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LXIII

Als Rosalind, Eugen und Joel hinaus auf die Veranda traten, fuhr gerade ein Wagen vor. Mrs. Pierce, Howard Martin und Joels Kusine Ruth – alle drei in Badeanzügen, die beiden Frauen in leichten Bademänteln – stiegen aus. Sie waren schwimmen gewesen in dem kleinen, entzückend angelegten, baumumstandnen Schwimmbad, das etwa eine halbe Meile weg in einer grünen Hangmulde lag. Zimperlich zuckend auf seinen weißen, wohlgepflegten Füßen kam Howard Martin über den Einfahrtsweg auf den warmen Klinkerfußboden der Veranda; Mrs. Pierce aber und das Mädchen gingen festen Schritts. Mrs. Piercens Figur war so schlank und so gut durchtrainiert wie die des Mädchens, – Fußfesseln und Beine wunderbar anmutig, straff und schmal, – aber verglichen mit der prallbrüstigen, wollüstigen Gestalt der Nichte schien dem Körper der Mrs. Pierce das Verführerische zu fehlen; er hatte die Kraft und Schlankheit der Jugend ohne die Wärme und Frische der Jugend, und wie alles an Mrs. Pierce hatte dieser Körper eine gewissermaßen auf Eis gelegte, frostige Vollkommenheit, die für strenge Selbstbeherrschung zeugte, für grimmige Wachsamkeit und die unnachgiebige Anstrengung, ›in Form‹ zu bleiben.

Als Joel und Eugen auf sie zugingen, blieb Mrs. Pierce – die Hand bereits am Knauf der mit Fliegendraht bespannten Schutztür – stehen und erwartete sie lächelnd. Ihre Zähne waren so gediegen, so weiß und saßen so vollkommen, daß es sehr schwer war, die Zargenlinien im Gebiß zu erkennen, sie wirkten manchmal wie Zwillingsreihen von solidem, blitzendem Elfenbein und nicht wie einzelne Zähne, und dieser Umstand trug ebenfalls zu der eisigen, fast unmenschlichen Abspenstigkeit ihres Lächelns bei. Sie begrüßte den Freund ihres Sohnes mit einem gütigen, aber gleichgültigen »Guten Morgen«, und dann wandte sie sich, ohne daß sich auch nur ein Tüttelchen im starren Glanz ihres Lächelns änderte, an Joel und sagte:

»Ich dachte, Ihr kämt ins Schwimmbad. Was ist denn mit Dir und Ros' geschehn?«

Diese Frage war ganz ruhig und sachlich gestellt worden; nichtsdestoweniger war ein starkes Mißfallen, ein Tadel, irgendwie in ihr ausgedrückt.

Joel wisperte schnell eine Antwort, eine hurtige, angelegentliche Erklärung, die schlanke Gestalt leicht nach vorn geneigt, das hagre Gesicht emporgehoben, gierig beflissen, strahlend verbindlich, in jener Haltung des ergebnen, bittstellerischen Respekts, der zwar seine Beziehung zu jeder Frau charakterisierte, aber bis zum Äußersten getrieben war, wenn er seiner Mutter zuhörte oder zu ihr sprach.

»Ich weiß, Mams«, entschuldigte er sich schnell, »es tut mir schrecklich leid, – aber er hatte versprochen, uns heut früh sein Stück vorzulesen, und es hat den ganzen Morgen gedauert. Mams! ...«, staunte er begeistert auf, »es ist einfach wundervoll. Ich wünschte, Du hättest es hören können.«

»Oh!« sagte Mr. Pierce ruhig. Sie wandte sich dem Freund ihres Sohnes zu und betrachtete ihn, ihn mit ihren dünnen, leicht mit dem Karminstift nachgezogenen Lippen anlächelnd, mit jenem Lächeln, das sich nie änderte oder auch nur ausdrucksmäßig im geringsten abwandelte. »Oh«, sagte sie, »das hätte ich gern gehört, – vielleicht werden Sie's mir mal vorlesen?«

»Einfach süperb!« wisperte Joel. »Wirklich, Mams!«

»Aber nun heißt's, sich zum Lunch fertigmachen«, sagte sie in einem wärmeren, freundlicheren Ton. »Du weißt ja, wie die Großmutter es haßt, wenn man unpünktlich eintrifft.«

Mit diesen Worten trat sie ins Haus und stieg treppan. Die jungen Männer folgten ihr. Am Fuß der Treppe wandte sich Joel und sagte zu seinem Besuch:

»Hör mal ... beeil Dich bitte, so sehr Du kannst ... Wir haben nur noch zwanzig Minuten ... grade Zeit um zu baden und sich umzuziehen.«

Baden und sich umziehn! Eugen sah seinen jungen Gastgeber verdutzt und verständnislos an; es wurde ihm ein wenig schwach ums Herz. Was also wurde da von ihm erwartet – welche Formalitäten mußten unter diesen merkwürdigen, seltenen Menschen erfüllt werden, ehe man zu einer Einladung zum Mittagessen ging? Gebadet hatte er in der Früh, und er kam sich noch ganz sauber vor; und was das Umziehen anging, nun, er hatte in aller Welt bloß einen einzigen Anzug, und den trug er am Leibe. Und am Tag zuvor noch, als er New York verlassen, um zu diesem reizvollen, unvorstellbar herrlichen Ort zu reisen, hatte er in seiner elendig naiven Unkenntnis noch geglaubt, ein Anzug, drei Hemden, drei Paar Socken und ein Satz Unterzeug zum Wechseln würden voll und ganz ausreichen für alle Ansprüche, die die Mode und ein kurzer Wochenendbesuch an ihn stellen könnten. Eugen also starrte seinen Freund sprachlos und mit offenem Munde an, und der Zusammenstoß mit dieser anderen Welt, die ihn am Abend zuvor in ihrer Großartigkeit und Schönheit gepackt hatte, brachte ihn so auf, daß es in seinem Hirn wie von berstenden Raketen grellte. Einen Augenblick nun verspürte er ein Verlorensein, ein verzweifeltes Entsetzen, einen Schwächeanfall, – und merkwürdigerweise auch gleichzeitig einen blinden Groll auf seinen Freund. Er kam sich betrogen und getäuscht vor durch Joels Bescheidenheit, dessen ganz ausgesuchte Demut, durch die bis zur Fadenscheinigkeit schäbigen, fast durchgescheuerten Anzüge, in denen Joel in Cambridge und New York herumgegangen war, durch die überfeinerte Wohlerzogenheit, die Joel veranlaßt hatte, seinen Stand vollkommen zu verhehlen, nie ein Wörtchen fallen zu lassen oder auch nur die leiseste Anspielung zu machen, die den Lebenskreis, aus dem er stammte, den Wohlstand, den Luxus und die Großartigkeit der Welt, in der er geboren war und lebte, kenntlich gemacht hätte.

