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IV

Als der junge Mensch das Raucherabteil betrat, verstummten die Männer und musterten ihn mit knappabschätzender, unverhohlener Neugier. Der junge Mensch – ein hochaufgeschossener, hagerer Bursch mit langen Gliedern und breiten, knochig-eckigen Schultern – fummelte nervös nach einem Zigarettenpäckchen in seiner Rocktasche. Dann, mit unvermittelter Plötzlichkeit, setzte er sich neben einen der Männer auf den ledergepolsterten Platz. Sein Benehmen verriet jene Mischung von Herausforderung und Schüchternheit, mit der ein junger Mann auf seiner ersten Reise in die Welt in Gegenwart älterer, erfahrener Männer auftritt, und deshalb mag in die Blicke der Männer ein Ausdruck unbewußter Zuneigung und Teilnahme gekommen sein, denn jeder von ihnen fühlte sich wohl an einen Augenblick aus seiner eigenen, verlorenen Jugend gemahnt.

Der junge Mensch war in einem Zustand hochgespannter, kaum zu bemeisternder Erregtheit. Er spürte das mächtige Dahinbrausen des Zuges. Er sah, ständig wie von Fächerschlägen fortgerafft, die dunkle, geheimnis-stumme, einsam-große Erde, die wandellos, unverrückbar und unentwegt in ihrer ganzen unsterblichen Stille dalag. Ihn berauschte es, stilles Land und schnelle Fahrt miteinander zu empfinden, so daß Bewegung und Ruhe, diese einander ausschließenden Gegensätze, nun gleichzeitig von ihm erlebt und in seinem Bewußtsein zu Polen einer fühlbaren und gefüllten Einheit wurden.

Er spürte, daß sich dieses Wunder aus Ruhe und Bewegung unmittelbar auf ihn selbst und sein Schicksal bezog. Ihm war, als geschähe es nur durch ihn, als könne es nur durch ihn geschehen, denn kraft seiner Erlebnisfähigkeit habe er die Geschehnisse in Beziehung und Zusammenhang gebracht. Deshalb war ihm, als gehöre die Welt ihm und stünde ihm zu Willen und Gebot. Um seinetwillen – so empfand er – jage dieser Zug durch die Nacht, um seinetwillen läge die Erde in dieser unsterblichen Stille da, und um seinetwillen auch, ja, nur um seinetwillen seien diese reichen Männer da und dieser bequem-üppig eingerichtete, Vorstellungen von Glanz, Fülle und Wohlleben erweckende Raucherraum. Nun wäre – spürte er – der glorreiche Augenblick gekommen, um dessentwillen er sein ganzes bisheriges Leben gelebt, auf den sich sein ganzes Wünschen und Wollen von je gerichtet hatte.

Als diese unglaubliche Erkenntnis ihn durchdrang, sprang wild, wortlos und ungebärdig eine Wut in ihm auf, wallte ihm durchs Blut und erfüllte ihn mit einer nie gekannten, überschwenglichen, maßlos aufbegehrenden Freude. Eine grenzenlose Kraft riß so heftig an ihm, daß ihm war, er könne Stahl zwischen den Fingern biegen. Und eine schier unbezähmbare Regung überkam ihn, seine dämonische Heiterkeit den Männern ins Gesicht zu gellen.

Statt dessen setzte er sich einfach mit unvermittelt-plötzlichen, halbherausfordernden Bewegungen. Er zündete seine Zigarette an, wandte sich schnell und schüchtern an einen der Männer und begrüßte ihn mit:

»Hallo, Mr. Flood!«

Der also Angeredete – ein Mann in seinen Fünfzigern, gut angezogen, aber verfeistet und gedunsen – erwiderte den Gruß nicht gleich, sondern glotzte den jungen Mann dumm und dumpfüberrascht an; er glotzte ihn an aus einem Paar auffallend hervorquellender Stielaugen, deren Weißes stark in ein trübes, krankes Gelb spielte. An der behutsam-sachten Art seines Dasitzens war dem Mann anzumerken, daß ihm die Gicht in den Gelenken spukte. Sein brutales, grobsinnliches Gesicht hatte die hochrosig-seidenglänzende, feinädrige Haut, die für starken Alkoholismus und tägliche Massage zeugt. Kennzeichnender noch und außerdem störender als die Stielaugen war der unzüchtig-wüste Mund dieses Mannes. Er hatte ein »Muckergebiß«: mit ihren verfärbten Spitzen stießen ein paar unregelmäßige Zahnzinken unter der Oberlippe hervor. Dadurch machte der Mund den Eindruck, als stünde er halboffen in einem ständigen Lächeln. Anmutig war dieses Lächeln gerade nicht; es war schlau, stumpf und klobig-lüstern; es war so, als ergötze sich da ein Heimlichtuer, innerlich unbändig beglückt, mit Vorstellungen von unflätiger Zotigkeit und lächle dazu.

Mr. Flood glotzte den jungen Mann, der ihn soeben begrüßt hatte, eine Weile an; seine Überraschung wirkte komisch und dumm. Dann, endlich, erwiderte er den Gruß und sagte freundschaftlich-barsch, eine Note von Betretenheit im Ton:

»Hallo! Oja, hallo, Junge! Wie geht's ...?«

... und nachdem er den Burschen abermals eine Weile fragend angeglotzt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den anderen Männern zu.

Nun kam das Gespräch wieder in Fluß, und die Männer kamen von Bodenpreisen und Bankaktien auf Baseball und Politik, und da tat es ihnen wohl, und noch einmal wohl, und immer wieder wohl, einander an Beispielen zu versichern, was sie längst wußten, daß nämlich Bankaktien und Bodenpreise ständig stiegen, ganz so wie, beiläufig erwähnenswert, die Einwohnerzahl ihrer Stadt Altamont seit der letzten Volkszählung vor zehn Jahren von 18 000 auf schätzungsweise 45-50 000 gestiegen war. In Sachen der Politik und des Baseballspiels aber gab es Fragen zu erörtern, Umstände zu erwägen, Hoffnungen auszudrücken, obschon auch auf diesen Gebieten letzten Endes keiner von den Männern daran zweifelte, daß im bevorstehenden Endkampf um den Weltmeistertitel die Baseballmannschaft aus Cleveland mit den Männlein aus Brooklyn umgehen würde wie »das Höllenfeuer mit einem Schneeball«, und genauso würden bei dem Wahlgang in fünf Wochen die Aussichten ihres eignen, des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Cox schmelzen und Harding, der Republikaner, würde gewinnen.

Und auf und ab, hin und her, drunter und drüber ging das Gespräch der Männer; es war heftig, stürmisch und laut; in gutmütigrauher Männerart donnerten sie, lachten sie, bestritten sie, bestätigten sie, spotteten sie, und der junge Mensch saß dabei, und der Zug brauste dahin, und die Erde, die allesüberdauernde, war still.

Und andre Männer, andre Stimmen, andre Augenblicke wie diese würden kommen, würden gehn, würden vergangen und vergessen sein im großen Abgrund der Zeit. Und große Züge würden nachts dahinbrausen in Amerika, dahinbrausen über die dunkel-einsame Erde, die einzig und allein ewig ist – die Erde, auf der unsre Väter und Brüder ihre kurzen, einsamen, fremden Lebenswege gewandert sind –, die Erde, in die wir schließlich alle einmal gepackt werden. Immer und immer wieder würden große Züge dahinbrausen über die dennoch unentwegbare, ewig-stille und still-ewige Erde, und in den Zügen würden Leute sitzen wie diese, sie würden zusammen sein auf eine bestimmte Zeitspanne und dann wieder füreinander verloren und entschwunden, vergangen und vergessen sein. Und die Leute würden nach zahllosen Zielen reisen, und dort würde das gute Geschick warten, der Ruhm oder das Glück oder sonst ein Ding der Begehr – aber ob es je eine sichere Sache, ein gewisser Erfolg, oder genau das Erwartete sein würde, wer konnte das sagen? Der junge Mensch wußte bloß, diese Männer, diese Worte, dieser Augenblick würden entschwunden und vergessen sein –, die großen Räder aber würden immer dahinrollen. Und die Erde still sein.

Mr. Flood stemmte sich auf seinen feisten Arm, und unter schmerzlichem Grunzen brachte er sein gichtisches Körpergewicht vorsichtig in eine andre Sitzlage. Nachdem die behutsame Schwerpunktverschiebung vollbracht war, glotzte er dem jungen Mann eine Zeitlang stur ins Gesicht und fragte schließlich rauh:

»Sie sind einer von den Gantschen Buben, nicht wahr? Ein Bruder von Ben, stimmt's?«

»Ja, das stimmt«, sagte der junge Mann höflich.

»Welcher denn? Doch nicht der, der stottert, was?« fuhr Mr. Flood mit derselben, grobschlächtigen Zielbewußtheit fort.

»Nein, nein! Der nicht!« unterbrach einer von den Männern mit Entschiedenheit. »Sie meinen den Lukas!« Er lachte.

»So ...« meinte Mr. Flood dumpf. »Der, der stottert, ist also der Lukas, was?«

»Ja, der Lukas«, sagte der junge Mann höflich. »Ich bin der Eugen.«

»So ...«, sagte Mr. Flood schwerfällig. »Da sind Sie wohl der Jüngste, was?«

»Ja, gewiß«, antwortete der junge Mann höflich.

»Na also!« sagte Mr. Flood. Endlich im Bild. »Ich wußte nur nicht, welcher von den Gantschen Buben Sie waren. Daß Sie einer wären, das wußte ich. Sie kamen mir bekannt vor.«

»Ja, das stimmt auch ...«, antwortete der junge Mann höflich. Er wollte noch etwas sagen, zögerte einen Augenblick, dann rückte er mit der Sache heraus. »Ich hab' doch mal bei Ihnen eine Route als Zeitungsträger gehabt, damals, ehe Sie den ›Courier‹ verkauften. Deswegen komme ich Ihnen so bekannt vor.«

»So ...?« sagte Mr. Flood. »Ja, es stimmt. Daher kenn' ich Sie. Jetzt fällt's mir wieder ein.« Er glotzte stumpfsinnig weiter. Es wirkte komisch. Ein Augenblick der Stille trat ein. Der Rhythmus der Räderstöße auf den Schienen war hörbar.

