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LVII

Von Joel Piercens Angehörigen hatte Eugen niemanden kennengelernt. Nun aber, eines Abends, als Eugen gerade von der Universität heimgekommen war, rief Joel im Hotel an, sagte, sein Vater sei in New York, und fragte, ob Eugen nicht mit ihnen beiden zu Nacht speisen und dann ins Theater gehn wolle. Eugen traf die beiden in der Hotelhalle, wo sie auf ihn warteten. Mr. Pierce war ein Mann von fünfzig Jahren. Er trug – bequem bei diesem heißen Wetter – einen Anzug aus schwarzem Angoragarn; die Weste ließ einen stattlichen, geräumig-würdigen Ausschnitt von Linnen frei, und dies war angenehm altmodisch und erinnerte an eine Generation, in der die Menschen mehr Muße hatten. Mr. Pierce war sehr schwerhörig, er benutzte einen Hörapparat, aber das beeinträchtigte seine Sprechweise und sein Gehaben nicht. Sein Auftreten war ganz so wie sein Anzug, bequem und angenehmfreundlich, aber doch getragen von vornehmer Überlegenheit.

Er nahm die beiden jungen Männer mit ins ›Lafayette‹ zum Dinner und bestellte mit der selbstverständlich-behaglichen Großzügigkeit eines Mannes von Welt, der allen Menschen in seiner Umgebung ein Glücksgefühl aus Sicherheit und Wohlsein mitteilt. Für Eugen war es ein denkwürdiges Erlebnis. Das feine Restaurant – wohl das feinste, in dem er je gewesen war – die französischen Kellner, die köstlichen Speisen, die schönen Frauen, die gutangezogenen, wohlhabend und weltgewandt aussehenden Männer, dazu die angenehme Müdigkeit des schwindenden Tags und das prophetisch Erregende der einziehenden Nacht, das alles berührte ihn freudig und mit einem namenlosen Vorgefühl. Er spürte wie nie zuvor die eigenartige, verführerische Stimmung, wie sie abends, am Ende eines furchtbar heißen Sommertags, in der Luft der Weltstadt liegt, eine Stimmung, die so sonderbar gemischt ist aus Schmerz, Lust, Einsamkeit und dem Versprechen wilder, namenloser Freude.

Hitze und Horror des Tags waren auf einmal vergessen. Vergessen war der blinde Schreck vor dem Menschenschwarm, der durch das Labyrinth der wütenden Straßen wogte. Vergessen waren die ersäufende Flut aus feuchtem Fleisch, die fahlen, verschwitzten Gesichter von Menschen, die unter der dunstschwülen Schwummerhitze litten, – Menschen zahllos wie der Sand am Meer, verlorner, blinder und entsetzlicher verlassen als jene krabbelnden und kriechenden, schiebenden und schießenden Lebewesen, die blind und auf immerdar auf dem trüben Schlickgrund des weiten Meeresbodens umherschwimmen.

Die alte Abendröte füllte Eugens Herz wieder mit wilder Wahrsagung, mit ungemeiner, heimlicher Freude, und der mächtige Schritt der nahenden Nacht erweckte wieder in ihm die Kindheitsträume von der zauberischen Stadt, der Stadt großer Männer und herrlicher Frauen, der Stadt der unaufhörlichen Freuden, der Macht, des Triumphs und des Erfolgs, der Stadt des schicksalsschönen, guten und glückhaften Lebens.

Mr. Pierce saß da und studierte auf seine freundlich-ruhige, urban-kennerische Art das Menü. Er hatte die Stirn ein wenig gerunzelt, ein kleines Lächeln spielte ihm um die Schläfen, er hatte den Zwicker, den er sonst mit lässig eleganter Selbstverständlichkeit an der schwarzen Schnur baumeln ließ, aufgesetzt, und Eugen, der ihn ansah, verspürte ein unbeschreibliches Gefühl von Wohlstand und Macht und behäbigem Behagen. Ihm war, alles könne er haben, wenn er bloß danach fragte, und ein Blick auf den Kellner, der höflich respektvoll, den Bleistift schon auf den kleinen Notizblock gesetzt, hinter Mr. Pierce stand, ein Blick auf das füllige Webmuster der dicken, leinenen Tischdecke, auf der das schwere Silberbesteck lag, ein Blick auf die schönen Frauen und die vornehm aussehenden Herrn an den Nachbartischen, ja, und auch der dicke Teppich, den er unter seinen Füßen spürte, – das alles trug bei zu dem Gefühl von Wohlstand und Glück.