»U-u-umziehn! ... Aber wie denn ... –?« Eugen wurde puterrot, verrenkte störrisch den Hals und blökte plötzlich heraus: »Umziehn! Was soll ich denn anziehn! Das ist ja mein einziger Anzug!«

»Aber freilich!« wisperte Joel, und seine Augenbrauen rückten vor Staunen hoch. »An dem Anzug fehlt doch nichts? In einem dunklen Rock kannst Du überall hingehn ... Ich meinte bloß, Du könntest Deine weißen Flanellhosen dazu tragen.«

»Flanellhosen! Aber ich hab' doch keine, Joel! ... Außer diesem Anzug hab' ich nichts zum Anziehn, und wenn er nicht geht, kann ich nicht mitkommen.«

»Aber natürlich geht er!« rief Joel, in der augenblicklichen, ungeduldigen Zustimmung seines Tons jede Überraschung, die er etwa empfand, verhehlend. »Er ist vollkommen in Ordnung, ... nur ...« Im Nu wurden seine Augen nachdenklich, er erwog etwas. »Hör mal«, meinte er unvermittelt, »könntest Du nicht ein Paar von meinen anziehen! Ich bin nicht ganz so groß wie Du, aber vielleicht kannst Du sie passend machen ... Und wenn es nicht geht«, setzte er schnell hinzu, »dann ist es vollkommen in Ordnung, und es macht nicht das geringste aus ... Mir ist es nur ...« Sein Blick war auf einmal ein wenig betreten. »Mir ist es nur wegen Großvater, weißt Du. Er ist so ein Kavalier der alten Schule – oh, er ist stupend, einfach großartig ... Wird Dir auf den ersten Blick imponieren. Ich zieh' mich nur ihm zuliebe um, wenn ich ihn besuche, eben weil er so altmodische Auffassungen hat. Er ist wie ein Grande ... Ihm zuliebe tu ich alles – Aber komm!« wisperte er schnell, »ich geb' Dir ein Paar von meinen. Wenn sie passen, kannst Du sie tragen, – und wenn sie nicht passen, macht es nicht das geringste aus.«

Sie gingen hinauf auf Joels Zimmer. Joel gab Eugen ein Paar gestreifte Flanellhosen, und Eugen ging pflichtschuldigst auf sein Zimmer, um zu baden, ein reines Hemd und einen frischen Kragen anzuziehen und auch die Flanellhosen, die zwar etwas zu eng waren und gleichsam nur auf Widerruf paßten, aber schließlich doch passend gemacht wurden, – und so, korrekt angezogen, gesellte er sich zur Familie und den andern Hausgästen, und die Gesellschaft fuhr ab zum Haus des Mr. Joel.

Das große, weitschweifige, alte Haus, das im Mondenzauber der vorigen Nacht so lieblich gewesen war, war am Tag nicht weniger schön. Es stand da in einer Delle auf dem Hügel wie in einer Laube aus üppigem Grün, beschattet von den dichtblättrigen Kronen seiner großen Ahorne, mit der schlichten, reinen und beiläufigen Schmuckheit, die die alten Häuser in Neu-England haben.

 

Der alte Mr. Joel war durchaus die großartige, imposante Persönlichkeit, von der Joel gesprochen hatte. Er war in der Tat, um das Wort seines Enkels zu gebrauchen, ›stupend‹ –; eine Figur von löwenhafter Magnifizenz und galanter Edelmännischkeit, wie sie aus einem Roman von Thackeray hätte hervortreten können. Er war bereits über siebzig, körperlich aber noch stattlich, stämmig und rüstig; er war übermittelgroß, sein Hals und seine Schultern waren von einer massiven Gedrungenheit, und man konnte sich vorstellen, daß er in seinen besten Jahren auffallend kräftig gewesen war. Die weiße Mähne seidenfeinen Haars gab der breiten Stirn und dem rötlichen, runzligen Greisengesicht eine Art edler, löwenhafter Grimmigkeit. Dieser Eindruck ward verstärkt durch den grauen Schnurrbart und eine alte, ziemlich knurrende Stimme, in der gar nichts Mürrisches oder Mißmutiges war, sondern eine gewisse alte, edle Männlichkeit, so ein aristokratisches Grollen, das vollkommen zu der Sprache zu passen schien, die Thackerays Pendennis spricht, – eine Art Stimme, die man ein: »Was mich schert, ist verdammt nicht, daß der Kerl säuft, sondern daß er sich, wenn er schon trinkt, nicht wie ein Gentleman benimmt!« sagen hört.

Diese Ahnung wurde sofort bestätigt. Als die Gäste in Gruppen in dem geräumig-duftigen Empfangszimmer standen, sich unterhielten und einen feinen, trocknen Sherry aus kleinen Gläsern tranken, konnte Eugen die eifrig wispernde Stimme Joels vernehmen, der sich in eine ernste, ehrfurchtsvolle Debatte mit seinem löwenhaften Ahn eingelassen hatte, und dazu des alten Mr. Joel edel herausgegrollte Antworten. Die beiden sprachen über Bücher, – genauer: über das Recht des Künstlers, Stoff aus seiner eignen Lebenserfahrung zu benutzen, – und dies Thema war angeschnitten worden durch die Erwähnung eines bestimmten Buchs, dessen Verfasser offenbar persönliche Briefe und Privatdokumente benutzt hatte, die ihm von Leuten aus seinem Bekanntenkreis, vornehmlich aber einer Frau, geschrieben oder sonstwie übereignet worden waren.