»Wieviel Brüder sind Sie eigentlich?« Die neugierige Frage kam von Emmet Wade, einem dunklen, kleinen Mann mit äußerst wichtiger Miene. »Fünf oder gar sechs, wenn ich nicht irre.«

»Nur noch drei jetzt«, antwortete der junge Mann. »Der Steve, der Lukas und ich.«

»Steve! ja so, an den dachte ich gerade!« sagte der kleine Mann mit einer Forschheit, als wäre ihm der Name schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen. »Steve war der Älteste, wenn ich nicht irre.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte der junge Mann höflich.

»Na, und was ist aus ihm geworden?« fragte Wade. »Ich hab' ihn, wenn ich mich nicht sehr verrechne, mindestens zehn oder fünfzehn Jahre nicht gesehn. Wohnt wohl gar nicht mehr in Altamont, wie?«

»Nein«, sagte der junge Mann höflich. »Er lebt in Indiana.«

»Ei tatsächlich!« rief Wade aus, so, als wäre ihm gerade eine höchst seltsame und erstaunliche Nachricht zuteil geworden. »Na, und dort steckt er wohl dick in Geschäften, wie?«

Einen Augenblick wollte der junge Mann sagen: »Nein. Er hat eine kleine Billardhalle gepachtet und wohnt mit Frau und Kind eine Treppe höher.« Er schämte sich aber, dies einzugestehen, und so sagte er: »Ich glaube, er hat so 'ne Art von Zigarrenladen.«

»Ei was!« sagte der Mann, scheinbar sehr interessiert. »Auch ganz schön«, meinte er dann. Der Ton war vermittelnd. »Steve war immer ein flotter Mensch. Hat Grütze im Kopf. Er wird's überall vorwärtsbringen, wenn er sich Mühe gibt.«

Emmet Wade, der sich in seiner lebhaften Art so angelegentlich nach Steve erkundigt hatte, war eine pomphafte Erscheinung: sehr dick, sehr breit und stämmig, dabei aber äußerst klein. Er wirkte fast wie ein Zwerg, wozu freilich auch seine ungewöhnlich und unangenehm dunkle Haut und sein bis auf einen dünnen Haarrand vollständig verkahlter Kopf beitrugen. Das Ansehen von Autorität, das sich dieser Gnom gab, seine Aufgeblasenheit, seine nicht zu überbietende Einbildung waren so offenbar, daß er sogar nun, ruhig dasitzend, an einen sich brüstenden Gockel erinnerte. Glückliche Zufälle und gut ausgenützte Gelegenheiten, wie sie schon so manchem kleinen Mann auf einen großen Posten halfen, hatten ihn zum Präsidenten der führenden Bank Altamonts gemacht, und so, wie er ihn jetzt vor sich sah, konnte der junge Mann sich ihn in jener Rolle vorstellen: vorm Arbeitstisch im Direktionszimmer auf einem Schreibtischsessel mit Dreh- und Wippgelenk sitzend, sich nachdenklich auf diesem »swivelchair« hin- und zurückwiegend, die teigigen Patschhände im Genick verschränkt, die fettstrammen Beinchen übereinandergeschlagen, kurz, den Herrn Bankdirektor, der gerade einem untertänigen Angestellten einen Brief diktiert. –

»Na, und Lukas, der alte Junge? Was treibt er? Wo steckt er? Wie geht's ihm eigentlich?« fragte nun einer der Männer beredsamen Ernstes, begann aber dann gleich vor sich hin zu gluckern. Es war der Mann, der zuvor seine Bekanntschaft mit Lukas so entschieden bekundet hatte: Mr. Candler, Kleinstadtpolitiker und besoldeter Stadtvater zu Altamont. Candler hatte ein rotblühend-gesundes Gesicht, er trug eine altmodisch-biedere, schmale Schleifbinde, er hatte etwas »Ländliches«, seine Stimme klang offener, seine Art war herzhafter, wohlwollender, umgängiger als die der andern Männer. »Ich hab' ihn seit Jahren nicht zu Gesicht gekriegt«, versicherte Candler, »und erst vor ein paar Tagen hat mich jemand nach ihm gefragt.«

»Lukas hat eine Stelle als Verkäufer. Landwirtschaftliche Maschinen und elektrische Lichtanlagen«, berichtete der junge Mann.

»Fein!« meinte der Mann freundlich teilnehmend. »Und wo? Zu Hause, scheint es, läßt er sich kaum blicken.«

»Er kommt nur selten heim. Alle zwei oder drei Wochen mal. Auf 'nen Sprung. Sein Arbeitsgebiet liegt drunten in Süd-Carolina und Georgia, die ganze Gegend da unten bereist er.«

»Was, sagten Sie, daß er verkauft?« fragte nun Mr. Flood, der stumpfsinnig-brutal, stur staunend den jungen Mann die ganze Zeit angeglotzt hatte.

»Beleuchtungsanlagen, elektrische Pumpen, Geräte und Kleinmaschinerie für Farmbetrieb«, erklärte der junge Mann betreten.

Mr. Flood brauchte etwas Zeit, bis er begriffen hatte.

»Der Lukas also tut das«, sagte er dann.

»Jawohl, der Lukas«, sagte der junge Mann höflich.

»Also der, der stottert, nicht wahr?«

»Ja, der.«

»Also der, der die Agentur für die Saturday Evening Post hatte und beim Verkauf immer so redete.«

»Ja, stimmt, das ist der Lukas.«

»Und was, sagten Sie, verkauft er jetzt? Farmgeräte, nicht wahr?« fragte Mr. Flood, sehr schwerfällig.

»Ja, genau das.«

»Dann, bei Gott! schafft er's!« donnerte Mr. Flood, und der Nachdruck, den der stumpfsinnige Mann plötzlich seiner Meinung gab, wirkte in der Tat wie eine Explosion.

Die andern Männer lachten. Mr. Flood nickte bejahend. Er war felsenfest überzeugt von seiner Sache.

»Wenn ein Mensch was verkaufen kann, dann er!« behauptete Mr. Flood. »Er brächte es fertig, den Eskimos Strandanzüge zu verkaufen. Um nicht totgeredet zu werden, würden sie sie nehmen.«

»Da kann ich ein Liedchen singen ...«, begann nun der Politiker und setzte sich in eine bequemere Positur. »Eines Tages stehe ich mit Dave Redmond vorm Postamt; wir sprachen über ein Grundstück an der Hawk Creek Road, das ihm gehörte. Das muß jetzt gut und gern fünfzehn Jahre her sein. Ei, und wer kommt da, einen großen Pack Zeitungen unterm Arm? Der Lukas! Er segelt uns an und schießt los, redet und redet, Mindestgeschwindigkeit eine Meile in der Minute; wir, Dave und ich, kamen überhaupt nicht zu Wort. – ›Hier, Gentlemen, hier, Gentlemen!! Die Saturday Evening Post! Noch warm von der Presse! Ausgabe von dieser Woche, genau das, worauf Sie gewartet haben! Kostet ganze fünf Cents, nur einen Nickel, den zwanzigsten Teil eines Dollars!‹ – Schon hat er schnell die Zeitung aufgefaltet und hält das Blatt dem Dave unter die Nase, sagt ihm, was alles drinsteht und wer das Zeug geschrieben hat, und daß das für fünf Cents sozusagen geschenkt wäre. ›Wi-wi-wirklich, wenn Sie das in einem Buch kaufen, ko-ko-kostet Sie's anderthalb Dollars, und selbst dann bekommen Sie höchstens ha-ha-halb soviel für Ihr Geld!‹ Na, wie es so geht, den Dave belästigt das, er wird ein bißchen rot im Gesicht, er wollte nicht im Gespräch gestört sein. Aber der Lukas läßt nicht locker. ›Ich will das Blatt nicht‹, sagt Dave, ›und außerdem habe ich hier mit dem Herrn etwas zu besprechen.‹ Der Dave wendet sich ab und dreht sein Gesicht auf die andre Seite. Der Lukas aber kommt hintenrum, und da steht er schon wieder und redet nun doppeltscharf auf den Dave los. ›Aufhören! Weitergehen!‹ sagte Dave. ›Wir haben hier was zu besprechen, und ich will das Ding nicht. Also: Marsch! Und außerdem‹, setzt er hinzu, ›kann ich nicht lesen.‹ ›Macht gar nichts! Nicht im geringsten‹, kommt nun der Lukas, ›da können Sie sich doch die Bi-bi-bilder ansehn. Die Bi-bi-bilder allein sind einen halben Dollar w-w-wert!‹ Also, der Junge setzt dem Dave ziemlich hart zu, und dem Dave ist, scheint mir, der Geduldsfaden gerissen. Er schlägt das Blatt, das ihm der Junge vor die Nase hält, weg und brüllt: ›Verdammt noch mal! Ich hab' doch gesagt, daß ich's nicht will. Und was ich sag', mein' ich! Marsch, fort! Wir haben hier zu reden.‹ Also, mein Lukas schweigt für 'nen Augenblick, faltet seine Zeitung zusammen, steckt sie zu den andern untern Arm, und dann sieht er sich den Dave Redmond für ein Weilchen an. Und dann sagt er ganz ruhig – stellen Sie sich vor! – ganz seelenruhig: ›Sehr wohl, der Herr. Sie sind der Arzt in diesem Falle. Sie müssen wissen, wo es hier fehlt. Meine Meinung ist, daß Sie bedauern werden.‹ Damit drehte er sich 'rum und ging weg. (Hier mußte Candler lachen, vermutlich weil er den Lukas gehen sah.) – Also: Dave Redmond machte ein merkwürdiges Gesicht. Man sah ihm an, daß er's mit der Scham zu tun kriegte, weil er den Jungen so angebrüllt hatte. Kam sich ein bißchen klein vor, wegen so 'ner Sache die Selbstbeherrschung verloren zu haben. Mein Lukas ist noch keine fünf Schritt weg, da ruft der Dave ihn zurück, langt in die Tasche, holt 'nen Dollar 'raus und spricht: ›Hier, mein Sohn, gib mir so ein Blatt. Vielleicht werd' ich's nie lesen, aber das Vergnügen, Dich reden zu hören, ist den Dollar wert.‹ Er gab ihm den Dollar, er nötigte ihn ihm sogar auf. Und von diesem Tag an hatte der Lukas in ganz Altamont keinen bessern Empfehler und Fürsprecher als den Dave Redmond ...« Mr. Candler gluckerte, dann wiederholte er: »›Meine Meinung ist, daß Sie bedauern werden‹ ... ja, dieses kleine Sätzchen, seelenruhig und mit seelenruhigem Blick gesagt, das hat den Trick getan ...« Milderfreut und stillvergnügt über seine Geschichte und über die Erinnerungen, die sie in ihm wiedererweckt hatte, blickte Mr. Candler zum Fenster hinaus und lächelte.