Mr. Pierce las die Karte mit gutmütig-ernster Miene, dann und wann fragte er seinen Sohn mit wohlwollend-barschem Spott. »Also was möchtest Du, Joel? Hast Du eigne Wünsche, oder überläßt Du es mir, für Dich zu bestellen?« fragte er etwa.

Und Joel antwortete dann in seiner leisen, verbindlich-beflissenen Art: »Mir ist alles recht, Paps, Du weißt ja, mir ist das ziemlich gleichgültig. Ich esse alles, was ich kriege, nur –« er lachte – »ich ziehe es vor, wenn es kein Fleisch für mich gibt. Ich mag Gemüse lieber.«

Mr. Pierce stieß den Zwicker von seiner Nase, wandte sich an Eugen mit einer liebenswürdig ins Vertrauen ziehenden Miene und fragte: »Was ist los mit 'nem Jungen, der sich so wenig fürs Essen interessiert? Verstehn Sie das? Ich komme da gar nicht aus dem Staunen 'raus«, meinte er in seiner vornehm-barschen Art, »wenn ich so einen gesunden jungen Menschen anseh, dem der Bauch so gleichgültig ist. Wirklich, Joel«, er blickte seinen Sohn an mit einem drollig-launischen Spott, »ich würde mir weniger Gedanken um Dich zu machen haben, wenn Du Dich mehr fürs Essen interessiertest. Es ist einfach tragisch, mitansehn zu müssen, wie ein Junge in Deinem Alter eine der größten Freuden des Lebens absichtlich verschmäht. Meinen Sie nicht auch?« fragte er freundlich-vertraulich wieder zu Eugen gewandt. »Oder sind Sie am Ende auch Vegetarier?«

»Gott, nein!« sagte Joel. Er lachte sein gedämpftes, beflissenes, ungemein angenehmes Lachen. »Er steht ganz auf Deiner Seite, Paps! Er ist noch mehr fürs Essen als Du.«

»Freut mich! Dann bin ich wirklich beruhigt«, erklärte Mr. Pierce beifällig. »Ich befürchtete bereits, die ganze jüngere Generation hätte sich dem Teufel verschrieben. Aber nachdem es sich nur um örtliche Symptome handelt«, mit einem humorig-finstern Blick sah er seinen Sohn an, »dann ist die Sache ja wohl nicht so schlimm.«

»Du und Paps, Ihr müßtet fein miteinander auskommen«, sagte Joel zu Eugen. »Er liebt das Essen und ist ein wunderbarer Koch. Du solltest mal 'rauf nach Rhinekill kommen und ihn eine Mahlzeit für Dich kochen lassen.«

Auf diese angenehme Art war das Bestellen der Mahlzeit vor sich gegangen. Mr. Pierce hatte viele und gute Dinge bestellt: rosenfleischige Venusmuscheln, kalt, scharf, appetitanregend in vollkommenen Schalen; eine seimig-sahnige grüne Erbsensuppe, in der kleine Toastwürfel schwammen; junges Huhn, auf dem Rost gebraten, feist und zart, so saftig, daß einem der Bissen im Munde zerging; Spargel und Kartoffeln, knirschenden Salat, schön angemacht und ein wenig in der großen Schüssel ›fatigiert‹; Kaffee auf Eis und zum Nachtisch reifen Camembert mit weißen, krachenden Salzbiskuits. Mr. Pierce und Eugen aßen herzhaft und mit augenscheinlichem Genuß; Joel aber blieb trotz aller Proteste und trotz des gutmütigen Spotts seines Vaters bei seiner Gemüseplatte: er nahm den Spott hin mit der schönen, lachenden Gutherzigkeit, die einer seiner feinsten Wesenszüge war, und mit jenem liebenswürdig-unverdrossenen Eigensinn, der ihn gleichviel charakterisierte, hielt er sich an seine vegetarische Diät.

Nach dem Essen fuhren sie in einem Taxi in den Broadway-Distrikt in ein Theater, in dem während der Sommerspielzeit eine englische Truppe mit einer Revue gastierte. Der Star des Abends war Beatrice Lillie. Eugen kannte nicht einmal den Namen dieser Schauspielerin des komischen Fachs, aber nach dem mondän-smarten Aussehen des Publikums und nach der Art zu schließen, mit der Joel und andre Leute jedem Wort und jeder Gebärde Beifall spendeten, war diese Künstlerin ›die einzige Begeisterung‹ – eine jener Bühnengrößen, wie sie zu einem angebornen Talent eine besondre, nur ihnen ursprünglich eigne Art des Sichgebens haben, die sie zeitweilig zum Gegenstand abgöttischer Verehrung in der eleganten Welt macht.

