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XLIII

Wie lange er so dasaß, wußte er nicht, denn die Zeit verging ihm in einem schmierigen, braungrauen Grausen in dem alles sich drehte, zusammentaumelte und verschmolz, und nur dann und wann auf einen Augenblick erschien sie, die Zeit, in seinem Bewußtsein wie ein hartes, buntes Licht, das plötzlich aufgreift, und dann konnte er alles ringsum klar und scharf und genau erkennen und auch die Stimmen seiner Leidensgefährten aus ihren Zellen hören.

Die Zelle, in der er saß, war ein kleines, niedriges Gelaß, nicht ganz drei Meter tief und etwa anderthalb Meter breit. In der äußersten Ecke war eine eiserne Bettstelle, die an der Wand befestigt war und herauf= und heruntergeklappt werden konnte. Es gab keine Matratze auf der Bettstelle. In der Ecke daneben war eine zerbrochene, beschmutzte Abortschüssel ohne Sitz; der Abort war verstopft und übergelaufen, denn die Wasserleitung ging nicht; rings um den Abort auf dem Zementfußboden stand eine stinkende Lache. Die Seitenwände und die Decke waren aus einer schwarz-grauen, harten schieferartigen Masse; sie waren von früheren Insassen der Zelle mit unzüchtigen Worten und Bildern bekritzelt worden. Durch diese Seitenwände war der jeweilige Gefangene von seinen Nachbarn getrennt, und so konnte auch Eugen nun Emmet Blake, der in der Zelle neben ihm saß, nicht sehen, noch auch Robert Weaver, der in der übernächsten, der neben Blakes Zelle gelegenen saß. Aber als allmählich nun sein Bewußtsein die Oberhand über den Rausch und die Betäubung gewann, konnte er die Stimmen dieser beiden vernehmen, und so begann er, ihnen zuzuhören.

Beide waren noch sehr betrunken. Eine ganze Zeit lang klagten sie einer dem andern ständig das traurige, betrunkene Lied von ihrem Mißgeschick.

»Ja«, sagte Robert mit einem Seufzer, »das ist gewiß eine höllische Art, einen Mann so zu behandeln, der gerade vor sechs Wochen seine Zulassung als Rechtsanwalt gekriegt hat! Eine höllische Art!«

Darauf ließ sich dann Blake vernehmen:

»Ich will Dir sagen, was wirklich höllisch ist! Höllisch ist's, George Blakes Neffen auf diese Art zu behandeln, ja, auf diese höllische Art. Wenn mein Onkel es wüßte, dann würde er herkommen und dieses verdammte, kleine Gefängnis einreißen! Die ganze Stadt würde er zugrunde richten in seinem Zorn! Ei ja!!« schrie er in betrunkener Prahlsucht, »er würde das ganze Nest mal zum Chemischreinigen schicken! Verdammt! In den Vereinigten Staaten allein gibt es 70 000 Blake-Vertreter, und wenn die wüßten, daß ich hier säße, dann würde sich jeder schleunigst auf die Socken machen, um in fünf Minuten hier zu sein und uns 'rauszuholen!«

»Herrgott! Herrgott!« sprach nun Robert wieder in einem trauervoll brütenden Singsangton und so, als hätte er Blakes Worte überhaupt nicht gehört. »Wer hätte es gedacht! Ein junger Rechtsanwalt, seit sechs Wochen zu den Gerichten zugelassen, und hier sitzt er hinter Schloß und Riegel! Verdammteste Sache, die mir je zu Ohr gekommen ist!«

»Ja, ja!« erklärte Blake alsdann, aber durchaus nicht in einem entgegnenden Eingehen auf Robert, sondern aus der gleichen ichsüchtigen Bezogenheit das harte, unwürdige Los beklagend, das ihn getroffen hatte: »Wenn Du es irgendeinem Blake-Vertreter in diesen Staaten erzähltest, daß George Blakes Neffe hier in Blackstone im Gefängnis sitzt, dann würde er's Dir einfach nicht glauben. Na, mein Onkel George wird diese Sache vor den höchsten Staatsgerichtshof bringen, wenn er davon erfährt. Das ist sicher eine höllische Sache, wenn dem Neffen von George Blake so etwas geschieht.«

»Ja«, erwiderte Robert, »eine höllische Sache, ganz recht, nachdem ich gerade erst seit sechs Wochen meine Zulassung als Rechtsanwalt gekriegt habe. Ooh! Es ist ja grauenerregend!« beteuerte er feierlichen Ernstes.

»Robert!« schrie Blake plötzlich. Eugen konnte hören, daß Blake aufgesprungen war. »Robert!« schrie Blake. »Glaubst Du, diese verdammten Polizisten hier in Blackstone wissen, wer ich bin? Glaubst Du, sie ahnen, daß sie George Blakes Neffen hierhaben?« Er rüttelte heftig an der Tür seiner Zelle und gellte: »He-eh! Ich bin George Blakes Neffe! Wissen Sie, daß Sie George Blakes Neffen hierhaben? Kommen Sie! Lassen Sie mich 'raus!« rief er. Aber niemand antwortete.