»Das war der Lukas, von dem Sie erzählten? Also der, der stottert, nicht wahr?« fragte Mr. Flood stumpfsinnig nach einer Weile.

»Ja, ganz recht, der Lukas«, sagte Candler.

Mr. Flood, die dumpf-neugierigen Stielaugen unablässig auf den Erzähler gerichtet, erwog des längeren, was er soeben gehört hatte. Dann, als sein Verstand voll und ganz zur Einnahme der Sache gelangt war, schüttelte er einmal ganz langsam und sehr befriedigt und nachdrücklich bejahend den großen, groben Kopf und gab mit heiserer Stimme seiner Überzeugung folgenden Ausdruck:

»Ja, der is 'n Kerl! Wenn einer verkaufen kann, dann er!«

Dieser Urteilsverkündung folgte eine kurze Pause schwerster Erstummung, bis nach einer Weile der aufgeblasene kleine Mann beiläufig neugierig fragte:

»Und was ist aus dem andern geworden. Ich meine den, der seinerzeit an Ihrem ›Courier‹ tätig war, na ... wie heißt er denn gleich?«

»Ben«, antwortete Mr. Flood schwerfällig, aber ohne Verzug. »Das war der Ben.« Und nun bekam Mr. Flood einen peinlichen Hustenanfall. Er hustete unbeholfen, schien im Schleim zu ersticken, räusperte sich und spuckte in den Spucknapf, der ihm zu Füßen stand. Nachdem er sich mit seinem bauschigen Taschentuch den Mund abgewischt hatte, noch nach Luft schnappend, keuchte er: »Ben war's, der für mich gearbeitet hat.«

»Jajaja, Ben natürlich«, rief der kleine Mann schnell, so, als wär's ihm gerade selber wieder eingefallen. »Und was ist aus ihm geworden? Ich habe ihn in letzter Zeit bestimmt nicht gesehn.«

»Er ist tot«, erklärte Mr. Flood dumpf. Er schnaufte heftig und stierte den Spucknapf an. »Deswegen haben Sie ihn nicht gesehn«, sagte er ernst. Und nun bekam er einen noch heftigeren Hustenanfall, der ihn sehr mitnahm. Schließlich lehnte er sich sacht zurück, schloß die Augen und holte mit rasselndem Atem Luft. Alsdann, die Augen noch geschlossen, hauchte er fast unhörbar: »Der Ben war der, der starb.«

»Jajaja, ich erinner' mich nun«, versicherte der kleine Mann kopfnickend. Er wandte sich an den jungen Mann. »Das muß 'ne ziemliche Zeit her sein, nicht?«

»Er starb vor zwei Jahren«, antwortete der junge Mann. »Im letzten Kriegsherbst.«

»So? Damals. Jaja, jetzt erinner' ich mich«, rief der kleine Mann sofort, und seine Art des Sicherinnerns sagte, daß er sich an nichts dergleichen erinnere. »Er war in Übersee, in Frankreich, mit unsern Truppen, nicht? fragte er bündig.

»Nein«, antwortete der junge Mann höflich. »Er starb zu Hause an einer Lungenentzündung während der Grippeepidemie.«

»Ich weiß«, sagte der Mann bedauernd. »Die Grippe damals hat viele junge Leute vor der Zeit ins Grab gebracht. Aber eingezogen war er doch, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete der junge Mann. »Mehrere Male ausgemustert. Der eingezogen wurde, war der Lukas.«

»So, so-o-o«, sagte der Mann ein wenig betreten. »Es tut mir leid um ihn, war ein feiner Kerl, der alte Ben.«

Ein Augenblick der Stille trat ein.

»Und was für ein feiner Kerl er war, das will ich Ihnen sagen«, knurrte Mr. Flood plötzlich. Er hatte noch immer mit geschlossenen Lidern, schwerfällig schnaufend dagesessen. Nun blickte er mit einem finsteren, brutalen Ernst um sich. »Ich glaub' nämlich, daß ich den Ben gekannt hab' so gut oder vielleicht gar besser, als ihn seinerzeit sonst jemand kannte. Er hat fünfzehn Jahre bei mir gearbeitet. Fing mit zehn Jahren an am ›Courier‹, mit 'ner Zeitungsroute, dann ist er bei mir im Betrieb geblieben bis ein oder zwei Jahre vor seinem Tod. Und so kann ich Ihnen sagen: Bessere als den Ben gibt's nicht!« Bei dieser Feststellung sah sich Mr. Flood kampfbereit um, so, als hätte jemand den Charakter eines toten Heiligen in Frage gestellt. »Wohl wahr, er war keiner von denen, die groß daherreden, viel versprechen und nichts tun; er war einer, der was tat und kein Aufhebens davon machte. Auf den Ben war Verlaß! Da konnte kommen, was wollte. Wenn er sagte: ›Wird gemacht‹, dann wußte man, daß es gemacht wurde. Pünktlich, regelrecht wie 'ne Uhr, jederzeit stillschweigend auf dem Damm, zuverlässig und sicher den lieben langen Tag lang. Und dabei der stillste Mensch, der sich vorstellen läßt.« Mr. Flood, der eindrucksvoll gesprochen hatte, schloß heiser ab: »Da haben Sie den Ben!« Er wandte sich an den jungen Mann und fragte rauh: »Hab' ich recht? War der Ben so?«

»Ja, so war der Ben«, sagte der junge Mann.

»Nämlich«, fuhr Mr. Flood fort, »wenn man den Ben nicht grad was fragte, dann war er imstand und gönnte einem tagelang kein Wort. Nicht, daß sein Schweigen bös gemeint war, sondern das war so seine Art. Er hielt es für richtig, sich um seinen eignen Kram zu scheren, und von den andern erwartete er dasselbe.« Mr. Flood, von seiner Lobrede erschöpft, hielt schwerschnaufend inne.

»Wenn's mehr solcher Leute gäbe, stünd's besser um die Welt«, bemerkte das aufgeblasene Männchen tugendhaft, so, als wäre die Lehre, man solle sich um seinen eignen Kram scheren, sein frommer, täglich getätigter Glaube. »Aber leider gibt es viel zu viel Leute, die ihre Nase in die Angelegenheiten andrer stecken.«

»Schon recht«, meinte Mr. Flood grimmig. »Aber den, der die Nase in Bens Angelegenheiten gesteckt hätte, den hätt' ich sehn mögen. Ein zweites Mal hätt' er's bestimmt bleiben gelassen ... Beßre als den Ben gibt's nicht. Tatsächlich, ich hätt' von dem Jungen nicht mehr halten können, wenn er mein eigner Sohn gewesen wär'.« Er sprach dies aus wie ein Urteil. Er war tief bewegt. Er schnaufte einmal schwerfällig auf. Und mit der behutsamen Sachtheit des Gichtgeplagten, die alle seine Bewegungen charakterisierte, führte er seine Zigarre zum Mund, sog langsam und puffte nachdenklich den Rauch aus.

Und dann – unerwartet – sprach er weiter: »Nicht, daß der Ben je viel von einem Jungen an sich hatte«, meinte er mit überraschend aufblitzender Einsicht. »... er hatte vielmehr immer etwas von einem alten Mann an sich ... und gar nichts von einem jungen Springer ... Ei wirklich ... da fällt mir ein ...«, Mr. Flood kicherte aus verschleimter Kehle, »... schon damals, als er bei mir anfing, da nannten ihn die andern Zeitungsbuben ›Pop‹. So wie man zu 'nem alten Mann ›Pop‹ sagt ... ›Pop‹, da haben Sie den Ben! Ernst und gesetzt wie ein Alter, immer die Augenbrauen ganz tief 'runtergezogen ... das machte ihn so finsterblickend, selbst wenn er lachte ... und doch: Er war von den Besten, die es überhaupt gibt. Beßre gibt's nicht.« Und abermals hatte Mr. Flood einen Hustenanfall. Er hustete hart, schien zu ersticken, räusperte sich, stöhnte wie ein Tier, als er sich sachte-sachte über das blankgeputzte Messingbecken beugte, röchelte qualvoll, als er sein bauschiges Seidensacktuch aus der Rocktasche holte und sich den Mund abwischte. Dann lehnte er sich sachte-sachte zurück und seufzte tief auf. Er hatte seine Müh und Not, er schloß die Augen, atmete rasselnd mit kurzen Stößen, und schließlich, als er völlig erschöpft und ein weiteres Wort seinerseits völlig ausgeschlossen schien, schnaufte er matt und völlig unerwartet nochmals heraus:

»Da haben Sie den Ben!«

»Ah! Und jetzt erinnere ich mich genau an den Ben!« ließ sich plötzlich das aufgeplusterte Männchen vernehmen. Ein Erinnerungsbild war blitzhaft aufgetaucht. »Sagen Sie, war er nicht der junge Mann, der immer in den Weltmeisterschaftswochen mit der Telephonstrippe im ›Courier‹-Fenster stand und den Baseballscore auf der Tafel postierte?«

»Ja, jetzt«, keuchte Mr. Flood und nickte schwerfällig, »jetzt haben Sie ihn. Ganz richtig, das war der Ben.«

»Ja, jetzt seh' ich ihn vor mir«, sagte der kleine Mann andächtig und entrückten Blicks. »Neulich hab' ich an ihn gedacht. Ich ging am ›Courier‹ vorbei, einer der Wettkämpfe wurde gerade um diese Stunde ausgetragen. Ich blieb stehen und guckte ins Fenster. Und da postierte jemand, den ich nicht kannte, den Spielstand. Und da wunderte ich mich, was wohl aus jenem andern geworden wäre. Und der also war der Ben. So, so ...«

»Ja«, kam es heiser rasselnd von Mr. Flood. »Das war der Ben.«

 

Als der gichtische alte Lebemann von Ben, dem toten Bruder, gesprochen hatte, war es dem jungen Menschen auf einmal warm ums Herz geworden: Eine tote Zeit war in ihm erwacht, und er hatte eine Regung dankbarer Zuneigung verspürt für den verbrauchten, widerlich gedunsenen Feistling; es mochte wirklich in diesem Mann einst eine Spur von Verständnis gesteckt haben für den Toten, von dem er sprach, ein Verständnis, das, wenn es auch nur ungenau und blindtappend etwa soviel begriff, wie ein Hund, der den Mond anbellt, vom Kosmos der Astronomen begreifen mag, immerhin echt und zu erkennen war.