Die Revue war witzig und amüsant. Sie hatte darüber hinaus einen modischen Stil, jene fesche Smartheit, die sich damals auf der Bühne durchzusetzen begann und vom Publikum begrüßt wurde. Hatte man auch in späteren Jahren die Szenen, Songs und Späße dieser Revue fast ganz und gar vergessen, so erinnerte man sich doch noch des glänzenden Lebensbildes, das sie in einem hervorgerufen hatte. Dieses Lebensbild war nicht unmittelbar dargestellt, es ward vielmehr andeutungsweise vermittelt. Diese Revue war eine von den Aufführungen, die man in jenem Sommer ›trug‹, genauso, wie man in jenem Sommer Kleider von diesem oder jenem Schnitt zu tragen pflegte. Die Leute gingen hin, um etwas zu sehen, das ›man gesehn haben mußte‹, etwas, über das ›alle Welt‹ sprach. Sie kamen nicht aus dem echten Bedürfnis, sich zu ergötzen und zu unterhalten, sie kamen, weil sie ohne eigne Überzeugung bereit waren, etwas ›amüsant‹ zu finden, das ›man‹ amüsant fand.

So hatten denn nicht nur Szenen, Songs und Späße der Revue, sondern auch das Lachen und der Beifall des Publikums etwas krampfig Gespanntes, einen harten, metallischen Klang. Hier war eine neue, unangenehme Art des Erheitertseins ins Dasein hereingebrochen, eine Belustigungssucht, die dem Wesen nach die Quellorte des erlösenden, erdhaften und bluthaft warmen Humors nicht zu kennen, sondern irgendeine beißende Säure zu haben und aus einer seelischen Sterilität zu kommen schien. Hinter dieser harten, eigentlich leblosen Fröhlichkeit spürte man die Absicht, zu verwunden, zu verhöhnen, zu verletzen. Und hinter dieser Absicht wiederum standen nicht etwa tapfere Weltverachtung oder echte Grausamkeit, sondern da stand die Lebensangst mit dem Bedürfnis, die Aufmerksamkeit von der eignen Blöße und der eignen Unsicherheit weg auf ein allgemeines Ziel abzulenken.

Sogar dem eleganten und kultivierten Publikum, das sich diese smarte Revue ansah, war diese Angst, diese Unsicherheit anzumerken: in den Augen der Leute, die sich in der Pause in der Wandelhalle ergingen oder umherstanden, lag eine unverkennbare, von Befürchtung und Gefährdung gespannte Feindseligkeit. Die meisten Besucher dieser Vorstellung waren elegant angezogen, die Männer trugen Gesellschaftsanzug, die Frauen teure Abendkleider, die lange, weiße Arme, samthäutig vollkommene Brüste und lange Rücken zur Schau stellten. Es hätte schwer gehalten, eine Gesellschaft zu finden, die in der Sicherheit der Gebärdung, an Schliff und wohl auch an Wohlstand dieser Gruppe von Leuten überlegen gewesen wäre, und trotz dieser vollkommenen äußeren Welt- und Lebensfähigkeit war es peinlich offenbar, daß diese Leute Angst hatten und unglücklich waren. Die Körper schienen eine fiebrige, elektrische Spannung auszustrahlen, die durcheinanderredenden Stimmen klangen fast hysterisch schrill, und Eugen, der sich plötzlich an das friedliche Gedröhn von Stimmen in einem Theater vor fünfzehn Jahren erinnerte, an die glückhafte Verzauberung, die selbst bei dem einmaligen Auftreten einer Wandertruppe in einer Kleinstadt in der Theaterluft lag, spürte plötzlich, daß etwas Altes und Gemütliches aus dem Dasein entwichen war, und daß etwas Mißstimmiges, Verquältes, Schädliches den Rhythmus verwandelt hatte und wie ein Ansteckungsgift im Organismus um sich griff.

An diesen eleganten, weltgewandten Männern der großen Weltstadt spürte man etwas Ausgemergeltes, Geschundenes, grauenhaft Gemüdetes; es war so, als wären ihnen die Lebenskräfte auf eine unnatürliche Weise abgezapft, herausgezupft, aufgezehrt worden, so, als wären sie geleert, entsaftet, verdorrt und lebten nur kraft eines künstlichen Antriebs weiter, geladen von einer elektrischen Energie, die sie mit dem furiosen Tempo der Weltstadt Schritt zu halten zwänge und sie nicht freigeben würde, eh sie sie zu einer spröden, grauen Hülse ausgebrannt habe.