Die beiden schwiegen eine Weile, und die trauervolle, betrunkenbrütende Zeit zog ihre Kreise um sie. Dann sagte Blake:

»Du, Robert –«

»Was willst Du denn?« fragte dieser wehmütig.

»Wieviel Uhr ist's denn?«

»Zum Teufel, wie soll ich das wissen?« begehrte Robert trotzig auf. »Du weißt doch, sie haben mir die Uhr abgenommen.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann fing Robert an:

»Emmet!?«

»Was denn?«

»Haben sie Dir auch die Uhr abgenommen?«

»Ja!!« schrie Blake ärgerlich-erregt heraus. »Eine Uhr mit einem Platingehäus, achtzehn Karat, zweiunddreißig Steine, mein Onkel George hat sie mir in der Schweiz gekauft, sie ist zweihundertundfünfundzwanzig Dollars wert und ich möchte den Leuten hier raten, daß sie sie mir wiedergeben.« Er rüttelte an der Tür und schrie: »Haben Sie's gehört?! Ich will meine Uhr zurückhaben! ... Wenn mir diese Hunde meine Uhr stehlen, dann bringt sie mein Onkel alle ins Gefängnis.« Er schrie abermals: »Ich will meine Uhr zurückhaben!«

Niemand antwortete, sie schwiegen wieder einige Zeit, und dann kam Roberts Stimme, heiser und voll nachdenklicher Wehmut.

»Eugen?!«

»Ja.«

»Bist Du da?«

»Wo zum Teufel glaubst Du, daß ich bin?« sagte Eugen bitter. »Siehst Du vielleicht Löcher hier in der Mauer, durch die ich 'rauskrabbeln könnte?«

Robert lachte sein heiseres Falsettlachen, und dann erklärte er im Ton einer träumerischen Verwunderung:

»Herrgott! Herrgott! Wer hätte das gedacht! Wer hätte das gedacht, daß der Eugen und ich zusammen ins Gefängnis kämen! In Blackstone in Süd-Karolina! Ich gerade von der Yale-Universität weg und seit sechs Wochen als Anwalt zu den Gerichten zugelassen, und Du – ei Junge, Junge!« Er lachte plötzlich sein störendes Falsettlachen und fuhr dann fort: »– – gerade drei Jahre in Harvard gewesen, und da sitzt Du schon im Gefängnis. Herrgott! Herrgott! Was willst Du denn Deiner Mutter erzählen, wenn Du sie wiedersiehst? Und was wird sie dazu sagen, daß Du eingesperrt warst?«

»Ah, ich weiß nicht«, schrie Eugen. »Halt's Maul!«

Robert lachte wieder sein störendes Falsettlachen und sprach:

»Junge! Mir wär's nicht grad lieb, wenn ich vor sie hintreten müßte. Ich bin froh, daß ich nicht in Deinen Schuhen stecke.«

»Was? Nicht in meinen Schuhen?!« schrie Eugen aufgebracht. »O Du verdammter Narr, natürlich steckst Du in meinen Schuhen!«

Dann wurde es wieder still; die graue Zeit tickte verdrossen um sie herum mit dem langsamen, unerbittlichen Laut unendlicher Minuten.

Dann, wie aus betrunkner Verdumpfung erwacht, sprach Blake und sagte:

»Gant?«

»Was ist?«

»Wieviel Uhr ist's denn?«

»Weiß nicht. Mir ist die Uhr abgenommen worden.«

Und die graue Zeit tickte ringsum, bis sich schließlich Eugen aus seiner Niedergeschlagenheit aufraffte und fragte:

»Robert! Hast Du den Nigger gesehen?«

»Was für'n Nigger?« erwiderte Robert dumm.

»Ei, den Nigger, mit dem sie mich zuerst zusammen einsperren wollten.«

»Ich hab' keinen Nigger gesehn«, behauptete Robert im betrunknen Ton eines milden, melancholischen Protests. »Wann war denn das?«

»Ei Robert!« rief Eugen erregt und verspürte plötzlich ein gräßliches Angstgefühl. »Du warst doch die ganze Zeit hier? Hast Du denn nichts gehört?«

»Gehört hab' ich aber nichts, nein, nein, Eugen«, erklärte Robert dumpfüberrascht.

»Aber mein Gott! Robert! Du mußt es doch gehört haben!« schrie Eugen, fast zur Raserei gebracht. »Wir haben uns doch zehn Minuten hier herumgeschlagen!« Ihm schien nämlich, es hätte mindestens so lange gedauert.

»Wer denn?« erkundigte sich Robert dumpf und dumm.

»Ei ich und diese beiden Schutzleute!« rief Eugen. »Guter Gott! Robert, hast Du denn nichts gesehn, nichts gehört? Mit dem Kopf gestoßen wie ein Bock! Und getreten! Und auf den Kopf geschlagen worden! Mir die Hände beinah verrenkt!« schrie er nun, in seiner Erregung nicht achtend, daß seine Worte keinen zusammenhängenden Sinn ergaben.

»Wer tat denn das?« forschte Robert verständnislos.