Dann, einen Augenblick später, während der junge Mensch zum Fenster hinausblickt auf die dunkle, immer-und-immer vorbeigleitende Erde, zieht er langsam seine Taschenuhr heraus, hält sie in der Hand und ... auf einmal fängt die Gegenwart an zu entschwinden ... Ben erscheint in der Schau ... Ben raucht, Ben blickt, die Braue finster gerückt, durch die Schaufensterscheibe am Zeitungsgebäude den kleinen Bruder fest an.

Ben schnickt den Kopf zurück, ein kurzer, knapper Ruck, scharf, mit angezogenem Kinn, eine Gebärde, die ein für allemal »Komm her!« heißt. Der Junge, gewohnt den Befehlen des Bruders zu gehorchen, tritt in den Vorraum der Geschäftsstelle ein und stellt sich wartend vor den Schalter der Anzeigenannahme. Ben steigt von der Schaufensterbühne herunter, legt den Kopfhörer des Fernsprechempfängers auf einen Tisch, kommt an den Schalter. Eine Weile mißt er den Bruder mit finster-wütendem Blick. Der Blick wird noch mißfälliger. Ben macht eine bedrohliche Gebärde mit der harten weißen Hand. Es ist, als wolle er dem Kleinen – über den Schalterbord hinweg – ins Gesicht schlagen. Statt dessen packt er ihn, zieht ihn dichter heran, und mit festen Fingern – Zupf, Zuck, Ruck – bringt er den zerschlissenen und verkordelten Selbstbinder des Kleinen in eine ordentlichere und annehmbarere Form.

Der Junge schickt sich an, wegzugehn.

»Wart'!« befiehlt Ben gleichmütig. Er zieht eine Schublade unterm Schalter auf, nimmt ein kleines, viereckiges Päckchen heraus. Mit gereizter Miene, ohne den Kleinen anzusehen, schiebt er ihm das Päckchen über den Schalterbord zu.

»Da ist was für Dich!« sagt er und geht weg.

»Was ist drin?« fragt der Junge verwirrt. Es wird ihm heiß und kalt vor Erwartung und Vorfreude.

»Aufmachen und selbst gucken!« knurrt Ben ohne sich umzudrehen.

»Aufmachen?« fragt der Kleine und starrt den Bruder dumm an, der, ihm den Rücken zukehrend, in irgendwelchen Papieren lesend, vor dem Schreibtisch steht.

»Also mach's auf!« faucht Ben. »Es beißt nicht.«

Der Junge nestelt am Bindfaden.

Indessen geht Ben zum Schalter zurück; es ist, als käme er geschlichen; er hat einen so merkwürdigen Gang, er »latscht« auf seinen stark einwärts gestellten Füßen, die er lautlos-lässig, mit langen streichenden Schritten und einem nach außen pendelnden Lupfschwung voreinandersetzt, während der Oberkörper sich ein wenig nach vorn neigt.

Ben steht nun am Hochpult neben dem Schalter vor dem aufgeschlagenen Anzeigenteil der Zeitung; er hat die Ellenbogen aufgestützt und mit der finstern Festigkeit seines Blicks überprüft er, von unten nach oben, Spalte für Spalte, die Abteilung kleiner Anzeigen unter dem Titel: »Gesucht wird«. Ben raucht beim Arbeiten, der scharfe, blaue, gekräuselte Qualm quillt ihm aus den Nasenlöchern.

Der Kleine hat inzwischen ausgepackt und hält ein Kästchen mit üppigem blauem Samt bespannt und wunderbar schwer in der Hand.

»Hast Du geguckt?« fragt Ben ohne aufzusehen.

Der Kleine findet die Druckfeder und öffnet das Etui: Da liegt auf weißen Satin gebettet eine goldne Uhr, und eine dünne goldne Kette ist um die Uhr herum gelegt. Die Uhr ist ein Wunder an Schönheit, ein ganz erlesenes Kunstwerk ist sie und fast so dünn und spröde und fein wie eine Waffel. Der Kleine starrt sie an, als wollten ihm die Augen aus dem Kopf fallen. Schließlich stammelt er:

»Eine ... eine Taschenuhr!«

»Sieht sie vielleicht aus wie ein Wecker?« spottet Ben ruhig. Er blättert um und prüft die Spalten auf der nächsten Anzeigenseite.

»Ist sie ... ist sie für mich?« fragt der Kleine schwerzüngig und starrt die Uhr an.

»Nein«, sagt Ben, »sie ist für Napoleon Bonaparte natürlich!« Er liest weiter. »Kleiner Blödel, weißt Du nicht, was für ein Tag heut ist? Muß ich die ganze Denkarbeit für Dich tun? Dir dient der Kopf wohl nur zum Hutaufsetzen, wie?« Dann, beiläufig, ohne auch nur eine Sekunde von der Arbeit abzulassen, meint er: »Sie gefällt Dir also, ja? ... Nun, sie hat übrigens einen Sprungdeckel auf der Rückseite, guck Dir den mal an!«

Der Junge dreht die Uhr herum, streicht mit der Hand über die schönglatte Rückseite der Goldwaffel, findet die Schnappfeder, der Deckel springt auf. Auf der Innenseite steht, in kleinen feinen Schriftzügen eingegraben:

EUGEN GANT
zu seinem 12. Geburtstag
am 3. Oktober 1912
von seinem Bruder Ben.

»Also«, sagt Ben gleichmütig nach einer Minute, »hast Du gelesen, was drin steht?«

»Ich – ich möchte Dir ...«, fängt der Junge schwerzüngig an und will sich bedanken. Aber ihm ist, als hätte er die Sprache verloren, und die Augen müssen ihm plötzlich erblindet sein, denn die offne Uhr in seiner Hand kann er nicht erkennen.

»O um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!« Ben, finster blickend, schnickt den Kopf mit einem kurzen Ruck schulterwärts, als spräche er zu seinem unsichtbaren Geist, der dort hinter ihm steht. Dann macht er eine spöttische, ruckartige Kinnbewegung gegen den kleinen Bruder. »Hör auf mit dem Quatsch!« befiehlt er nach einer Weile, sehr gereizt. »Gib lieber gut acht auf das Ding! Der alte Enderby ...« – so hieß der Juwelier, bei dem er die Uhr gekauft hatte – »... sagte mir, das Werk würde bei vernünftiger Behandlung fünfzig Jahre gehn. Verstanden?« Und nun bekommt seine Stimme den trockenen, absichtlich beleidigenden Ton. »Ich würde Dir somit abraten, Nägel 'neinzutreiben oder das Ding als Hammer zu benutzen. Aber das weißt Du wohl selber schon, nicht?« Endlich wendet er sich dem Bruder zu und blickt ihn still an.

»Du weißt doch, wofür man eine Uhr hat?« fragt er.

»Ja.«

»Wofür denn?«

»Sich an die Zeit zu halten«, sagt der Junge.

Ben schweigt eine Weile und blickt den Bruder an.

»Ja«, sagt er schließlich leise, und nun spricht all das aus ihm, was das Leben in ihm erweckt hat, all die bittre Verdrossenheit einer bodenlosen Resignation und ein Unmaß von Widerwillen, Zorn und Verachtung. »Ja, ganz recht, das ist's, wofür man sie hat ... Um sich an die Zeit zu halten ...« Der Ton müder Ironie in seiner Stimme steigert sich zum Ton leidenschaftlicher Verzweiflung. »... Und ich hoffe, daß Du Dich besser dranhältst, als wir andern daheim! Besser als Mama, besser als der Alte und – besser als ich! Gnade Dir Gott, wenn Du's nicht tust!« Er schweigt eine Weile. »Und jetzt«, sagt er dann leis und ruhig, »scher Dich fort, eh ich Dich umbringe!«

 

– »Um sich an die Zeit zu halten!« –

Und was ist dieser Traum von der Zeit, dies wunderbare und bittre Geheimnis des Lebens? Ist's der Wind, der auf kahlen Wegen das dürre Laub vor sich her treibt? Ist's die sturmwilde Flucht wütiger Tage, der sturmgeschwinde Vorüberzug der Millionen verlorener, vergessener, traumentschwundener Gesichter? Ist's der Wind, der um die Erde heult, alle Dinge von dannen peitscht, alle Menschen wie Gespenster dahinscheucht? Ist's das einzige rote Blatt, das noch am Zweig festhält, und das auf immer davongescheucht werden wird? Alles ist verloren und zerschellt im Wind; vor uns her fegt das welke Laub, vor uns her geschwind-schwirrend, rostig raschelnd, im Totentanz durcheinandergewirbelt stieben die Seelen der Gestorbenen vor der Wut des wahnsinnig-sinnlosen Winds. Und der Oktober ist wiedergekommen. Wiedergekommen.

Was ist das wunderbare und bittre Geheimnis des Lebens? Heißt's – wenn das wütige Tagwerk getan ist, die Leisigkeit des Abends und die Trauer des schwindenden Lichts empfinden, ferne Laute und zerschellte Rufe, Tritte und Stimmen, Musik und alles Verlorene hören und ein großes Etwas, das maßlos und mächtig in den Lüften murmelt?

