alle Versuche, ihn wach zu halten, waren vergebens gewesen; man rechnete mit dem Ableben.

Miss Creasman hörte aufmerksam auf Lukas' erregten Bericht, und selbst McGuire konnte das Stottern der Stimme in der Leitung vernehmen. Die Pflegerin warf einen besorgt-fragenden Blick auf den betrunkenen Arzt, dann sprach sie: »Einen Augenblick, ich will sehen, ob der Doktor im Hause ist.« Sie legte die Hand auf die Muschel und sagte leise, aber sehr dringlich zu McGuire:

»Lukas Gant. Sein Vater hat wieder eine Blutung gehabt, sagt er. Liegt ohne Bewußtsein, sie haben versucht, ihn aufzurappeln, es ging nicht. Nun sollst Du sofort hinkommen. Was soll ich ihm sagen?«

Er glotzte sie an, machte eine abfällig-ungeduldige Gebärde mit den dicken Fingern und murmelte dickzüngig:

»Nichts zu machen ... hat keinen Zweck ... nicht mehr aufzuhalten ... Die Leute erwarten ein Mirakel ... herum, erledigt, abgetan ... Sag, ich wär nicht da ... heimgegangen.« Er fläzte sich wieder auf den Tisch, sie sprach ruhig in die Leitung und erklärte kühl:

»Der Doktor ist scheint's nicht mehr im Haus. Haben Sie schon in seiner Wohnung angerufen? Ich nehme an, Sie können ihn dort erreichen.«

»Nein!! Go-gogottverdammt!!« schrie Lukas am andern Ende der Leitung. »Er ist nicht zu Haus! Dort ha-ha-ha-hab' ich ja schon angerufen. N-n-n-nein, Miss Creasman«, schrie er ärgerlich, »Sie müssen dort nachsehen. Ich w-w-weiß, daß er dort ist. St-t-ti-tinkbesoffen! Go-go-gottverdamm seine Seele, w-w-wenn er nicht kommt, sagen Sie ihm! P-p-pa-pa ist sehr schlecht dran und o-o-offen gestanden, 'ne Scha-schande ist's, daß sich der M-m-mcGuire so benimmt, nachdem er d-d-die ganzen Jahre lang P-p-papas Arzt gewesen ist. F-f-frank und frei, da-das können Sie ihm von mir sagen!«

»Nichts zu machen«, murmelt McGuire. »Hat keinen Zweck. Erledigt.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Mr. Gant«, sagte Miss Creasman. »Ich werde es dem Doktor sagen, sobald er hier hereinkommt.«

»Reinkommt! Zum T-t-teufel! Ich ko-ko-ko-komm und hol' ihn d-dort«, stotterte der wutentbrannte Lukas, »u-u-u-und wenn ich ihn a-a-a-am Kragen herz-z-zerren muß!!« Mit einem Päng hing er den Hörer ein.

Sie legte den Hörer auf die Gaffel und sprach zu McGuire:

»Er tobt. Sagt, er käm' Dich holen. Kannst Du Dich nicht aufraffen, Dich ein bißchen zurechtmachen und hinfahren! Wenn Du nicht selbst steuern kannst, weck' ich den Joe.« Joe war ein im Hospital bediensteter Neger.

»Was hat es denn für einen Zweck?« brummte McGuire ein wenig verärgert. »Was erwarten denn diese Leute von mir? ... Ich bin Arzt und kein Wundertäter ... Der Mann ist erledigt, sage ich Dir ... Die ganze Darmpassage und das Rektum sind weggefressen ... er kann höchstens noch zwei Tage leben ... es wäre einfach grausam, sein Leiden zu verlängern, und ich weiß zum Teufel nicht, warum ich es tun sollte.«

»Tu, was Du für recht hältst«, sagte sie resigniert. »Nur ... Lukas Gant wird vermutlich in ein paar Minuten hier sein, und nachdem die Leute nun mal so eingestellt sind, würde ich mir ihnen zuliebe die Mühe machen.«

»Ah«, brummte er verdrossen. »Die Menschen sind sich alle gleich ... sie wollen Wunder ... unter einem Wunder tun sie's nicht.«

»Und Du? Sag mal, willst Du Dich eigentlich nicht erst ein bißchen hinlegen, eh Du operierst?« fragte sie in ihrer gütig-rauhen Art.