»Nein«, grollte Mr. Joel, »ich frage da nicht nach Umständen, und auch nicht, welcher Art das Werk ist. Das spielt für mich hier keine Rolle. Wenn ich einen Freund hätte, der wissentlich Briefe veröffentlichte, die ihm eine Frau schrieb, dann würde ich ihn selbstverständlich sofort fallenlassen. Ich wäre solchenfalls zu dem Schluß gezwungen.« – Hier sank die vornehm grollende Stimme zu jenem ominösen Flüstern herab, in dem unumstößliche Urteile ausgesprochen werden; der Großvater sah den Enkel an, und die alten Augen blitzten grimmig unter den buschigen Brauen. – »Ich wäre solchenfalls zu dem Schluß gezwungen, daß dieser Mensch nichts wäre wie ein nichtiger Wicht.« Die alten Augen blitzten grimmig, das löwenhafte Haupt wurde plötzlich zurückgeworfen, und in einem vor Wildheit leisen Ton grollte der Alte: »Und das würde ich dem Betreffenden auch sagen; ich würde es für meine Pflicht halten ihm zu sagen, daß er nichts wäre wie ein nichtiger Wicht!«

»Ja, Großvater«, wisperte Joel beflissen, die schlanke Gestalt leicht nach vorn gebeugt in der Haltung aufmerksam-ergebner Verehrung. »Aber schließlich haben doch ein paar ziemlich große Männer das getan – – Rousseau zum Beispiel, und die Bekenntnisse, weißt Du, sind ein ziemlich großes Werk, das mußt Du doch zugeben – – Und Byron tat genau das gleiche in seinen Gedichten, oder wenigstens wußte damals jedermann, von wem die Rede war, – – und dann Musset und George Sand ...«

»Das macht keinen Unterschied«, grollte Mr. Joel unversöhnlich. »Es ist ganz gleich, wer sie waren oder wie große Künstler sie gewesen sein mögen oder auch wie groß das Werk sein mag, – wenn ein Mann aus meiner Bekanntschaft so etwas täte, wäre ich gezwungen, ihn als einen nichtigen Wicht zu erachten, wie groß er auch als Dichter oder Schriftsteller und wie bedeutend auch immer das betreffende Werk sein möchte. Ich würde ihn als einen nichtigen Wicht betrachten – und –« Wieder sank die Stimme zum Flüstern des gebieterischen, unversöhnlichen Urteilens herab. »– ich würde es dem Betreffenden auch sagen. Ich müßte ihn wissen lassen, daß ich ihn für einen nichtigen Wicht hielte.«

So also war Joels Ahnherr, Mr. Joel, und sicher war er ein Prachtexemplar, auf das jede Schicht oder Klasse wohl stolz sein konnte. Die ganze Hudson-River-Aristokratie verehrte und schätzte ihn mit Recht und fand, daß er ihr auf die edelste und herrlichste Art zur Zier gereichte. Er hatte ein langes, ehrenvolles und erfolgreiches Leben hinter sich, und nun im Alter hatte er sich an den Busen seiner väterlichen Erde zurückgezogen, um seine letzten Jahre in Würde, schlichtem Behagen und ruhiger, jedoch fruchtbarer Nachdenklichkeit über seine reiche Lebenserfahrung zu verbringen. Er schrieb ein Buch, und im voraus konnte man feierlichen Ernstes versichert sein, daß er keine Briefe, die ihm eine Frau schrieb, verwenden würde.

Welcher Mann also konnte demzufolge mit größerer Gewichtigkeit über die Pflichten, die Regeln und die Grundsätze des Mannestums sprechen? War ein Mann zu finden, der besser dazu getaugt hätte, nach dem Kodex der Ehre zu richten, den Standpunkt des Gentleman zu vertreten, – und Wahrheiten zu verkündigen, wie sie gemeineren Geistern und tieferstehenden Charakteren entgangen waren, – wie die, daß Rousseau »ein Schurke« war und Musset und Byron »nichtige Wichte« waren, weil sie »Briefe veröffentlichten, die ihnen eine Frau schrieb«.

Es war in der Tat erfreulich, eine so thackeraysche Galanterie zu finden, eine so olympische Verachtung für bübische Genies und für das Leben mächtiger, toter und vergangner Dichter, die einst die Menschheit erleuchtet hatten, deren Glanz aber nun derart ausgelöscht wurde, daß sie fürderhin in tiefster Finsternis als nichtige Wichte zu hausen hatten und nie wieder zum Empfang vorgelassen, anerkannt und huldreichst begnadigt werden konnten von dieser Blüte des Rittertums unter den Reichen am Hudson River. Wie elend sich Rousseau gefühlt haben muß, als so streng der Stab über ihn gebrochen ward! Was für bittre Neuigkeiten für Byron! Und wie kläglich für Musset!

Nun aber trat eine Dienerin ein und meldete, daß serviert sei. Die Gruppen der Umherstehenden unterbrachen ihre Gespräche, wandten sich und bildeten in einer Art angeborner Ehrfurcht eine Gasse; sie standen rücksichtsvoll wartend in zwei Reihen, bis Mr. Joel vorangegangen war. Er ging voran, ein stattlicher löwenhafter Alter, herrlich gekleidet in einem Rock aus weichem, sattblauem Stoff, weiten, pludrigen, weißen Flanellhosen und einer großen Gürtelschärpe aus gelber Seide, – einem Schmuck, der in keiner Weise unangebracht, sondern im Gegenteil zu der edlen, würdevollen Gestalt dieses Greises hervorragend zu passen schien.

An der Tür blieb er stehn und trat zur Seite: – er stand mit graubärtig majestätischer Höflichkeit da und ließ seine Gattin und die andern Damen eintreten. Dann trat er selbst ins Speisezimmer, gefolgt von seinem Enkel und den andern jungen Männern. Das Speisezimmer war ebenfalls ein heller, großer, anmutig schöner Raum im alten Neu-England-Stil. Durch die offnen Fenster blickte man hinaus auf das tiefe Grün und Gold von Baum und Beet, auf den laubenhaften Zauber der Anlage, in der das Haus stand. Die duftig-süße, schläfrige Luft fuhr wie ein Hauch durch die Vorhänge und floß durch den Raum.