Wir haben eine kleine Stadt gekannt und ihr Pflaster, die Räder, das Gepfeife und die beiernden Schellen – und in Nächten, die unfruchtbar kamen und gingen, sind wir wach gelegen im Dunkeln und haben der Stille das große Gebet unsres unerträglichen Begehrens vertraut. Und wir haben Stille gekannt, und am tiefsten die trostlose Stille des Flusses im Monat Oktober ... und was ist danach noch zu sagen? Der Oktober ist wiedergekommen, wiedergekommen, und Welt, Leben und Zeit sind fremder als Traum.

Mag es nicht sein, daß wir eines Tages erwachen aus dem wunderbaren und bittern Geheimnis des Lebens, aus diesem Traum von der Zeit, dessen bewegende und phantomische Wesen wir doch selber sind? Daß der Rauch, der alles Zeitgeschehen umwebt, dann verwehn wird? Daß wir, auf der Altane vorm Haus, unsres Vaters Stimme vernehmen, und die Blumen und Weinstöcke und die mondvollen, schweren Abende des sinkenden Augusts wieder da sind, und daß wir dann augenblicklich wissen: Wir leben, wir haben geträumt und sind nun wieder wach? Und daß wir dann etwas in der Hand halten, einen fühlbaren, wirklichen Gegenstand, ein Geschenk aus jenem verlornen Land, ein Zeichen aus jener unbekannten Welt, einen Beweis dafür, daß sie kein Traum war, und daß wir wirklich dort waren. Und da ist nichts mehr zu sagen.

Denn nun ist der Oktober wiedergekommen, er ist wiedergekommen, der fremde einsame Monat, auf dem Berg droben und im Tal drunten, und Du, Ben, tief tief unterm Hügel, kalt kalt kalt, kehrst nicht zurück.

– »Um sich an die Zeit zu halten!« –

Plötzlich schwamm ihm die Umgebung wieder ins Bewußtsein: die Stimmen der Männer im Raucherabteil dröhnten, er spürte den rastlosen Rhythmenstoß der Räder unter sich. Er hielt die Uhr in der Hand, und das Zifferblatt starrte ihn mit Zeigern und feingeschrifteten Stundenzahlen an. Es war eine Minute nach zwölf Uhr Mitternacht, Sonntag morgen, den 3. Oktober 1920, und er sauste im Eisenbahnzug durch Virginien, und diese Welt, dieses Leben, diese Zeit waren fremder als Traum.

 

Der Zug machte an einer der Städte Virginiens halt, und der rhythmisch aus Zeit und Andenken gewirkte Zauber, dem manche Reisende beim Eisenbahnfahren unterliegen, wurde auf kurze Frist unterbrochen. Diese Reisenden wurden sich nun bewußt, wie fremd und doch vertraut Laute und Stimmen auf sie eindrangen, und in augenblicklicher Erkenntnis nahmen sie Fühlung mit der ihnen zuvor unbekannten Stadt, die ihnen, so unmittelbar an ihr Leben rührend, durchaus bekannt und durchaus selbstverständlich vorkam.

Ein Arbeiter lief eilends draußen an den Wagen entlang und prüfte Rad für Rad mit klingendem Hammerschlag. Ein Neger zog mühsam einen mit Gepäckstücken hochbeladenen Handkarren vorbei. Und vom Bahnsteig kamen gelegentlich Stimmen: Schaffner, Schlafwagenbediente, Gepäckmeister, Bahnhofsangestellte, die einander freundlich, aber ohne Überraschung begrüßten, ein paar Worte über das Wetter, die Arbeit und Zukunftspläne wechselten und sich fast im selben Atem Lebewohl sagten. Die Schelle schellte, die Pfeife pfiff, die Maschine schnaufte, langsam kam der Zug ins Rollen ... und Bahnhof und Bahnhofslichter dann, ein paar Straßenbilder, das aufregend und heimsuchend Grelle einer Baumwollspinnerei bei Nacht, und schließlich die letzten harten Straßenlichter am Stadtrand ... und der Zug war wieder in voller Fahrt und brauste voran über die dunkle und einsame Erde.

Einer von den Männern im Raucherabteil, nämlich der Politiker, hatte neugierig zum Fenster hinaus auf den Bahnhof und die Stadt geblickt; nun wandte er sich an den jungen Mann:

»Ihr Vater ist zur Zeit in Baltimore, nicht wahr?«

»Ja, er liegt im Hopkins Institute. Lukas ist auch dort und sieht nach ihm.«

»So. Mir war nämlich, als hätte ich vor einer Woche oder vierzehn Tagen in der Zeitung davon gelesen, daß er dort wäre«, sagte der Mann mit dem blühenden Gesicht.

»Was fehlt ihm denn?« fragte Mr. Flood, nachdem diese Nachricht allgemach in ihn eingedrungen war. »Etwas nicht in Ordnung?«

Der junge Mann rutschte verlegen auf dem Polster herum, ehe er antwortete. Sein Vater hatte Krebs und lag am Sterben. Aber aus irgendeinem Grund schien es ihm unmöglich und ungeziemend, dies den Männern zu sagen. So sagte er denn:

»Irgendein Nierenleiden, glaub' ich. Er ist dort wegen der Radiumbehandlung.«

»Dieselbe Sache, die John Rankin hatte«, flocht hier der Mann mit dem blühenden Gesicht gewandt ein. »Eine Sache an der Vorsteherdrüse, nicht wahr?«

»Ja, das ist's«, sagte der junge Mann höflich und dankbar erleichtert. Die beiläufig-flinke, unrichtige Versicherung, sein Vater hätte »dieselbe Sache, die John Rankin hatte«, schien die Krankheit respektierlich zu machen und dem Krebs das Entsetzliche zu nehmen.

»Ich weiß, worum sich's handelt«, bemerkte der Mann mit dem blühenden Gesicht, vertraulich mit dem Kopf nickend. »Genau dieselbe Sache, die John Rankin hatte. Eine Masse Männer über fünfzig kriegt damit zu tun. John sagte mir, daß er zehn Jahre lang Todesqualen ausstand. Solche Schmerzen, daß er nachts zehn- bis fünfzehnmal aufstand, weil ihm das Leiden keine Ruhe ließ. An Schlaf, sagte er, sei überhaupt nicht zu denken gewesen. Das einzige, was man tun könne, wäre, im Zimmer auf und ab zu gehn. Es nahm ihn sehr mit, er war bis auf die Knochen abgezehrt und lief wie ein Toter herum. Schließlich ging er nach Baltimore und ließ sich operieren. Seitdem ist er wie neugeboren. Sieht besser aus als je in den letzten zwanzig Jahren. Ich traf ihn vor kurzem, und er sagte mir, er hätte über nichts zu klagen und wolle hundert Jahr alt werden. Tatsächlich sah er danach aus, ein Bild von Gesundheit.« Der Mann wandte sich an den jungen Menschen. »Also«, sagte er freundlich, »bringen Sie mich bei Ihrem Vater in Erinnerung, wenn Sie ihn sehen. Erzählen Sie ihm, Sie hätten mich getroffen und sagen Sie ihm einen schönen Gruß von Frank Candler.«

»Sie sind also mit ihm befreundet«, sagte Mr. Flood nach längerem trägem Anglotzen zu Mr. Candler und fragte dann mit der brutalen, geduldigen, irgendwie unheimlichen Neugier, die ihn auszeichnete: »Kennen Sie ihn gut?«

»Wen?! Den Mr. Gant!?« rief Candler aus. Die Frage schien ihn zu belustigen, und in seiner Entgegnung schwang die Bereitwilligkeit des Politikers, der andre Leute stets liebend gern überzeugt. »Aber gewiß! Mir denkt's kaum noch, wie lang ich ihn schon kenne! Eben seit er nach Altamont kam, und das ist ... warten Sie mal ... ungefähr vierzig Jahre her ... nein, etwas weniger.« Er dachte eine Weile angestrengt nach. »Meine erste Begegnung mit Ihrem Vater«, begann er dann, langsam und eindrucksvoll sprechend, die Stirn gerunzelt, die Augen unentwegt ins Leere gerichtet, »– war im Oktober 1882, und ich glaube ... ganz bestimmt ... ich bin meiner Sache so gut wie sicher ... ja! Irrtum ausgeschlossen! 82 war das Jahr, in dem er nach Altamont kam.« Mr. Candler schien ein Bild zu sehen, er berichtete: »Altamont, wissen Sie, war damals weiter nichts als ein Dorf an einer Straßenkreuzung, es hatte schätzungsweise knapp zweitausend Einwohner. Wirklich nichts weiter als ein Dorf. Oben am Stadtplatz stand das Gerichtsgebäude und drum herum waren ein paar Läden. Zwei Straßen weiter, und man war auf dem Land! Das waren Zeiten!« Mr. Candler lachte das herzhafte Lachen des Mannes vom Lande. »Da hat mir damals doch der alte Captain Bob Porter drei Bauplätze an der Pisgah-Avenue angeboten, einen Block vom Stadtplatz weg, ich solle ihm tausend Dollars dafür geben, und ich hab' ihn ausgelacht, daß er so einen närrischen Preis verlangte und gar noch darauf bestand. Nichts weiter als ein Dreckloch in einer Delle am Abhang, Captain Porters Säue wühlten drin rum ... ›und dafür‹, sagte ich zu ihm, ›soll ich Ihnen tausend Dollars zahlen? Halten Sie mich für verrückt?‹ ›Schön, dann lassen Sie's, eines Tages wird's Ihnen schon leid tun‹, sagte der alte Porter zu mir. ›Sie werden es erleben, daß eines dieser Baulose tausend Dollars wert ist!‹ Stellen Sie sich vor, eines!! Wenn heutzutag' nur eines dieser drei Grundstücke mein wäre, wäre ich ein schwerreicher Mann. Ich glaube nicht, daß dort jetzt ein Quadratfuß Land unter tausend Dollars zu kriegen ist. Oder irre ich mich vielleicht?« Er wandte sich an den kleinen, aufgeblasenen Mann, der neben dem jungen Menschen saß.