»Ei diese beiden Schutzmannsbullen! Ei Robert, Du wirst doch nicht wirklich behaupten wollen, Du hättest nichts gehört! Es war ja grad vor Deiner Nase, daß wir uns herumgeschlagen haben. Und geflucht hab' ich doch auch.«

»Also ich hab' nichts gehört«, behauptete Robert stumpfsinnig verwirrt. »Du hast doch grad was von 'nem Nigger gesagt, nicht?«

»Ei Robert, das ist's doch, was ich Dir die ganze Zeit erzähle. Sie hatten ihn hier drin – – –«

»Wo drin?«

»Ei hier in der Zelle! Und sie wollten mich mit ihm zusammen hier einsperren! Deswegen war doch der ganze Krawall!«

»Na, na, na, Eugen!« meinte Robert. In seinem unbehaglichen, trübseligen Lachen war ein gutmütiger Hohn, der Eugen rasend machte. »Also, ich hab' keinen Nigger gesehn. Du vielleicht, Emmet? Ich war die ganze Zeit hier und keinen Krawall gehört ... Du mußt geträumt haben, Eugen.« Roberts überzeugter Ton war unerträglich, und der kalte Terror fuhr Eugen wie ein Messer ins Herz. Und abermals lachte Robert heiser, lachte er sein störendes, höhnisches Lachen und sagte: »Herrgott! Herrgott! Da sitzt er nun und sieht Nigger und Schutzleute und wer weiß was noch ... Junge, Junge, da stimmt was nicht, wenn einer im Rausch Gespenster sieht!«

»Gottverdammt! Robert!« kreischte Eugen rasend auf. »Er war da! Da in der Zelle ist er gestanden! Ich weiß genau, wovon ich rede, Robert! Hier in dieser Zelle ist der Nigger gestanden, als ich 'reinkam!«

»Ei zum Teufel, Eugen!« meinte Robert begütigend, aber noch immer lachend. »Freilich hast Du den Nigger und die Schutzleute gesehen, aber sie waren nicht wirklich da! Du hast's Dir nur eingebildet. Ich nehm' an, Du hast 'ne kleine Ohnmacht gehabt, und da hast Du dann das alles geträumt.«

»Geträumt! Geträumt!« brüllte Eugen. »Gottverdammtnochmal, Robert, glaubst Du wirklich, ich merke nicht, ob ich träume? Ich beweis Dir, daß es kein Traum war! Wir brauchen ja nur den Blake zu fragen ... Blake! Blake!« rief er. »Blake! Blake!«

Die graue Zeit, leis wie der Sand im Glase läuft, strich dahin.

Blake gab keine Antwort. Er hatte die Unterhaltung der beiden überhaupt nicht gehört. Und nun lauschten sie und hörten, wie Blake leise, langsam, mörderisch vor sich hin sprach:

»Ja, ja«, knirschte Blake betrunken-ingrimmig vor sich hin. »Töten werd' ich ihn ... ja, ja, töten ... So wahr mir Gott helfe, töten werd' ich ihn, über'n Haufen schießen, so wahr ich Emmet Blake heiße ... wenn ich heimkomm', werd' ich meinen Revolver holen, und im Augenblick, wenn ich ihn dann sehe ... Peng! Peng! Peng! ... knall ich ihn übern Haufen, so wahr mir Gott helfe, und wenn's das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tu! ... ja, ja«, wiederholte er stumpfsinnig vor sich hin. »Über'n Haufen schießen werd' ich ihn, und wenn's das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tu!«

Blake schwieg eine Weile, dann fuhr er wieder im selben Ton, mit derselben brütend-betrunkenen Umweltvergessenheit fort: »Und Dich! Dich! Dich schieß ich auch tot! Du gottverdammte Hure Du, Dich schieß ich auch tot! Ich schieß Euch zwei zusammen über'n Haufen ... So eine Hündin! So eine Hündin! So eine schmutzige Hündin!« Plötzlich sprang Blake auf und schrie laut: »Ich weiß, wo Du in dieser Minute bist! Ich weiß! Ich weiß! Bei ihm bist Du! Schläfst bei ihm heut nacht! Du – – dreckige, gemeine – –«

»Emmet, verdammter Narr! Halt's Maul!« rief Robert empört dazwischen und lachte heiser auf. »Soll denn jeder Mensch in dieser verdammten Knallbude wissen, was Du redest? Morgen tut Dir dann leid, was Du gesagt hast. Ich weiß es gewiß, Emmet, daß Dir's leid tun wird. Also hör auf!« schloß Robert mahnend und lachte betreten.