Mitten auf der schneeigen Tafel stand in einer Schale ein großer, frischer Waldblumenstrauß. Auch das Mahl war bodenständig, schlicht altamerikanisch und hervorragend zubereitet. Es gab dicke Erbsensuppe, zartes, fleischiges Huhn, ausgezeichnet gebraten, ganz saftig, mit einer delikaten braunen Kruste, – dazu süße Kartoffeln, glasiert mit einem Guß aus braunem Sirup, – Bohnengemüse, so wie man es in den Südstaaten kocht, mit süßem, würzigem Speck, – gedämpften goldnen Mais, – rahmigen Kartoffelbrei – eine fette braune, dicke, saftige, glatte Bratensauce – dicke Tomaten- und dünne Gurkenscheiben, – keine alkoholischen Getränke, aber Eis-Tee, kühlend und duftig und vorzüglich in hohen, klinkernden frostbeschlagnen Gläsern, – flockige, dampfend-heiße Biskuits zum Hauptgang, – und zum Nachtisch dann frischen gedeckten Apfelkuchen, in der Rundform gebacken, heiß serviert, schön krustig, mit einem Hauch Zimt drüber, und jedes Stück von diesem ›applepie‹ auf dem Dessertteller flankiert von dicken, frischen, rechteckigen Schnitzen von dem scharfen, gelben amerikanischen Käse.

Es war kurzgesagt ein einfaches, bekömmliches, höchstappetitliches Essen, ganz und gar amerikanisch in seiner Würze und Fülle, hervorragend zubereitet, durchaus zu diesem Hause passend, zu der schlichten, naturumgrünten, gleichsam zufälligen Schönheit dieses Ortes, dieses Lebens, dieser Leute, zu der selbstverständlichen, anmutigen Gastfreundlichkeit der demokratischen Welt.

Nun muß aber zugegeben werden, daß die Mahlzeit der Zubereitung und der Qualität nach ziemlich so war wie Mahlzeiten in den Südstaaten, – diese Tatsache jedoch nahm weiter nicht wunder, wenn man sich dran erinnerte, daß Mr. Joels derzeitige Gattin eine berühmte Schönheit aus dem Süden gewesen war, aus der Gegend des blauen Grases in Kentucky.

An diese Tatsache wiederum erinnerte man sich nicht bloß, es war sogar schwer, nicht ständig daran gemahnt zu werden. Obschon Mrs. Joel eine weißhaarige Frau anfangs der Sechzig war, so war sie doch noch wunderbar konserviert, und ihre Manieren, ihre Artigkeiten, ihr Lächeln mitsamt den Wangengrübchen, ihre schalkhaften Blicke und ihr sehnsüchtiger, weicher, langgezogner Sprechton, – das alles gehörte noch immer unter die landläufige Kennmarke »Kokette aus Dixieland«.

Sie entsprach ganz dem, was man unter dem Ausdruck »feine Frauengestalt« versteht: – eine repräsentative Figur, groß, voll, stattlich, gutgewachsen. Ihr Gesicht, obschon in ihm bereits Altersanzeichen zu erkennen waren – eine leichtrunzlige Weichheit nämlich, ganz so wie die Haut an einem prallen, aber ein wenig angeschrumpften Apfel – ihr Gesicht war beinah noch so sanft und weiß und zart wie ein Kinderantlitz. Sie hatte noch fast alle ihre natürlichen Zähne, weiße, perlschimmernde Zähne, und ihre Hände waren weiß, weich und fein, und ihre Stimme hatte dieses vornehme, gleichsam Blasen werfende Kehllautgegurgel der majestätischen Amerikanerinnen aus der oberen Kruste, und sie machte ganz allerliebste Wangengrübchen beim Lächeln.

Es ward sofort recht unbehaglich offenbar, daß eine heftige, wenn auch scheinbar unterdrückte Feindschaft zwischen Mrs. Joel und ihrer Stieftochter, Joels Mutter, bestand. Der Kampf dieser beiden ging um den Besitz von etwas, was keine von den zweien mehr hatte, – Jugend. Beide waren ganz augenscheinlich ins Jungsein verliebt, in die Frische, die Wärme, den Scharm, die Anmut und die Vitalität der Jugend, beide haßten den Gedanken ans Altwerden so sehr, daß sie sich bitter dagegen verwahrten, die Möglichkeit des Altwerdens zuzugeben. Mrs. Joel war imstand, ihre Seele unter einem Zauberbann hypnotischer Selbsttäuschung zu halten, sie spielte sich abgeschmackterweise auf mit den Artigkeiten, den Airs und den Manieren einer Koketten, und so gelang's ihr, sich selbst zu überzeugen, sie wäre jung und stünde in prangender Pracht und Schönheit und könne jeden Mann, der ihr begegne, mit ihrem Liebreiz gefangennehmen, beherrschen, zu ihrem Sklaven machen.

Und Mrs. Pierce war der bitteren Meinung, daß die ältere Frau ihre besten Tage gesehen habe, daß es nun langsam an der Zeit für diese wäre, ihre Jahre zuzugeben, sich graziös in ihr Los zu schicken und in den Hintergrund zu treten. Die unschöne Rivalität war bei fast jedem Wort herauszuhören, das die beiden miteinander sprachen, und das verstimmte die ganze Tischgesellschaft und versetzte die Anwesenden in unangenehme Verlegenheiten. So sprach Mrs. Joel zu ihrer Stieftochter, sich aber gleichviel an alle ihre Gäste wendend, über Mrs. Piercens angestrengtes Bemühen, jung zu bleiben, deren grimme Entschlossenheit, durch unnachgiebige Leibesübungen ihre junge Figur zu erhalten, und machte nun im Ton zuckriger Giftigkeit, maliziös heiter und die Feinüberraschte spielend folgende Bemerkung:

»Wirklich, Ida, ich staune immer wieder, ich halte es tatsächlich für sehr erstaunlich, wenn eine Frau in Deinem Alter noch all den Sport treibt und an all den Spielen teilnimmt, die zu meiner Zeit nur die Jungen spielten ... Wenn Du schließlich zwanzig wärst, – so alt wie Joel oder dieser junge Mann hier – könnte ich es besser verstehn, – aber in Deinen Jahren, meine Liebe«, sie zog fein den Atem hoch, »wirklich, da muß ich sagen, ich wundre mich, daß Du nicht kollabierst.«

»Ach was, wirklich, Mutter?« sagte Mrs. Pierce, ihr eisiges unentwegtes Lächeln lächelnd, im Ton kalter, unempfindlicher Ironie. »Ich gesteh', daß ich nichts zum Wundern daran finde ... So mach' Dir bitte keine Gedanken, ich versichre Dir, daß ich keinen Kollaps zu befürchten habe ... Ich kann bei allem mitmachen, kann alles leisten, was ich mit zwanzig leisten konnte«, fuhr sie großartig fort, »und kann es heutzutag sogar besser als damals, ich habe größere Ausdauer beim Sport und bin auch gewandter geworden ... Ich bin den jungen Leuten hier gewachsen, ob es nun im Schwimmen ist, beim Golf oder beim Tennis, oder ob es sich bloß um einen tüchtigen Spaziergang handelt. So kannst Du denn Dein Mitgefühl aufsparen«, schloß sie mit einem anläßlich unbesorgten, scheinbar freundlich klingenden Lachen, das dennoch die unbeugsame Härte ihrer Feindseligkeit dartat. »Wenn ich Beileid brauche, werd' ich's Dich wissen lassen.«