»Fünftausend wäre richtiger!« sagte der kleine Mann, pompös lächelnd und mit einer wichtigen Handbewegung. Und sich aufbrüstend lehnte er sich ins Polster zurück, so weit, daß seine kurzen Beine den Boden unter den Füßen verloren. »Jawohl, ich bezweifle sehr, daß dort ein Quadratfuß Land zu haben ist, für den man nicht fünftausend Dollars hinlegen muß.«

»Na ja, da hab ich's ja!« sagte Candler befriedigt. »Und ich hätte dort drei Grundstücke für tausend haben können! Was für eine Gelegenheit! Ich habe mir seitdem mindestens tausendmal in den Hosenboden getreten, daß ich sie mir entwischen ließ! Heut wär ich ein reicher Mann! Das zeigt aber so recht, wie's einem geht, nicht wahr?«

»Jaja«, sagte der wichtige kleine Mann im hellen Brustton der Überzeugung. »Wer die Voraussicht nicht hat, wird das Nachsehen haben.« Er kam sich geistreich und originell vor wegen dieser Bemerkung und blickte sich voller Selbstbewunderung um.

»Aber um auf Ihren Vater zurückzukommen«, sagte Mr. Candler nun zu dem jungen Mann, »... damals also, im Herbst 82, – das Jahr ist zuverlässig richtig – hab' ich ihn zum erstenmal gesehen. Lang kann er damals noch nicht in Altamont gewesen sein, höchstens ein paar Tage, denn in so einem kleinen Städtchen entgeht einem ja nichts. Ja!« rief er laut aus, und ein Erinnerungsbild schien in ihm aufzublitzen, »eben fällt mir sogar ein, bei welcher Gelegenheit er mir zum erstenmal vor Augen kam! Er stand mit zwei Niggern vor seiner Werkstatt. An diesem Tag gerade muß er dort eingezogen sein, denn er lud Marmor- und Granitklötze und ein paar fertige Grabsteine ab ... ja, an diesem Tag gerade muß er seine Werkstatt aufgemacht haben ... er hatte ein altes Haus an der Nordostecke des Stadtplatzes gemietet, dort, wo jetzt das Sluder-Building steht, ja, genau dort an der Ecke. Ich arbeitete damals im Weaverschen Geschäft, so ein Laden für alles war das, Kramerei, Haushaltungsgegenstände, Werkzeuge und dergleichen. Der Laden lag gegenüber dem alten Gerichtsgebäude, dort, wo jetzt die Blue Ridge Coal and Ice Company ihren Betrieb hat. Eines Tages kam ich vom Mittagessen zurück und ging wieder ins Geschäft. Ich war die Academy-Street 'raufgekommen, bog in den Stadtplatz ein, und da sah ich an der Ecke Ihren Vater. Ich weiß noch gut, daß ich eine Weile stehenblieb, denn an dem Mann war so etwas ... na, ich kann's nicht ausdrücken, was es war ... aber wenn man so eine Erscheinung einmal gesehen hat, vergißt man's im Leben nicht. Vor allem einmal, ihn unterschied die Art, wie er aussah und redete und schaffte, ganz und gar von den Leuten, die ich kannte. Er war auch so auffallend hochgewachsen, und mit seinem kräftigen Knochenbau machte er einen mächtigen Eindruck. Er wirkte ... groß, das ist's! Wie groß ist Ihr Vater eigentlich?«

»Sechs Fuß fünf Zoll«, sagte der junge Mann. »In seinen besten Jahren, heißt das. Jetzt wird's eine Kleinigkeit weniger sein, seitdem er altert und gebückt geht.«

»Nun, gebückt ging er damals nicht, wahrhaftig nicht. Er hielt sich kerzengrade, und bei einem Mannsbild mit so einer Statur fiel das auf den ersten Blick ins Auge. Er wirkte wirklich ungeheuer und stattlich groß, obschon er doch gar nicht voll und fleischig war, sondern im Gegenteil hager und hautig ... wirklich stattlich groß mit diesem mächtigen Knochenbau.« Mr. Candler unterbrach sich und maß den jungen Mann mit Schätzerblicken. »Nun ja, Sie schlagen freilich in die Familie Ihrer Mutter, Sie sind ein Pentland, und die Pentlands sind üppige Leute, vollfleischig und muskulös. Aber den Knochenbau haben Sie von Ihrem Alten. Sie werden noch stattlicher dastehen, wenn Sie erst mal Gewicht angesetzt haben und in die Breite gehn. Also, um auf Ihren Vater zurückzukommen, er wirkte unheimlich viel größer, als er eigentlich war ... er hatte das so an sich ... und man merkte es sofort an der Art, wie er die Nigger 'rumkommandierte und selber Hand anlegte ...« Mr. Candler schwieg eine Weile und wunderte sich. »Also, ich weiß nicht, was es war, jedenfalls aber weiß ich, daß mir nie zuvor so ein Mensch zu Gesicht gekommen war ... Um nur eins zu sagen, er war so gut angezogen! Ich hatte zum Beispiel nie einen Menschen gesehen, der zur Arbeit – ich meine zu der schweren Arbeit, die man mit den Händen schafft – gute Kleider anhatte. Aber da stand dieser Mann und schwitzte sich mit den Niggern um die Wette an diesen Steinquadern ab, und trug dazu bessere Kleider, als ich oder der Nächstbeste sie sonntags in der Kirche trug. Freilich hatte er den Rock ausgezogen und die Hemdsärmel aufgerollt und trug so einen gestreiften Arbeitsschürz, der bis über die Schultern zurückgeht, aber man sah eben doch, daß er gut angezogen war. Guter schwarzer Tuchstoff, vom Schneider nach Maß gemacht, und ein Hemd am Leib – stellen Sie sich vor, ein weißes Linnenhemd, gekocht, gewaschen und gebügelt, frisch aus der Wäsche! – und so einen Stehkragen mit Flügelecken und eine schwarze Seidenbinde um den Hals. Und so angezogen schreckte der Mann nicht vor der Arbeit zurück. Und wie er schaffte! Das erste, was ich ihn damals vollbringen sah, war, daß er mit einem ellenlangen Kettenfluch, der über den ganzen Platz hinschallte, die zwei Nigger verdammte. Die Kerle hatten sich geplagt und geschunden, um einen großen Marmorklotz auf die Holzrollen zu bringen, aber der Klotz rührte sich nicht. Da hätten sie ihn hören sollen! ›Barmherziger Gott!‹ ... ganz so pflegte er loszulegen ... ›Barmherziger Gott! Ist es denn so weit gekommen, daß ich alles selber tun muß! Und Ihr Kerle steht dabei und weidet Euch an meinen Qualen! Genausogut könnte ich mir ein paar Holzindianer aus dem Zigarrenladen holen, wenn ich mal ein paar Hände zum Helfen brauchte. In Gottes Namen! Laßt den Block da in Ruhe! Ich werd' ihn allein heben, krank und schwach wie ich bin!‹ Und nun packt er den Klotz an, ein Griff, ein Ruck und der Mordsblock rückt leicht und gefällig auf die Rollen. Die Gesichter dieser Nigger, na, ich sage Ihnen, die hätten Sie sehn sollen! Ich dachte, denen fliegen die Augen aus'm Kopf vor Staunen. Und da fing unsre Bekanntschaft an, denn damals hab ich Ihren Vater angesprochen, und ich weiß sogar noch, was ich zu ihm sagte. ›Na‹, sagte ich, ›wenn Sie das krank und schwach nennen, dann kommen Ihnen die Leute hierzulande bestimmt wie tot und längst begraben vor!‹«

 

In dem jungen Menschen hatten Candlers Worte tausend Erinnerungen geweckt. Jeder Zug am Wesensbilde des Vaters, den die Erzählung getroffen hatte, war ihm unmittelbar lebendig geworden als sein eigener, wirklicher Lebensanteil. Im Augenblick scheint ihm, daß jene verlorene, von der Schilderung heraufbeschworne Welt gar nicht tot ist, sondern noch im Glanz und Farbenzauber seiner Kindheit lebt, daß sie noch stolz und dicht und in heiler Ganzheit, aus Leidenschaft, Wut, Geborgenheit und Glücksal gewoben, da ist und besteht. Im Blute des jungen Menschen schwärmen nun tausend begrabene, namenlose und vergessene Leben, tausend fremde und geheime Zungen triebhaft auf und drängen sich aus dem Sperrgatter des Gedächtnisses. Es sind die Leben in der verlorenen Wildnis, die die Vorfahren seiner Mutter in ihm leben ... – die Zungen aber reden vom Antlitz der verborgnen Landschaft, von jener dunklen Hälfte seines Seins, nach der sein Herz begehrt, von der fruchtbaren, goldenen Erde, von der sein Vater kam.

Er kennt seinen Vater, diesen Farmerbuben, der an der Straße stand, als staubbedeckt die Truppen der Aufständischen auf dem Marsch in die Schlacht bei Gettysburg vorüberzogen ... und er erlebt diesen Tag: Die süßen Ackerdüfte dieser Gnadenlandschaft – Fluch, Witz und Gelächter der vorübermarschierenden Soldaten – das ohrenstichelnde Grillengezirp des schläfrig-flimmernden Mittags – die zahllosen Vogellaute aus Wäldern voll Geheimnis, grün und kühl – das leise Gedröhn. Und nachmittags das brütende Erwarten und Beben in der heißen, durchsummten, vom fernen Geschützfeuer durchhallten Luft. Den Einzug der Verstummung, des Friedens und der Stille um die Abendstunde ... Und dann liegt er neben seinem Vater in der giebligen Dachkammer des alten pennsylvania-deutschen Farmhauses, ja, er liegt da neben seinem Vater und den Brüdern seines Vaters – wachend und wartend und stumm –, und eine einzige unausgesprochene Frage ist in allen ihren Herzen, denn sie denken an den ältesten Bruder, der nun mit durchschossener Lunge auf dem Schlachtfeld liegt. Er sieht seinen Vater in der Dunkelheit, sieht die lange, hagere Gestalt, die großen, knochigen Hände, das lange, hagere Gesicht mit den kalten, grüngrauen, seicht und tiefen, rastlos und müden, merkwürdig einsamen Augen – den geschrägten, großen Schädel, der fast wie der Schädel eines Reptils geformt ist und eine eigne Daseinswürde hat, die Würde einer verschollenen Art. Und die großen Sterne Amerikas brennen am Himmel, und die weite, einsame Erde brütet ringsum mit Millionen Geräuschen, dem Geschwirr und Geschwing, dem Gesirr und Gesing, dem Schwärmen und Brummen und Surren und Summen und Lullen, dem Laut der Erdnachtstille und der ins Maßlose zeugenden Fruchtbarkeit. Und er liegt da mit seinem Vater und den Vatersbrüdern, sie sind still und warten und haben kein Wort für das, was sie bewegt, diesen Traum von der Zeit, dieses dunkle Wunder des Waltens, das – die alte Erde und den holden Weizen mit Blut netzend – an diesem Tag ein unsterbliches Geschichtsbild bei dem verschlafenen, nur zwölf Meilen entfernten Landstädtchen aufgerichtet hat.