Er sah nicht auf, winkte ab und brummte: »Laß mich in Ruh.«

Sie ging. Als sie draußen war, tappte er nach der Flasche und trank. Und dann, als der Sand im Stundenglas der Zeit wieder lief, saß er dann in der Stille und dachte an den alten Mann, der nun im Sterben lag, den er kennengelernt hatte, als er noch ein junger Arzt, ein Anfänger in seinem Berufe war, mit dem ihn das Leben durch so viele merkwürdige und eindringliche Erinnerungen verbunden hatte. Er dachte an Gant, und die Fremdheit aller Menschenschicksale rührte ihm das Herz. Da war etwas Unaussprechliches, ein Wunder oder ein Geheimnis war es, das sich nicht aussagen ließ.

Er tappte wieder nach der Flasche, hielt sie feierlich zwischen den beiden bärenhaften Tatzen und trank sie bis auf den letzten Tropfen aus. Dann saß er ein paar Minuten lang regungslos da. Schließlich stand er schmerzlich grunzend auf, tappte nach der Wand, wankte über den Gang und tastete sich dann durch die Halle auf die Treppe zu. An der Treppe angelangt, trat er – wie schon so manchesmal – daneben; er verfehlte die Stufe, ganz wie einer, der den Fuß ins Leere setzt, und fiel in die Knie. Er gab sich mit den Händen einen Schub, rutschte ein Stück auf dem geölten grünen Linoleum, gab ein behagliches Grunzen von sich und streckte sich, die Hände unterm Kopf verschränkend, aus. Er war schon halb eingeschlafen, als Miss Creasman, die ihn fallen gehört hatte, herbeikam. Dieses Bild war ihr durchaus vertraut. Sie fuhr ihn scharf an, so wie man zu einem ungezogenen Kind spricht:

»Steh sofort auf und geh nach oben«, befahl sie. »Und wenn Du nicht schlafen willst, dann gehst Du sofort zurück in Dein Büro. Das gibt es nicht, daß Du das ganze Haus in Verruf bringst und hier vor der Treppe schläfst.«

Er gehorchte ihr wie ein Kind, ganz wie er es schon so viele Male getan hatte. Als er in seinem von Trunk und Müdigkeit betäubten Bewußtsein ihren Befehl erfaßt hatte, stemmte er sich stöhnend hoch, und nun, auf den Knien, halbaufgerichtet, auf allen vieren kriechend, weil er entweder nicht mehr auf den Beinen stehen konnte oder nicht wollte, fing er an, wie ein Bär vor sich her tappend die Stufen hinaufzukrabbeln. Er machte langsame Fortschritte. Als Lukas Gant kam, fand er ihn auf halber Treppe.

Bittere Flüche erregt herausstotternd, packte ihn Lukas und stellte ihn auf die Füße, Miss Creasman kam und wusch ihm das Gesicht mit einem in kaltes Wasser getauchten Handtuch, der Neger Joe Corpering erschien, und McGuire wurde von den dreien in Lukas' Auto geschafft.

Es fing gerade an zu tagen. Ein mattes, silberblaues Licht glomm, die Erde war still und rein, in den morgendlichen Bäumen erwachten die Vögel. Die frische, süße Luft, die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der Lukas durch die stillen Straßen fuhr, das Gebrüll des Motors – alsdann die ihm vertraute, mächtig unterdrückte Spannung eines Sterbezimmers, die zurückgehaltene Hysterie, der Schmerz, der Schreck, die erregende Aufmerksamkeit, die sich auf den Sterbenden richtete,– das alles machte McGuire wach und brachte ihn zu sich.

Gant lag still, beinahe leblos auf dem Bett. Auf sein Gesicht fielen schon die Gespensterschatten des Todes. Sein Atem ging langsam, rauh, leise röchelnd. Seine Augen waren halb geschlossen, schlafsüchtig, bereits glasig vom Tod.

McGuire sichtete die glänzende Nadel und jagte dem Sterbenden eine starke Coffëin-Sodium-Benzoat-Spritze in den Arm. Das genügte, um Gant wieder halb zu sich zu bringen; es half ihm aus der abebbenden Dunkelheit heraus. Er öffnete die Augen, sein Blick wurde wieder hell, er sprach ein paar Worte. Der lichte Tag kam und Gant lebte noch. Und wie es immer geht mit Verzweifelten, so ging es nun mit den Angehörigen: mit dem Tag kamen die irrsinnigen Hoffnungen auf das Unmögliche zurück. Und Gant starb nicht an diesem Tage. Er lebte weiter.


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