Blake weinte und stöhnte nun entsetzlich in seiner Zelle, und Eugen konnte hören, wie jener mit seinen dünnen Fäusten auf die harte Zwischenwand trommelte und verzweifelt aufstöhnte:

»Die Hure! Die Dreckhure! Ich weiß ja, daß sie bloß auf meinen Tod wartet! Ich weiß es, ich weiß! ... Gelt, das ist's, worauf Du wartest, Du Hündin! Das würde Dir so passen, nicht? ... Aber da hab' ich Dich enttäuscht, was?« keuchte er und eine Note raschsüchtig-triumphierender Wildheit kam in seine Stimme. »Gelt, darauf hast Du die letzten zwei Jahre gewartet, und jedesmal bist Du in Deinen Hoffnungen betrogen worden, was? Jedesmal hab' ich Dich enttäuscht, nicht?« Er stöhnte und rang nach Atem. »Und ich werde Dich noch lange enttäuschen, Du Hure, Du Dreckhure Du!«

Und Eugen und Robert saßen ein jeder in seiner Zelle, und sie schwiegen und hörten trostlosen Herzens, wie da ein gequälter, verzweifelter Mensch sich in seiner Schande und seiner nackten Herzensnot bloßstellte. Und bald hörten sie nichts mehr, als Blakes leises Geseufze und das langsame, graue Schwärmen und Schwinden der Zeit ringsum. Das Seufzen wurde ruhiger, sie hörten, daß Blakes Atem in matten Stößen ging wie der Atem eines erschöpften Wettläufers. Und dann hörten sie, daß Blake zu seiner Bettstelle ging und sich niedersetzte. Und schließlich war da nichts mehr außer der Zeit und dem Schweigen ringsum.

Als Blake später wieder sprach, war seine Stimme ganz ruhig. Sie klang wie die Stimme eines Toten und so merkwürdig nüchtern, als hätte ihn die Erleichterung des Herzens auch von der Schwere des Rauschs entbunden.

»Gant – –?« sagte er in diesem stillen Ton, der eigentümlich klar durch die graue Stille drang.

»Ja«, sagte Eugen.

»Ich hab' Sie heute erst richtig kennengelernt«, sagte Blake, »und ich möchte Sie wissen lassen, daß ich nichts gegen Sie habe.«

»Aber wieso denn, Emmet«, wandte hier Robert ein. »Der Eugen hat Dir doch im Leben nichts getan! Wieso also solltest Du etwas gegen ihn haben?«

»Wart mal ab, Robert«, beschied ihn Blake kurz. »Eugen!« sagte er dann weinerlich, »wissen Sie, ich steh' mit jedermann gut und hab' weit und breit keinen Feind ... Aber ...«, erklärte er, und nun wurde seine Stimme düster, »es gibt einen Menschen auf der Welt, den ich hasse. Ich hasse ihn bis in die Hoden, hasse ihn, weil er lebt, hasse die Luft, die er atmet. Gott soll ihn verdammen!« fauchte er und schwieg dann eine Weile still. »Eugen«, begann er abermals; er sprach halblaut, und nun war seine Stimme wieder betrunken-brütend und voller Anspielungen. »Sie wissen doch, wen ich mit dem Mann da meine, nicht wahr?«

Eugen gab keine Antwort, und Blake wiederholte eindringlich und herausfordernd:

»Nicht wahr, Sie wissen's?«

Und nun sagte Eugen: »Ja.«

»Das ist verdammt recht von Ihnen, daß Sie's wissen«, erklärte Blake grüblerisch. »Jedermann weiß ja, wen ich meine. Er ist ein Vetter von Ihnen.« Und gleich darauf begann er wieder vor sich hin zu murmeln: »Ich werd' ihn umbringen, so wahr mir Gott helfe, töten werde ich ihn!« Und plötzlich sprang er auf und schrie gellend: »Totschießen werd' ich Dich! Totschießen! ... Du Hund! Ich schieß Dich tot und sie dazu! Ich befördere Euch beide in die Hölle, wo Ihr hingehört, und wenn's das Letzte ist, was ich auf dieser Welt tu!« Und nun stöhnte er furchtbar, fluchte wüst und trommelte mit den Fäusten wider die Wand, bis er endlich erschöpft war, zu seiner Bettstatt zurückging und sich niedersetzte, immer noch seine machtlosen Drohungen betrunken vor sich hin murmelnd.

Eugen versuchte nicht, ihm irgend etwas zu sagen. Er wußte nicht, was er hätte sagen können. Sein Vetter Georg Pentland war der Geliebte von Blakes Frau, und die beiden wußten natürlich, daß Blake ein vom Tode Gezeichneter war. Und plötzlich kam es Eugen vor, als wäre etwas Dunkles, grauenhaft Schändliches hinter dieser ganzen Geschichte, etwas, das er nie klar eingesehen habe, etwas Unerträgliches, das drohend über dem Mannesleben hinge: die unannehmbare Möglichkeit, durch einen andern Mann körperlich erniedrigt und entehrt zu werden, und wie ein geprügelter Köter von der eignen Frau oder der Geliebten davonschleichen zu müssen mit einem bleichen Gesicht, auf dem hinter der Maske der Männlichkeit die Miene des Feiglings erscheint. Leicht ist es wahrlich nicht, sich einen Mann, einen wirklichen Mann so vorzustellen.