»Aber meine Liebe«, sprudelte Mrs. Joel mit überschwenglich süßer Böswilligkeit, »ich halte es für ganz wu-hu-nderbar! Und was mich wundernimmt, ist, wie Du es in Deinem Alter noch kannst! Ja, zu meiner Zeit hätte selbst ein Mädchen nicht dran denken können, sich körperlich all die Dinge zuzumuten, die Du Dir täglich, ohne mit der Wimper zu zucken, zumutest. Ei!« Sie atmete, sie blickte sich mit feinbestürzter Miene um. »Ich höre, daß Ida jeden Morgen vorm Frühstück fünf Sets Tennis spielt, ohne daß es ihr im geringsten etwas ausmacht, – und zu meiner Zeit war es doch so, daß ein Mädchen, ... wohlgemerkt, ein junges Ding ..., wenn es nur einen einzigen Set gespielt hatte, vollkommen erschöpft, ja, für eine ganze Woche erledigt war.«

»Vielleicht, Mutter, ist es deswegen«, suggerierte Mrs. Pierce kühl, »daß die jungen Mädchen zu Deiner Zeit so eine verweichlichte und genäschige Blase waren und später so drollige alte Schachteln wurden.«

Mrs. Joels grübchengeschmücktes Lächeln verlor kein Tüttelchen von seinem sacharinenen Wohlwollen, der Klang ihrer honigträufelnden Stimme verfärbte sich um keine Schattierung, aber im Nu blitzte etwas Helles, Natterhaftes in ihren Augen auf, ein schneller Giftblick, wie er einer Schlange alle Ehre gemacht hätte. »– Und dann freilich«, fuhr sie süß fort, die jungen Männer am Tisch ins Einvernehmen ihres grübchengeschmückten Lächelns ziehend, »hatten wir so vollkommen altmodische Vorstellungen in jenen Tagen, – ich kann mir gut denken, daß Sie, junge Männer von heute, höchlich ergötzt wären über so putzige Anstandsbegriffe, – aber – hah! hah! hah!« Sie lachte ein lustiges, silbernes, kleines Lachen giftigster Gehässigkeit und fuhr dann zu Joel gewandt fort: »Also mein Lieber, lachen wirst Du müssen, wenn ich's Dir erzähle, aber damals galt es tatsächlich für unbescheiden, für unweiblich, wenn ein junges Mädchen sich sportlich betätigte, mit Männern im Sport wetteiferte, ei! und gar für eine Frau von Idas Alter wäre es undenkbar, unerhört gewesen! Eine – Frau in mittleren Jahren.« Sie sprach diese vier Worte mit offenbarem Genuß aus, und auf eine Sekunde waren die Muskeln um Mrs. Piercens Kinn schnell und hart gespannt – »Ja, eine Frau in mittleren Jahren, die sich so zu tun unterfangen hätte, wäre in Acht und Bann getan worden, man hätte sie gesellschaftlich geschnitten, anständige Leute hätten nichts mit ihr zu tun haben wollen!«

»Ja, ich weiß das, Mutter«, bemerkte Mrs. Pierce schnell mit eisiger Höflichkeit. »Davon haben wir alle reden hören. Ich glaube, jetzt wird es von den meisten verständigen Leuten zugegeben, daß die Frauen aus jener Generation eine ziemlich lebensuntüchtige langweilige und barbarische Gesellschaft waren.«

»Ah-hah-hah!« Mrs. Joel lachte sehr süß und machte ihre allerliebsten Grübchen. »Furchtbar altmodisch, natürlich, aber –« Sie wandte sich an den jungen Gast ihres Enkels und verschwendete ihr allerzuckrigstes Lächeln an ihn. »– entsetzlich amüsant, meinen Sie nicht?«

Eugen wurde roterübenrot im Gesicht, blickte die beiden zwistigen Frauen hilflos an, renkte nervös den Hals am Rand des Kragens entlang und sagte schließlich nichts.

Joel, mit seiner hurtig wispernden Anmut, seinem Takt und seiner Güte erschien als Retter in dieser peinlichen Lage. »Aber wirklich, Gro'ma«, wisperte er höflich und beflissen, »die Mams ist ganz hervorragend gut im Sport, ganz wirklich ... Sie schlägt mich immer zwei zu drei im Tennis, beim Golf gibt sie mir zehn Strokes Vorgabe, – und wenn's ans Schwimmen geht – –«

»Oh!« flötete Howard Martin in seinem süchtelnd gezierten, weibischen Ton, »sie ist wu-hu-nderbar! ... Ida!« sprudelte er, vor überreifer Begeisterung schier berstend, »im Tauchen und Springen bist Du einfach göttlich ... Ach, wenn Du mich das bloß lehren könntest!« meinte er weibisch-überschwenglich. »Es ist ja einfach vollkommen – ganz perfekt – wunderbar!«

 

Das Gastmahl ging nun glätter vonstatten. Mr. Joel, so schien es, hatte von der Fehde zwischen den beiden Frauen – seiner Tochter und seiner Frau – fast gar keine Notiz genommen. Er unterhielt sich auf seine großartig grollende Art mit Rosalind, mit Joel und den andern jungen Männern, gab seiner Meinung über die Präsidentschaftskandidaturen von Davis und Coolidge Ausdruck und sagte, er würde Davis wählen.

»Wenn John Davis ins Weiße Haus kommt«, sagte Mrs. Pierce mit der positiven Weltsicherheit, mit der sie ihre Meinungen vorzubringen pflegte, »dann kriegt Charles Dana Gibson den Gesandtenposten in England. Das ist von vornherein erledigt, ich weiß nämlich, daß Dana Gibson die Botschaft jederzeit haben kann, wenn er will –«

»Vorausgesetzt, daß Davis gewählt wird, allerdings«, wisperte Joel lachend. Er wandte sich respektvoll an seinen Großvater und fragte: »Was hältst Du davon, Großvater? Glaubst Du, daß Davis das Rennen macht?«

»Nein, glaub' ich nicht«, grollte der bärbeißige Alte. »Seine Chancen sind sehr gering, es sei denn, daß kurz vor dem Wahltag der Wind plötzlich dreht.«

»Und wen wirst Du wählen, Großvater?« wisperte Joel.