Und dann sieht er den Steinmetzen über den Altamonter Stadtplatz kommen, die hagere Gestalt mit dem erdeverschlingenden Schritt; er hört die mit verhaltenem Atem gemurmelten Vorbereitungen seiner mächtigen Scheltrede; er sieht, wie der Alte, vor Hast vornübergebeugt, ausschreitet, wie er sich den Daumen leckt und sich räuspert im Vorgenuß seiner aufbegehrenden Wallung; sieht ihn, wie er, mit großen Fleisch- und Lebensmittelpaketen beladen, um die Ecke schießt, wie er die kurze Strecke bergauf bis zum Haus beinah rennt, wie er die Treppe nimmt, vier Stufen auf einmal, wie er die Pakete auf dem Küchentisch ablädt, ... und dann bricht der Sturm, der unaufhaltsame, los: Feuer, Raserei, Flüche, Bezichtigung. Jammer. Und dann kommt des Morgens Freude, die Nachrichten des Tags von der Straße. Und schließlich das dampfende, üppige Mahl.

Tausend erinnerte Bilder aus dem Leben seines Vaters, diesem Leben ständiger, rastloser Wut, füllen nun in einem Augenblick das Bewußtsein des jungen Menschen bis zum Rand. Und in diesem Augenblick ist's, als ob er alle diese Bilder wie durch ein Fernrohr sähe: sie fließen und schießen zusammen in ein unklares, einziges, furchtbares Bild, in dem von Anfang zu Ende die ganze zeitliche Lebensgeschichte des Vaters vollkommen gepackt und inbegriffen ist.

Im gleichen Augenblick wurde dem jungen Menschen bewußt, daß die Männer im Abteil aufbrachen. Jemand hatte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter gelegt. Es war der Mann mit dem blühenden Gesicht, der ihm soeben von seinem Vater erzählt hatte und ihn nun ansprach.

»Gute Nacht«, sagte der Mann. »Ich muß morgen früh in Washington 'raus, und falls ich Sie nicht mehr sehen sollte, möchte ich Ihnen viel Glück wünschen. Ich nehme an, daß Sie in Baltimore haltmachen werden, um Ihren Vater zu besuchen, ehe Sie weiterfahren, nicht wahr?«

»Ja, ja ...«, stammelte der junge Mann und erhob sich.

»Nun, dann vergessen Sie nicht, mich ihm in Erinnerung zu bringen. Erzählen Sie ihm, Sie hätten Frank Candler im Zug getroffen, und er schicke ihm seine besten Wünsche.«

»Ja – vielen Dank! – ich werd's gewiß ausrichten.«

»Und Ihnen viel Glück, mein Junge!« sagte der Mann und reichte ihm die Hand. Mit einem festen Händedruck und einem gutmütigen Augenzwinkern setzte er leis hinzu: »Und wenn Sie dann 'nauf in den Norden kommen, zeigen Sie den Leuten dort, aus was für einem Zeug Sie gemacht sind.«

»Ja – ja, ... gewiß ... – vielen Dank«, stammelte der junge Mensch und errötete im Stolz seiner Hoffnungen und vor Wohlwollen für den Mann, der ihm Gutes wünschte.

Dann war der Mann gegangen. Seine Worte hatten dem jungen Menschen plötzlich wieder zur Kenntnis gebracht, daß er am nächsten Vormittag seinen Vater besuchen würde. Diese Aussicht verdarb ihm augenblicklich die überschwengliche Freude an seiner Flucht. Sie zerstörte in ihm das Glücksgefühl des Entkommenseins. Sie schob sich wie ein Vorhang zwischen ihn und die Bilder von neuen Landen, neuem Leben und der strahlenden Stadt, denen er die ganze Nacht hindurch entgegengefahren war. Sie legte sich ihm aufs Gemüt wie ein Bleifittich mit einer unwägbaren, dumpfen Last von Verdruß, Entsetzen und Abscheu.

Er wußte, er würde seinen Bruder und seinen Vater treffen; er wußte, diese gefürchtete Unterbrechung seiner Flucht würde nur zwei kurze Tage dauern; er wußte, in dieser knappen Zeitspanne würde er wahrscheinlich zum letztenmal seinen Vater am Leben sehen – und doch erfüllte ihn die Aussicht auf diese Begegnung mit Ekel und mit dem heftigen Wunsch, so schnell wie möglich davonzukommen, zu vergessen und auf immer zu entfliehen.

Er wußte zutiefst im Herzen, daß er für den armen, kläglichen, wehleidigen Greis, den er am Vormittag besuchen würde, nicht eine Spur von Liebe hegte. Er wußte, daß er statt dessen Haß verspürte, und zwar jene elende Art von Haß, die aufkommt, wenn man – ohne zu lieben – Unerträgliches mitleidet. Jenen Haß des Abscheus und des Widerwillens, der dann geweckt wird, wenn man, ohne sich erbarmen zu können, heftig und allzuheftig mitempfindet, was ein andrer leiden muß. Jenen Haß, der sich gegen die Herz-, Hirn- und Nervenqualen und gegen die seelischen Zermürbungs- und Vermorschungsgifte, mit denen ein an einer ekelhaften Krankheit Hinsterbender das Lebensgefühl ansteckt, wehrt. Einen Abwehrhaß also, der aber Selbsthaß erzeugt, weil einen der heftige Wunsch, den Qualen zu entgehen, das Abscheuliche zu fliehen, das gräßliche Bild auszulöschen und zu vergessen, zur Selbstverachtung bringt.

Im Raucherabteil waren nur noch drei Männer zurückgeblieben; auch sie schickten sich an zum Aufbruch. Der alte Flood erhob sich schmerzgrunzend, warf seinen angekauten Zigarrenstummel vorsichtig in den Messingspucknapf, schlurfte auf gichtisch-sachten Plattfüßen zur Spiegeleinsatztür des Aborts, öffnete, trat ein, schloß ab. Das aufgeblähte, schwärzliche Männchen sprang auf, reckte die kurzen, fetten Arme und sagte:

»Ich geh' schlafen. Wir sehn uns morgen früh, nicht wahr, Jim?«

Der Mann, dem diese Worte galten, blickte auf aus der Zeitschrift, die er gerade las. Er hatte ein dünnes, zusammengekniffenes Gesicht mit hellen Sommersprossen. Er antwortete kalt, überrascht, mit Schärfe Abstand wahrend:

»Was? ... Ach so, ja! Gute Nacht, Wade!«

Dann erhob auch er sich, nahm vorsichtig die Hornbrille von der langen Spitznase, legte die Stangen vorsichtig bei und steckte die Brille in die obere Außentasche seines Rocks. Er griff nach der neben ihm stehenden Ledermappe. In diesem Augenblick betrat, von Robert Weaver und einem zweiten jungen Menschen begleitet, ein Mann das Raucherabteil.

Der Mann war ein langer, hagerer Engländer – Mitte der Dreißig, aber bereits erkahlt – mit tiefeingeschnittenen Zügen, kurzgestutztem Schnurrbart und dem herben Hochrot des Gewohnheitstrinkers im Gesicht. Er hieß John Hugh William Macpherson Marriott, war der jüngste Sohn einer Familie aus altem englischem Hochadel und hatte vor einem oder zwei Jahren die reiche Erbin Virginia Willets geheiratet. Mit Ausnahme des Spitznäsigen war der Engländer keinem der Männer anders als vom Sehen und Hörensagen bekannt; sein Eintreten wirkte ungefähr wie das Erscheinen einer Gestalt aus sagenhaften Bezirken, und der Grund hierfür war folgender: Der Engländer lebte mit seiner Frau bei Altamont auf dem riesigen Besitztum, das der Vater der Frau angelegt und seiner Tochter hinterlassen hatte. Alle Leute im Städtchen wußten um diese 35 000 Hektar, sie waren dann und wann einmal durch irgendein Stück dieses Besitztums gefahren, hatten die Farmen, Felder, Wälder, Weiden, Molkereien, Wirtschaftsgebäude und freilich auch die zum Besitz gehörigen wilden, rauchblauen Bergzüge gesehen. Schließlich hatten sie auch aus ziemlicher Entfernung auf das große Herrschaftshaus geblickt, auf die Giebel, Dächer und Türme dieses stattlichen Steinbaus, der einem der großen Schlösser Frankreichs treulich nachgebildet war. Aber sehr wenige Leute nur waren je in dieses große Haus hineingekommen oder hatten dessen vornehme Bewohner kennengelernt. So kam es, daß das Leben dieser Schicksalslieblinge die Leute im Städtchen fremd und wundervoll und wie das Leben von Sagenhelden dünkte. Es übte auf besondere Weise einen formstiftenden, bindenden, tonangebenden Einfluß aus: dort oben bekannt, zugelassen, zugehörig zu sein, galt den weitaus meisten Altamontern als des Lebens denkbar höchster Erfolg und erträumbar größter Triumph. Freilich konnte das nicht eingestanden werden, aber es war die Wahrheit. Das geheime Dichten und Trachten der Stadt drehte sich um das Leben des großen Hauses.