 

Auf einmal dann hörten sie Schritte im Gang. Sie waren alle drei so sicher, daß nun ein Bote käme, der ihnen die Befreiung brächte, daß sie sich erhoben und an die Gittertüren ihrer Zellen stellten in der Erwartung, sofort wieder hinaus in die Luft der Freiheit gehn zu können. Zu ihrer Überraschung erschien Kitchin. Sie hatten ihn vollkommen vergessen, und als er nun dastand, einen fröhlichen Bocksprung machte und sie vergnüglich angrinste, guckten sie ihn an, wie man jemanden, den man vor Jahren gekannt und dann völlig vergessen hat, bei der Wiederbegegnung anguckt.

»Wo – – –?« begann Robert in einem heiseren, anklagenden, dumpferstaunten Ton. »Wo bist Du denn die ganze Zeit gewesen?«

»Draußen in Deinem Wagen gesessen«, erklärte Kitchin munter.

»Draußen!« rief Robert grollend und verwundert. »Dann warst Du nicht eingesperrt?«

»Zum Teufel, nein!« sagte Kitchin und zuckte vor Schadenfreude tanzlustig mit den Gliedern. »Mich haben sie überhaupt nicht angerührt! Und ich hab' genauso viel getrunken wie ihr! Ich bin den ganzen Nachmittag draußen gesessen und hab' Zeitung gelesen. Ich vermute, sie hielten mich für den einzig Nüchternen«, erklärte er bescheiden. Und dies scheinbar war der Grund dafür, daß er so erstaunlicherweise auf freiem Fuße war, – dies und freilich noch ein andrer Grund, der etwas mit Käuflichkeit zu tun hatte, und der nun alsbald offenbar werden sollte.

»Was stellen sich denn die Leute hier vor? Sperren uns ein, während Du draußen sitzt und Zeitung liest, was? Verdammteste Sache, die mir je zu Ohr gekommen ist!« bellte Robert empört. »Kitchin!« schnauzte er, »Du gehst sofort hin und sagst den Leuten, daß wir hier 'raus wollen!«

»Hab' ich ihnen doch gesagt!« erklärte Kitchin tugendhaft. »Hab' ich ihnen doch schon den ganzen Nachmittag gesagt.«

»Und was sagen sie?« heischte Robert ungeduldig.

»Ich hab' 'ne Neuigkeit für Euch«, erklärte Kitchin und schüttelte schadenfroh bedauernd den Kopf. »Leider nichts sehr Angenehmes. Sagt mal, wieviel Geld habt Ihr dabei?«

»Geld!« rief Robert erstaunt, so als wäre ihm die Bräuchlichkeit dieser Kommodität nie beigefallen. »Was hat denn Geld damit zu tun? Wir wollen hier 'raus!«

»Weiß ich«, sagte Kitchin kühl. »Aber Ihr kommt eben nicht 'raus, wenn Ihr nicht Geld genug habt, um die Buße zu zahlen.«

»Buße – –?« wiederholte Robert verständnislos.

»Nun ja, sie nennen's Geldbuße. Und ob es sich nun um eine polizeiliche Ordnungsstrafe oder um Schmiergelder oder um zum Teufel sonst was handelt, das ist doch ganz schnuppe. Berappen müßt Ihr, wenn Ihr 'raus wollt.«

»Wieviel denn?« erkundigte sich Robert. »Wieviel wollen sie?«

»Also«, fragte Kitchin leis und feierlich ernst. »Habt Ihr dreiundsiebzig Dollars?«

»Dreiundsiebzig Dollars!« schrie Robert. »Mensch, wovon redest Du denn?!«

»Na, schrei mich doch nicht an. Ich kann's doch nicht ändern, ich bin doch nicht Derjenige-Welcher!« sagte Kitchin. »Jedenfalls, ehe Ihr hier 'rauskommt, müßt Ihr so viel hinlegen.«

»Dreiundsiebzig Dollars!« schrie Robert. »Dreiundsiebzig Dollars, wofür denn?!«

»Also, rechne mal nach, Robert«, erläuterte Kitchin geduldig. »Du mußt fünfzig Dollars Buße zahlen und einen Dollar für die Erledigung, und zwar deshalb, weil Du der Fahrer warst. Und Emmet und Eugen müssen je zehn Dollars Buße und einen Dollar für die Erledigung zahlen. Das macht nochmals zweiundzwanzig Dollars. Und einundfünfzig und zweiundzwanzig machen dreiundsiebenzig, nicht wahr?«

»Diese bestechlichen Sauhunde!« rief nun Blake. »Erst haben sie gesagt, sie behielten uns hier, damit uns kein Unfall zustößt, sonst war alles in Ordnung! Na, schon recht, Ihr Bastarde! Ihr Schieberbande!« Er brüllte die Beschimpfungen so laut er konnte heraus und rüttelte wütend an der Gittertür. »Wartet nur, wenn ich 'rauskomm! Bestechliches Pack! Wartet nur, wenn ich 'rauskomm! George Blake wird's Euch zeigen! Auf diese Leistung werdet Ihr Euch nichts einbilden!«

Aber niemand antwortete, obschon Blake und Robert sich nun um die Wette in den wüstesten Beleidigungen und Flüchen ergingen. Kitchin wartete derweil geduldig vor den Zellen, bis sich der Aufruhr ein wenig gelegt hatte. Dann schlug er vor, alles Geld zusammenzulegen, um zu sehen, ob es lange. Aber der Barbestand belief sich nur auf insgesamt vierzig-und-ein-paar Dollars, die zum größten Teil von Blake und Robert eingeschossen wurden. Eugen konnte nicht ganz drei Dollars beitragen, denn er hatte nicht mehr.