»Ich werde Davis wählen«, grollte Mr. Joel. »Ich kenne ihn seit Jahren, er ist ein sehr tüchtiger Anwalt und ein sehr fähiger Mensch ... aber, wie gesagt.« Die alte, vornehm knurrende Stimme sank zu einem Flüstern herab, hinter graubuschigen Brauen lugten die Großvateraugen dem Enkel feurig ins Gesicht. »Davis hat in der Tat nur sehr geringe Chancen, die Wahl zu gewinnen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Coolidge mit einer erdrutschartig erdrückenden Mehrheit gewänne.«

»Hast Du gehört, was Alice Longworth von ihm sagte?« erkundigte sich Mrs. Pierce lachend. »Sie sagte, Coolidge sähe aus, als wäre er als Säugling mit einer sauren Gurke entwöhnt worden.«

Alle lachten, sogar Mr. Joel stimmte mit einem grollenden Gluckern ein. Sein Enkel Joel war am sichtlichsten ergötzt. Strahlend verzückt krümmte er sich, lachte lautlos und krampfhaft und schnippte dazu leis mit den Fingern. Er selber war zwar nicht fruchtbar an witzigen Erfindungen, aber er war stets liebend begeistert über eine gute Bemerkung oder eine spaßige Geschichte, besonders aber, wenn seine Mutter oder einer seiner Freunde so etwas sagte oder jemanden aus der Bekanntschaft zitierte. Nun bog er sich vor Lachen, und als er sich ein wenig von dem konvulsivischen, lautlosen Lachanfall erholt hatte, sagte er leise und langsam:

»Einfach tollschön! ... O Gott, wie geistreich sie ist!« meinte er bewundernd. »Eine ganz großartige Bemerkung.«

Die Erwähnung der Mrs. Alice Longworth – der Tochter des Theodore Roosevelt – hatte den alten Mr. Joel auf die Roosevelts gebracht. Er erkundigte sich nun nach einem anderen Träger dieses Namens, gleichfalls einem Politiker, dem Mr. Franklin D. Roosevelt.

»Nebenbei, Ida«, grollte der Alte und zupfte sich an seinem kurzen grauen Schnurrbart. »Wie geht's denn dem Frank? Bist Du in letzter Zeit mal drüben bei ihnen gewesen?«

»Ja, Vater«, antwortete Mrs. Pierce, »wir sind am Dienstag 'nübergefahren und haben den Abend mit ihnen verbracht ... Er sieht sehr zufriedenstellend aus«, fügte sie, die Frage ihres Vaters beantwortend, hinzu, »aber freilich«, erklärte sie entschieden, »besser wird das nie werden, – das sagen alle –«

»Hm«, machte der Alte Mr. Joel und zupfte sich wieder den kurzen Schnurrbart. Dann frug er weiter: »Hat er an der Wahlkampagne diesen Sommer teilgenommen?«

»Sehr wenig nur«, antwortete die Tochter, »aber der Mann hat ja in diesen letzten Jahren Höllenqual und Todespein ausgestanden. Es geht ihm zwar jetzt ein bißchen besser, aber –« Ihre Stimme hob sich wieder zum Ton dumpf verkündender Endgültigkeit, »– den Gebrauch der Beine wird er nie wieder erlangen –« Sie schüttelte den Kopf. »Der Mann wird lebenslänglich ein Krüppel bleiben«, erklärte sie entschieden. »Daran ist nichts zu ändern, und er selber hat sich damit abgefunden.«

»Hm«, grollte der Alte, den kurzen Schnurrbart zupfend. »Schade! Netter Kerl, der Frank! Hab' ihn immer gern gemocht! ... Vielleicht 'n bißchen oberflächlich, mag sein – wie die ganze Familie ... nehmen alles 'n bißchen zu leicht, sind 'n bißchen zu umgängig ... aber große Fähigkeit! ... Schade um den Frank!«

»Ja, nicht wahr?« wisperte Joel mitfühlend. »Und, Großvater!« fuhr er eifrig begeistert fort, »Frank hat einen Scharm, einfach stupend! ... Mir ist dergleichen nie begegnet! ... Er braucht Dich bloß anzureden, und schon bist Du auf Lebzeiten sein Freund. Und dann – er weiß so viel, er hat so interessante Sachen zu sagen, wirklich, seine Kenntnisse sind einfach stupend!«

»Hm, ja«, pflichtete Mr. Joel mit einem bejahenden Grollen bei und zupfte sich bedächtig den Graubart. »– aber doch 'n bißchen auf den Effekt aus ... die ganze Sippe ist so ... gehn auf drei Wochen auf Teufel-komm-raus an alles und jedes ran, und dann vergessen sie's ... Immerhin«, murmelte er, »... 'n sehr begabter Kerl – sehr begabt ... Schade, daß ihm das gerade jetzt zu Beginn seiner Karriere passieren mußte.«

»Und doch, Vater«, warf Mrs. Pierce ein, »glaubst Du nicht auch, daß er's ungefähr so weit gebracht hatte, wie er's hätte bringen können, als dieses Leiden ihn traf? ... Ich bin natürlich durchaus der Meinung, daß er sehr reizend ist, – das muß jeder zugeben – ich persönlich habe nie einen Mann getroffen, der mehr angebornen Scharm gehabt hätte – aber selbst zugestanden, er wäre die reizvollste Persönlichkeit von der Welt, – glaubst Du nicht trotzdem an eine etwas schwache Seite in seinem Charakter? Oder glaubst Du, er hätte den Willen und das Zeug gehabt, es sehr viel weiterzubringen, wenn diese Krankheit ihn nicht gezwungen hätte, sich zurückzuziehen?«

»Hm«, grollte Mr. Joel, seinen kurzgestutzten Graubart zupfend. »... Das ist schwer zu sagen ... Sehr schwer zu sagen, was aus ihm geworden wäre ... 'n bißchen weichlich vielleicht, aber große Fähigkeit ... großer persönlicher Scharm ... und ein großer Opportunist wie alle aus der Sippe ... Sie haben diesen instinktiven Genius dafür, zuzugreifen, wenn der rechte Augenblick kommt ... Bei einem solchen Mann kann man nie wissen, wie weit er's bringt –«