Im Gegensatz hierzu kam die lebhafte Lieblichkeit der Frauen erstaunlich zur Geltung. Sah man sie so neben den Männern stehn, dann dachte man unwillkürlich an jene Insektengattungen, bei denen die Weibchen, an Schönheit und Kraft wunderbar und verhängnisvoll den grauen Männchen überlegen, diese schließlich auffressen. Und doch, auch auf die Gesichter und Gestalten dieser schönen Frauen war der metallharte, stumpfe Stempel der Verstümmelung gedrückt worden. Aus dem fast hysterischen Stimmengewirr hörte man sofort heraus, daß der weibliche Ton vorherrschte. Die Frauenstimmen klangen anmaßender und anspruchsvoller; schneidend, eindringlich und unverhüllt übergellten sie die Männerstimmen.

Gerade nun, als Joel und Eugen in einer Ecke des Foyers standen und auf das bewegte Gewoge des glanzvollen Bildes blickten, konnten sie eine Frauenstimme hören, die sich mit jener dogmatisch-rechthaberischen Hoffart, die keinerlei Widerspruch aufkommen läßt und auch nicht den leisesten Einwand duldet, also vernehmen ließ:

»Ja! Sie ist wirklich reizend. Wirklich witzig. Und furchtbar, furchtbar amüsant. Die Tanzerei ist sehr miserabel. Die Engländer haben ja keine Ahnung davon, wie ein Girl-Chorus arbeiten muß. Die Songs? Na, den über Queen Mary's Hüte fand ich einfach schrecklich komisch. Die übrigen gehen an. Die Dekorationen sind abominabel, aber da erwartet man ja nichts Besseres. Ihr Singpartner ist recht gut, aber der andre – diesen gräßlichen Kerl aus dem Londoner Pöbel mein' ich –, der ist schlechtweg horribel. Wo sie solche Leute bloß hernehmen? ... Nein! Nein!« kam es nun hart und hochmütig, als gerade ein Mann in einem milden, leisen, sich entschuldigenden Ton etwas eingewandt hatte. »Da stimme ich nicht mit Ihnen überein. Durchaus nicht. Das beurteilen Sie ganz falsch! Ganz entschieden ist die Dienstmädchenszene das Beste an der ganzen Revue. Die Szene im Restaurant ist sehr abgeschmackt, sehr billig und furchtbar, furchtbar vulgär. Und es ist sehr dumm von Ihnen, das nicht zu sehen.«

Die Lady, die mit weiblicher Bescheidenheit ihre duldsam großzügigen Bemerkungen gemacht hatte, drehte sich um, sah Joel und begann sofort, in denselben hochfahrend-anmaßlichen Tönen zu ihm zu sprechen. Sie kläffte die Worte heraus durch vollkommen straffgespannte Lippen, die sich kaum zu bewegen schienen:

»Joel!« rief sie. »Was auf der Welt tust Du hier? ... Ich dachte, Du wärst in Rhinekill oder in Maine ... Und wo ist Deine Mutter? ... Auch hier? ... Nein? Zu schade!« meinte sie harsch. »Ich möchte sie gern sehn ... Übernächstes Wochenend ... ja, ja! ... übernächstes Wochenend bin ich in Newport bei Alice Mortimer. Kommt sie auch? ... Gut! Dann werd ich sie ja sehen.–Mein

Gott, nein! Wir sind 'reingefahren, um die Revue zu sehn ... Nein, wir bleiben nicht hier. Ich bin in Sands Point ... Jerry ist in Southampton .. Mein Gott, einen Sommer in diesem Höllenloch! Verrückt, mir das zuzutrauen ... 'n Abend!« sagte sie kurz und warf mit einer knappen Kopfneigung einen kalten Blick auf Eugen, den Joel ihr flüsternd vorstellte. Sofort war Eugen wieder aus ihrer Aufmerksamkeit entlassen. »Aber meinst Du das im Ernst, daß Du den ganzen Sommer hier bist? ... Nein, nicht wirklich?! Aber liebes Kind, was in Gottes Namen hat Dir denn diese idiotische Idee eingegeben? ... A-h so«, sagte sie kühl. »Du malst ...«

Das Klingelzeichen ertönte, und nach ein paar kurzen Abschiedsworten kehrten die beiden jungen Männer auf ihre Plätze zurück.


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