Nachdem sich somit herausgestellt hatte, daß die Gesamtbarschaft nicht langte, begann der noch immer wütend geärgerte Blake laut und betrunken von seinem berühmten Onkel zu prahlen. Er schrieb einen Scheck und wies Kitchin an, damit zum Vertreter der Automobilfirma seines Onkels zu gehn und dort das Geld zu holen:

»Jeder Blake-Vertreter im ganzen Land gibt Bargeld auf einen Scheck von mir! Jederzeit bis zu fünfzigtausend Dollars!« schrie er großzügig, so, als dächte er, mit einer so üppigen Zahl der etwa lauschenden Polizei einen Schrecken einzujagen. »Du brauchst bloß in irgendeine Blake-Vertretung 'neinzugehn und zu sagen: ›Der Neffe von George Blake braucht Geld‹, und auf der Stelle geben Dir die Leute jeden Cent, den sie im Haus haben. Sag, ich brauchte zehntausend«, erklärte er, seine Ansprüche etwas herunterschraubend, »und in fünf Minuten liegt das Geld auf dem Tisch des Hauses.«

»Hör mal, Emmet«, sagte Kitchin ruhig, und ein Anflug von Spott erschien auf seinem dunklen, schönen, ziemlich schlauen Gesicht. »Wir brauchen doch keine fünfzigtausend. Wir wollen ja nicht diesen ganzen Kerker kaufen. Ich dächte«, meinte er ironisch, »wir brauchen kaum mehr als dreißig oder vierzig oder sagen wir fünfzig Dollars, damit wir hier berappen und uns dann schleunigst aus dieser Stadt verziehen können.«

»Ja!« bestätigte Robert durch erregten Zwischenruf. »Vollkommen richtig! Mehr brauchen wir nicht!«

»Recht so! Recht so! Also geh zum Blake-Vertreter! Wie ich Dir sage, er gibt Dir alles, was Du brauchst! Worauf wartest Du denn noch?« fragte er zornig. »Geh doch! Geh!«

»Hör mal, Emmet«, sagte Kitchin vernünftig-ruhig in seiner tiefen, leisen Stimme und sah den Scheck an, den ihm Blake eingehändigt hatte. »Du hast mir da einen Scheck auf fünfhundert gegeben. Wär's nicht besser, Du schriebst mir einen andern aus auf fünfzig? Du weißt doch, Emmet, wir brauchen keine fünfhundert. Und außerdem«, flocht er taktvoll ein, »es mag doch sein, daß der Mann nicht grad so viel Bargeld hat. Wär's also nicht klüger, wenn Du nicht mehr verlangtest, als wir tatsächlich benötigten?«

»Der Mann hat das Geld! Bestimmt! Er hat es zu haben!« erklärte Blake mit dogmatisch-verständnislosem Hochmut. »Sag, Du kämst von mir, und da rückt er auf der Stelle mit dem Geld 'raus.«

Kitchin antwortete ihm nicht. Er steckte den Scheck ein, wandte sich an Eugen und fragte:

»Sagten Sie nicht, Sie wollten Ihren Bruder hier in einem Hotel treffen?«

»Ja, er wollte mich um vier am Omnibus abholen.«

»In welchem Hotel?«

»Im Blackstone-Hotel! Hören Sie, Kitchin!« Eugen, dem der kalte Schreck ins Herz gefahren war, griff durchs Gitter und packte Kitchin am Arm. »Um Himmels willen, zerren Sie nicht meinen Bruder in diese Sache 'rein!« flüsterte er. »Hören Sie, Kitchin«, bat er, »um Gottes willen, wenn Sie das Geld von dem Blake-Vertreter kriegen können, dann tun Sie's bitte. Es ist doch sinnlos, meinen Bruder hier hereinzuzerren, wenn die Sache unter uns vieren bleiben kann. Ich möchte nicht, daß meine Angehörigen erfahren, daß ich in so eine Lage gekommen bin. Das Geld für meine Buße kann ich auftreiben, ich hab' ein paar Dollars auf der Bank, und werde Blake jeden Cent zurückzahlen, wenn Sie das Geld von dem Blake-Vertreter kriegen. Also, versprechen Sie mir, meinen Bruder nicht 'reinzuziehn?!«