»Das wohl«, sagte Mrs. Pierce verbindlich und fuhr nachdrücklich überzeugt fort: »– er hätte weitergemacht, aber ich glaube, daß er es nicht weitergebracht hätte, – ich glaube, daß er alles erreicht hatte, was ihm möglich war, – ich glaube, er besaß nie die Zähigkeit, die vielen Püffe auszuhalten und sich allem zum Trotz durchzusetzen.«

»Hm«, grollte Mr. Joel, »vielleicht hast Du recht ... Aber deswegen ist's doch jammerschade um ihn ... Hab' den Frank immer gern gemocht ... Sehr fähiger Kerl – –«

 

Eine Zeitlang nun bewegte sich die Unterhaltung in diesen Bahnen, und die Gäste sprachen von Politik, von Botschafterposten, und die Namen der Großen und Berühmten dieser Erde fielen mit der beiläufigen Vertrautheit, mit der man lebenslängliche Freunde, mit denen man vorigen Dienstag zur Nacht gespeist hat, erwähnt. Was Eugen hier geboten wurde, war die ›Innenansicht‹ jener großen Welt des Reichtums, der Berühmtheit und der Mode, von der er seiner Lebtage gehört und gelesen hatte, die jedoch in seiner Vorstellung gewissermaßen ein in Himmelsgewölke gehüllter, dem zudringlichen Blick gewöhnlicher Sterblicher entzogner Olympos gewesen war. Und nun saßen diese Leute da und sprachen jene großen Namen aus, unterhielten sich über diese illustren Persönlichkeiten, über deren Gewohnheiten, deren Gesundheitszustand und deren Heim- und Familienleben ganz genauso, wie man von seinen Freunden spricht, ganz genauso, wie man sich auf der ganzen Welt über Freunde, Bekannte und Vertraute unterhält, und ihm, Eugen, war nun zumute, als lebe er in einem Traum und höre unglaubliche Dinge – Dinge, die, weil sie so ungemein beiläufig erwähnt wurden, ihn unglaublich dünkten – und wäre Zeuge eines ganz unwahrscheinlichen Ereignisses.

So kam das Ende der Mahlzeit näher. Mrs. Pierce und ihre Stiefmutter vermieden weitere Reibungen, und nur ein einziges Mal noch war der Ausbruch der Feindseligkeiten drohend nah. Mrs. Pierce sah nämlich einem der hinausgehenden Dienstmädchen nach – einer robusten, grobschlächtigen, ländlichen Person in den mittleren Jahren –, und als Mrs. Pierce dies tat, fiel ihrem beobachtenden Auge etwas auf. An der oberen Nackenpartie und am Schädelansatz dieses Dienstmädchens war die Haut unnatürlich weiß, das Haar war geschnitten, »bobbed«, wie man damals sagte, nach jener Mode, die sich später als »Bubikopf« weit und breit durchsetzte. Mrs. Pierce blickte ihre Stiefmutter an und erkundigte sich:

»Was hat denn das Dienstmädchen da mit seinem Haar gemacht? Was ist denn da los?«

»Ei!« rief Mrs. Joel begierig und begann, die Wangengrübchen zu zeigen und mit hochbefriedigter Miene ihre Gäste entzückt anzustrahlen. »Ich hab ihr das Haar schneiden lassen.«

» Du hast das angeordnet!« staunte Mrs. Pierce.

»Ei ja, meine Liebe«, zirpte Mrs. Joel beflissen. »Vorige Woche hab ich alle meine Mädchen ins Dorf zum Friseur geschickt mit dem Auftrag, sich das Haar schneiden zu lassen.«

»Was!?« rief Mrs. Pierce im volltönigsten, höchsten Erstaunen. Sie ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen und entgegnete im Nu den starren Blick ihres Sohns mit einem Blick, der es einfach nicht glauben konnte. »Du willst also sagen, Du hast Deine Mädchen wie eine Herde zusammengetrieben und ihnen klipp-klapp mit der Schere das Haar heruntergeputzt?«

»Ei freilich, meine Liebe!« erklärte Mrs. Joel eifrig in einem erregten, etwas gereizten Ton »oder vielmehr, ich hab' ihnen gesagt, sie hätten es zu tun, ich verlangte es.«

» Du verlangtest es, hast Du gesagt?« fragte Mrs. Pierce im vollen Ton desselben erstaunten Nichtglaubenkönnens.

»Ei gewiß!« beeilte sich Mrs. Joel eifrig erregt zu versichern und zog die ganze Tafelrunde mit einem strahlenden Blick in ihre Eröffnungen ein. »Wie Du weißt, habe ich im Frühling das ganze Haus umgekrempelt, ich hab mir einen Innendekorateur kommen lassen, und sagte ihm, was für Effekte ich hier wünsche«, erklärte sie begeistert. »Ich sagte ihm, in erster Linie kommt es mir auf Helle und Kühle an, die Räume müssen leicht und licht und kühl wirken«, erklärte sie triumphierend. »Also, alles müsse in hellen, kühlen Tönen gehalten werden, damit wir diesen Effekt kriegen ... Nun ja, und letzte Woche dann«, fuhr sie beglückt fort, »da hatten wir doch ein paar Tage hintereinander dieses furchtbar heiße Wetter, und da fiel mir plötzlich auf, wie erhitzt und unangenehm die Mädchen alle aussahen mit ihrem langen Haar, und wie deplaciert sie hier wirkten«, erklärte sie triumphierend. »In diesen hell und kühl gehaltnen Räumen sahen sie aus ... Huh!« Sie schüttelte sich leicht angewidert in einem kleinen Schauder des Unbehagens. »Wenn ich sie bloß ansah, war's mir unangenehm. Ich konnte es nicht ertragen, sie so in diesem Haus herumlaufen zu sehn. Und ganz auf einmal fiel mir bei, wie nett es wäre, – – wie zuträglich es der allgemeinen Atmosphäre hier wäre, wenn ich ihnen das Haar abschneiden ließe ... Somit«, berichtete sie schlüssig und strahlte jedermann mit grübchentiefer Befriedigung an, »war ich denn darauf gekommen. An einem Vormittag letzter Woche – Freitag war's, glaube ich, – rief ich die Mädchen alle zusammen, sagte ihnen, was ich verlange, und schickte sie darauf ins Dorf zum Haarschneiden.«