Eugen hielt Kitchins Arm fest umklammert. Kitchin gab ihm das Versprechen, ging schnell weg, und die drei blieben wieder allein in ihren Zellen. Robert, der nun sehr niedergeschlagen war, fluchte mürrisch und bitter auf die Polizei und sein Mißgeschick. Blake, der, wie sich leider herausgestellt hatte, keinen Rückhalt an sich selber besaß, sondern sich einzig darauf stützte, daß er zufällig als Neffe eines reichen und mächtigen Mannes geboren war, ... Blake hörte nicht auf, in lauter, anmaßender Prahlsucht zu erklären: »Jeder Blake-Vertreter im ganzen Lande gibt mir Bargeld für meinen persönlichen Scheck, jederzeit bis zu fünfzigtausend Dollars, ja, jeder, ganz gleichgültig wo. Der Mann ist jetzt schon unterwegs, ... Ihr werdet schon sehn, in fünf Minuten sind wir frei.« Gerade war die prahlsüchtige Versicherung wieder einmal aus seinem Munde gekommen, als sich Schritte im Gang vernehmen ließen. »Na, was hab' ich gesagt?!« schrie Blake. Eugen sprang auf, stürzte an die Tür, klammerte sich an die Eisenstäbe und blickte mit blutunterlaufenen Augen durchs Gitter. Und Kitchin trat ein, gefolgt von einem Schutzmann und von – Eugens Bruder!

Lukas sah Eugen besorgt an und fragte: »Wie bist Du hier 'reingekommen? Was ist denn los?« Er sah Eugens von Faustschlägen verschwollenes Gesicht. »Hast Du Dich verletzt?«

Statt einer Antwort blickte ihn Eugen dumpfverzweifelt an und deutete mit einer Kopfbewegung nach den Zellen seiner beiden Leidensgefährten. Er machte eine Miene, die eindringlich um Schweigen bat. Lukas verstand sofort, was diese Miene bedeuten sollte. Er wandte sich um und rief vergnügt:

»Eine Minute Geduld, Jungens, und dann werden Sie's überstanden haben.«

Dann kam er ganz dicht an die Gittertür zu seinem Bruder heran und fragte leis mit sorgenstrengem Gesicht: »Was war los? Wer hat Dich geschlagen? Einer von diesen Bastarden? Ich muß es wissen!«

Der Schutzmann, der hinter Lukas stand, machte die Augen klein. Eugen sagte verzweifelt:

»Hol uns erst 'raus! Ich sag Dir's nachher!«

Lukas ging mit dem Schutzmann hinaus, um die Geldbußen zu entrichten. Als er draußen war, warf Eugen dem Kitchin bitter vor, daß dieser sein Wort gebrochen habe und zu Lukas gegangen sei. Kitchins Augen wichen dem Blick Eugens aus.

»Was konnte ich sonst tun?« erklärte er mit nervös zuckendem Blick. »Ich ging zu dem Blake-Vertreter hier – –«

»Hast Du das Geld gekriegt?« fragte Blake. »Hat er's Dir gegeben?«

»Gegeben!« sagte Kitchin kurz und hohnlachend. »Keinen verdammten Cent! Er sagte, er hätte nie von Dir gehört!«

Auf einen Augenblick ward es stille.

»Unfaßbar!« flüsterte Blake schließlich dumpf-betreten. »Das ist das erste Mal, daß mir so was vorgekommen ist!« erklärte er kleinlaut.

Lukas erschien mit zwei Schutzleuten, die die Türen aufschlossen und die drei Häftlinge herausließen. Als Eugen aus der Zelle in den offnen Raum trat, empfand er die Befreiung mit fürchterlicher, nie zuvor gekannter, körperlicher Heftigkeit. Er spürte nun, mit welcher stofflich-drückenden Schwere von Mauer und Mörtel die Zelle auf ihm gelastet hatte, denn das Licht und die Luft in dem offnen Raum schienen ihn geradezu zu umschwirren. Ihm war, als seien Seile, die ihn gebunden, klobige Hände, die ihn roh zu Boden gedrückt, plötzlich durchschnitten und weggerissen worden. Und die Empfindungen des Entlassen-und-Entronnenseins, frisch und ungeheuer regsam, fuhren leiblich in ihn ein mit einem luftigen Auftrieb, so daß ihm war, als höben sie ihn schwingenmächtig empor.

Mit einer niegespürten Begier drängte es ihn ins Freie. Sogar die Überraschung seiner Leidensgefährten, die sich nun über seinen verschwollenen Mund und sein blaugeschlagenes Auge aufhielten, waren öde Belästigung für ihn. Er schob an ihnen vorbei, murmelte irgend etwas und schritt zur Tür.

Es war das erste Mal im Leben, daß er hinter Schloß und Riegel eingesperrt worden war, und zum erstenmal spürte und verstand er die Bedeutung einer maßlosen und brutalen Autorität über das Leben, von der er zwar zuvor gewußt, vor der er sich selbst aber immun geglaubt hatte. Bis zu diesem Tage hatte er die ganze Vermessenheit, den ganzen Stolz der Mannesjugend besessen. Er war von Kind auf nie mit Gewaltmitteln zu irgend etwas gezwungen worden. Er hatte millionenmal die Anwendung von Gewalt, von Vorrecht und von Zwang im Leben seiner Mitmenschen mitangesehen, und so hegte er im Grund, wie jeder andre gebürtige Amerikaner, nicht den geringsten Glauben an das Gesetz; er wußte, daß der gerichtliche Strafvollzug in den Vereinigten Staaten, wenn er statthat, zufällig und nicht kraft der gesetzgeberischen Wollung statthat. Er hatte, wie jeder andre junge Mann in seinem Lande, es leidenschaftlichst für wahr gehalten, sein Leben und sein Körper seien unantastbar vor jeglicher Unwürde der Gewalt und des Zwanges.

Nun war dieses Gefühl auf immer dahin. Und dafür, daß er es unwiederbringlich verloren hatte, hatte er etwas Wertvolleres gewonnen.

Denn nun, von dem Augenblick an, als er die Zelle verließ, wurde er sich einer Gemeinschaft mit dem Leben andrer Menschen bewußt, die erdhafter, gröber und selbstverständlicher war als die, die er zuvor gekannt hatte. Dieses Gemeinsamkeitserlebnis wirkte sich geistig in außergewöhnlicher Weise aus auf Eugens Verständnis und seine Liebe zur Dichtung, und, mag es das Lächerliche zu streifen scheinen, tatsächlich war ein Wandel auf diesen ersten, mehrstündigen Gefängnisaufenthalt zurückzuführen.

Bis dahin war Shelley der Dichter gewesen, dessen Macht und Genius Eugen am meisten ergriffen. Aber in der Folgezeit kam es, daß Shelleys Dichtungen so bedeutungslos für Eugen wurden, daß die ganze magische Substanz, die sie ihm einst gehalten hatten, verflogen war und daß Eugen Shelleys Verse als gespenstisch-leere Wortgehäuse empfand, aus denen ihm all der Glaube und die Bezauberung von einst entschwunden schienen. Es war keineswegs so, daß ihm die Worte dieses großen Dichters nun falsch vorkamen, sondern so, daß sie ihn nicht mehr betrafen. Für Eugen war Shelley mehr als irgendein andrer der Dichter jenes Lebensalters, in dem der Mensch das Gefühl seiner stolzen und einsamen Unverletzlichkeit am stärksten in sich trägt, in dem sein Geist wie der Shelleys »unbändig und schnell und stolz« ist in jener seelischen Bewegtheit, die in allen Versen Shelleys schwingt. Und dies ist eine Daseinsbezauberung, die, wenn sie einmal vergangen ist, auf immerdar vergangen bleibt und nie mehr zurückgewonnen werden kann, es sei denn im Gedächtnis.

In den Folgejahren, als Eugens Körper gröber und schwerer ward und sein sinnlicher Appetit ungeheuer zunahm, wurden gleichermaßen auch seine Geisteskräfte, die in der Kindheit schwunghaft, aufstürmend und von einer unmittelbaren, lufthaften Lebendigkeit gewesen waren, dunkler, langsamer, schwerer, – begann sie, in ihrer eignen Glut zu glosen, sich dicht zu verspinnen und sich in ihren eignen Verwicklungen zu verfangen.

Als nun die gesamte Kraft und Leidenschaft seines Lebens sich mehr und mehr von den Kindheitsgedanken luftiger Flucht in unbesuchte Zauberbezirke abwandten, schien es ihm, der unbesuchte Zauberbezirk sei die Erde selbst mit all dem Leben, das auf ihr rings um ihn herum vorginge, – – daß er folglich nicht aus dem Leben fort, sondern in das Leben hinein fliehen müsse, – und zwar durch Wände und Mauern, vor denen er noch nie zuvor gestanden, hindurchblicken und auf eine Weise, wie er nie zuvor erforscht worden, den tastbaren, goldenen Gehalt dieser Erde erforschen müsse, um irgendwie das Wort, den Schlüssel, die Tür zu einem Leben zu finden, einem schicksalsschöneren und glückseligeren Leben, als es der Mensch je gekannt hatte, zu einem Leben, das dennoch unglaublicherweise greifbar dem Menschen eigen ist (oder dem Menschen eigen wäre, wenn er bloß darnach griffe) ganz so, wie die Erde unter seinen Füßen sein eigen ist.

Als er dies entdeckt hatte, wandte sich Eugen mehr und mehr um Zehr und Trost an jene Dichter, die die Erde gefunden und große Stücke dieser goldenen Erde in Versen hinterlassen haben als todlose Zeugnisse dafür, daß sie dort geweilt haben. Diese Dichter – Dichter nicht der Luft, sondern der Erde, Dichter, in deren Versen das Gold und die Herrlichkeit der Erde wie in Schatzkammern zu finden ist – heißen Shakespeare, Spenser, Chaucer, Herrick, Donne und Herbert. Sie heißen Milton (den Toren eisig und erhaben nannten, und der die mächtigsten Zeilen irdischer Leidenschaft und sinnlicher Magie, die je geschrieben wurden, schrieb), Wordsworth, Browning, Withman und Keats. Sie und ihre Werke heißen Das Buch Hiob, Der Prediger Salomonis, Homer und Das Hohelied.

So heißen sie, und dächte einer, der Erde Herrlichkeit sei nicht gewesen, dann lebe er allein, wie Eugen es tat, tausend Nächte der Einsamkeit und des Wunders mit diesen Dichtern, und sie werden ihm die goldne Herrlichkeit der Erde offenbaren, die die einzig seiende Erde ist, und die immerdar dauert, die die einzig lebendige Erde ist, die einzige, die nie sterben wird.


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