Nun entstand eine Pause, während der Mrs. Joel ihre Gäste mit einem grübchengeschmückten Lächeln triumphanter Endgültigkeit anstrahlte, einem Lächeln, das zu sagen schien: »Schaut her! Betrachtet mein Werk und bewundert es! Nun wißt Ihr, wie ich es vollbrachte.« In ihrer offensichtlichen Befriedigung wurde sie jedoch plötzlich durch Mrs. Pierce gestört, die, nachdem sie ihre Stiefmutter ein Weilchen stummstaunend angestarrt hatte, im Ton des Nichtfürmöglichhaltens dröhnend losbrach:

»Mutter! Weißt Du, so etwas kannst Du doch nicht getan haben!«

»Aber – aber freilich hab' ich es getan, Ida«, erwiderte Mrs. Joel in einem erstaunten, leicht gereizten Ton. »Wenn ich's Dir doch sage! ... Was hast Du denn dagegen einzuwenden? Findest Du nicht, daß die Mädchen so netter aussehen?«

»Ich finde«, sagte Mrs. Pierce langsam nach einem Augenblick bestürzten Nachdenkens, »ich finde, daß das das Widersinnigste – – das Willkürlichste – das – Gott!« rief sie, warf den Kopf zurück und lachte herzhaft und erstaunt ein so schallendes Lachen, daß das ganze Zimmer hallte. »Ich hab von Katharina der Großen, von Marie Antoinette, von den Tagen der Medici gehört, ich hab' von den Dingen, die sie taten, gehört, – – aber ich hätte nie geglaubt, daß ich dergleichen Methoden hier im freien Amerika angewandt erleben würde. – Ei! Hah! Hah! Hah! Hah! Hah!« Sie ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen und wiegte sich geradezu in ihrem schallenden, nichtglaubenkönnenden Gelächter. »Klipp-klapp mit der Schere und auf einen Streich wird den acht Mädchen das Haar weggeputzt, weil – – weil –« sie war so sprachlos, daß ihr die Stimme ausblieb. »–, weil es Dir heiß wurde, sie anzusehen ... weil – weil«, ihre Stimme schnappte über zu einem erstickten Kreischen, und alsbald fuhr sie in einem fast unhörbaren Quietschen fort, »– weil das Haus neu dekoriert worden ist«, schnaufte sie. Sie fand ihre Stimme wieder und rief nun laut, während die Schultern noch bebten und das Gesicht noch vom Lachen gerötet war: »Ei, Mutter! Der König von Siam ist nichts im Vergleich zu Dir! Du hast es fertiggebracht, daß seine absolute Tyrannei einem wie eine freie Demokratie vorkommt – hah! hah! hah! hah! hah! Runter mit dem Haar! Runter mit dem Kopf! Der Anblick schon macht mir so heiß, daß ich schwitze!« Sie lehnte sich wieder zurück und überließ sich einem freien, schallenden, völlig herzhaften Lachen, in das alle Anwesenden, außer Mrs. Joel, einstimmten. Als sich der Lachschwall ein wenig gelegt hatte, rief Mrs. Joel, die vollen weißen Wangen vom unverhohlnen Ärger gerötet, wütend aus:

»Ich stimme nicht mit Dir überein! ... Ich stimme ganz und gar nicht mit Dir überein! ... Und ich muß sagen, Ida, daß es mir sehr dumm von Dir vorkommt, daß Du so einen kindischen Standpunkt einnimmst.«

»Kindisch!« rief Mrs. Pierce herausfordernd. »Du bist's, die kindisch ist! ... Wenn ich meinen Mädchen so etwas zumutete, wenn ich auch nur für eine Sekunde dächte, ich hätte das Recht, mir andern Leuten gegenüber solche Freiheiten 'rauszunehmen, käme ich mir nachher wie eine Närrin vor! ... Ei, Mutter!« rief sie in einem nachdrücklich empörten Ton, »wach auf! ... In was für einer Welt lebst Du denn? ... Was bringt Dich denn auf den Gedanken, Du hättest das Recht, andere Leute zu so etwas zu zwingen, und das all nur, weil das Schicksal Dich so gestellt hat, daß Du Dienstboten halten und ihnen Löhne zahlen kannst! ... Wach auf! Wach auf!« rief sie in einem fast wütend indignierten Ton. »Wir leben nicht mehr in den dunklen Zeitaltern, Mutter ... Die Sklaverei ist abgeschafft! ... Dieses ist das zwanzigste Jahrhundert! ... Ei, es ist ja vernunftwidrig!« rief sie aufgebracht, und zwei Flecken der Zornesröte erschienen auf ihren Wangen. »Die anmaßendste, willkürlichste Zumutung, von der ich meiner Lebtag gehört habe. Einfach widersinnig! Ich kann wirklich nur hoffen, daß es sich nicht herumspricht.«

»Wenn Du Dich so darüber aufregst«, begann Mrs. Joel mit wuterstickter Stimme, aber in diesem Augenblick trat Joel als Helfer und Retter auf und verhütete den häßlichen, offnen, peinlichen Streit zwischen den beiden Frauen, der nun tatsächlich auszubrechen drohte.

»Oh, aber Gro'ma!« wisperte er. »Ich bin sicher, daß die Mädchen gar nichts dagegen haben! ... Und sie sehen mit dem kurzen Haar viel netter und viel kühler aus ... Und ich bin sicher, das wissen und merken sie selbst.«

»Nun wohl«, begann Mrs. Joel, immer noch recht ärgerlich, aber doch etwas beschwichtigt durch die taktvolle Intervention ihres Enkels. »Es freut mich, daß wenigstens noch ein Mensch ein bißchen gesunden Menschenverstand hat.«

So wurde denn der Zwischenfall durch Joels geschwinde Diplomatie schließlich beigelegt, und die Gäste, gesonnen, einer weiteren peinlichen Szene zwischen den beiden Frauen zuvorzukommen, erhoben sich und brachen auf. Der Aufbruch aber ging nicht vonstatten, ohne daß Mrs. Pierce – während sie auf ihren Wagen zuging – noch einmal abschließend in ein schallendes Staunensgelächter ausbrach, ohne daß sie noch einmal abschließend heiter der »neuen Innendekoration« gedachte, und außerdem des Königs von Siam und des modernen Prototyps der Großen Katharina.


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