Der Engländer war eingetreten mit den schüssigen Bewegungen eines Mannes, der zwar stark getrunken hat, sich aber dennoch, dank der Gewöhnung, gut hält. Als er jedoch der Männer ansichtig wurde, riß er sich jäh zurück. Nach einer Weile betretenen Schweigens grüßte er mit der ruppig kurz herausgeblökten Freundlichkeit äußerst scheuer und sehr zurückhaltender Naturen:

»Hallo! ... Oh, hallo! ... Wie geht's?«

Diese Begrüßungen kamen ruckweise aus ihm heraus, er grinste förmlich und starrte die gichtische Gestalt des alten Flood an, der gerade aus dem Abort kam und ins Abteil schlürfte. Mr. Flood blieb stehn und erwiderte gleichermaßen erstaunt den Blick mit einem schier augapfelbrechenden, kinnladeverrenkenden Anstieren. Im Nu hatte sich der Engländer zusammengenommen, er schnitt wieder seine Begrüßungsgrimasse mit dem scheu-schnellen, zähnefletschenden Grinsen und blökte Flood und die andern Männer an mit einem abermaligen:

»O hallo! ... Hallo! ... Wie geht's Ihnen?«

»Leidlich gut, danke!« erklärte Flood nach einer dumpfen Pause auf diese meist unbeantwortete, gemeiniglich weder persönlich gemeinte, noch persönlich aufgefaßte Grußformel. »Wie geht's Ihnen?« Er stierte dumm weiter.

Der Engländer aber – verlegen-ärgerlich übers ganze Gesicht und den hageren Hals errötend – hatte sich bereits abgewandt und schien nun zu seinem höchsten Erstaunen den spitznäsigen, sommersprossigen Mann zu entdecken. Seine Begrüßungsworte waren zwar ebenfalls stoßweise und schnell herausgeblökt, aber dennoch bekundete der Ton seiner Stimme, daß zwischen ihm und dem Spitznäsigen Beziehungen freundschaftlich-vertrauter, die andern Anwesenden ausschließender Art bestünden.

»Oh! ... Da sind Sie, Jim! ... Wo stecken Sie denn die ganze Nacht? ... Na, ich sag's ja! ...« sprach er schnell, und ohne Antwort abzuwarten fuhr er fort: »Wollen Sie nicht auf einen kleinen Schlafgehschluck zu mir 'rüberkommen?«

Der spitznäsige, sommersprossige Mann, der sich die ganze Zeit über Abstand wahrend und geringschätzig-kühl benommen und die Mitreisenden wie Luft behandelt hatte, war wie im Nu ausgewechselt. Lächelnd trat er auf den Engländer zu und legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm. Er schien sich gar nicht genug tun zu können vor Freundwilligkeit. »Ei gewiß, Hugo ... mit dem größten Vergnügen natürlich ...«, beeilte er sich zu versichern. »Einen Augenblick! Ich will nur meine Mappe nehmen ...« Seine Stimme klang beinah bestürzt. »Wo hab' ich sie denn gerade hingelegt ...? Ah, da ist sie ja!« rief er aus. »Ich bin bereit, ... gehn wir also, ja?« drängte er und faßte die Tür ins Auge.

»Hugo! Hugo!« rief da Robert Weaver, der mit dem Engländer gekommen war, und den dieser nun vollkommen vergessen zu haben schien. »Sehn wir uns morgen noch, ehe Sie aussteigen?« Die Frage klang überhastig und tiefbegierig. Ton und Sprechweise Roberts verrieten denselben Eifer, den zuvor der Spitznäsige bezeigt hatte, – Freundschaftseifer von der Art, die ein wenig an die Betulichkeit schweifwedelnder Hündlein erinnert.

»Eh ... Was war das?« rief der Engländer überrascht, wandte sich schnell um und starrte Robert an. »Ach ja, Robert ... Ich muß in Washington 'raus ... Gucken Sie doch mal 'rein, wenn Sie dann schon auf sind!«

Ton und Gehaben sagten weiter nichts, als daß Roberts Gesellschaft für diese Nacht nicht weiter gewünscht würde, Robert aber nickte energisch-entschlossen und erklärte zufriedengestellt: »Gut! Gut! Wird gemacht! Ich komme morgen früh 'rein und sag' Ihnen Lebewohl.«

»Recht so!« sagte der Engländer trocken. Er blökte ein dreimaliges gute Nacht, wobei er sich mit förmlich grinsender Grußgrimasse an alle Anwesenden wandte, ohne aber jemand dabei anzusehen. »Ah! gute Nacht!« sagte er dann plötzlich nochmals, grinste und drückte die Hand des anderen jungen Mannes, der mit ihm und Robert hereingekommen war, – kurz, abschiedlich, auf eine endgültig entlassende Art, somit bekundend, daß er auf eine weitere Bekanntschaft mit diesem blonden, belanglos aussehenden Jüngling keinen Wert lege. Dann, seinen Gefährten vor sich her durch den grünen Türvorhang schiebend, ging er mit den verhalten-heftigen, unmittelbar-plötzlichen Bewegungen der Scheu hinaus.

Eine Minute später hatten sich die andern Männer, nachdem sie ringsum gute Nacht gesagt hatten, ebenfalls zurückgezogen, und die drei jungen Leute blieben allein im Abteil. Draußen war der Mond aufgegangen und überflutete Virginiens dunkle Erde mit Geisterlicht. Wandellos in unendlicher Wandelbarkeit, im ständigen Heranrücken und Hinwegziehen der Bildfluchten glitt diese große, mondbesuchte Erde vorbei. Der Zug fuhr dahin und dröhnte überwältigend eintönig im Rhythmus des zeitentbundnen Weltengangs, im Laut der Stille und des Immerdar.

 

Die Männer waren kaum gegangen, als Robert sich vor den jungen Menschen hinpflanzte, ihn eine Weile höhnisch-gestreng anstarrte und schließlich in seiner hitzig-hastigen Sprechweise, abgehackte Sätze oder Satzteile im Stakkato hervorschnellend, losbrach:

»Nun, Obriste! ... Was können Sie zu Ihren Gunsten vorbringen? ... War Gras hinter Ihrem Hintern oder ward die Übeltat in Ihrem Hudson-Super-Six begangen? ... Kommen Sie, Herr! ... Erklären Sie sich! ... Waren Sie nüchtern oder besoffen?«

Er schnickte den Kopf zurück und lachte ins Leere, sein schrilles, fremdes, hartes Gemecker. Seine tieftönende, eigentlich gewinnende Stimme schnappte beim Lachen stets in ein heiseres Falsett über. Sein schmales Jungengesicht sah fast qualverzerrt aus. Tiefinnen in seinen hohlblickenden, nun vom Trunk entflammten Augen spielten die ersten Blitze jenes Wahnsinns, der ihn später zerrütten sollte. Plötzlich wandte er sich mit einem jähen Kinnruck an den jungen Menschen und sagte in einem peinigend viel- und nichtsagenden Ton:

»Verrückt! Verrückt! Verrückt! ... Verrücktester Mensch, der mir vorgekommen ist! ...« Er hielt unvermittelt inne, starrte den jungen Menschen mit überspanntem Blick eine Weile an, begehrte dann in einem ungeduldigen Anklageton, als hätte der andre etwas vollkommen Außergewöhnliches und Unvernünftiges begangen, zu wissen:

»Was hast Du die ganze Nacht mit Dir angefangen? ... Sag mir das nur! ... Meiner Treu! ich begreif nicht, wie Du's fertigbringst! ... Dasitzen ohne einen Menschen, mit dem sich reden läßt! ... Ich würde verrückt so allein!«

Er stand da in seinen gutgeschnittenen Kleidern, er schob plötzlich beide Hände in die Hosentaschen, so, daß man einen Augenblick seine unterm Rock in Herzhöhe getragene Bruderschaftsnadel sehen konnte, er starrte mit seinen rastlos-wütigen, verzweifelten Augen, er klimperte mit ein paar Geldstücken in der Tasche, er sah ungeduldig weg, schüttelte den Kopf, meckerte leis, sprach vor sich hin ins Leere:

»... geht über meine Begriffe ... seh' einfach nicht, wie er's fertigbringt ... verdammtester Kerl, der mir vorgekommen ist ... ich würde verrückt werden, glatt verrückt ... so allein ...«

Unvermittelt wandte er sich wieder an den jungen Menschen, musterte ihn höhnisch gestreng, ein verschmitztes Lächeln huschte um die Winkel seines dünnlippigen, scharfgezogenen, nervösen Munds. Er fragte heiser, bezichtigend:

»Weißt Du, was sie daheim von Dir sagen? ... Was Sie denken? ... Was die alten Weiber tun! ...«

»Hör auf, Robert!« schrie der junge Mensch, am Ersticken vor Wut und sprang auf. »Laß den Blödsinn! Ich will's nicht wissen! Mir machst Du nichts weis! Sie sagen nichts!«

Robert schnickte den Kopf zurück und meckerte hämisch-triumphierend.

»Natürlich sagen sie was!« versicherte er feierlich ernst. »Du solltest Dich drum kümmern! ... Wirklich wahr, ich hab' überall in der Stadt über Dich reden hören ...«

»Lügner!« schrie der junge Mensch. »Was ist's denn, das Du gehört haben willst! Nichts! Gar nichts!«

»Gewiß hab ich was gehört! Ich schwör' Dir ...«, wiederholte Robert feierlich-dumpf seine Versicherung. »Weißt Du, was ich erst neulich hörte? ... nun ... ein altes Weib ... Betschwester aus der Baptistenkirche ... sagt, sie war mit Deiner Mutter aufgewachsen ... hätt' sie ihr Lebtag gekannt ... nun ja, sie betet für Dich! ... Und ich schwör Dir ...«, versicherte Robert mit Eidesstimme, »ich schwöre Dir, daß sie's tut.«

»Was?! Betet für mich?« schrie der junge Mensch entrüstet. Gleichzeitig aber wurde ihm eiskalt ums Herz und speiübel; er verspürte das heftige Unbehagen, das einen Menschen in der Jugend leicht befallen kann bei dem unerträglichen Gedanken, daß die Leute von ihm, seiner Begabung und seiner Zukunft gering denken. »Was!? Für mich beten!« schrie er aufgebracht. »Zum Teufel! Warum sollte irgendwer für mich beten?«

»Warum? ... Versteh' ich auch nicht ... hab' ich auch sofort gefragt ...«, pflichtete Robert heftig nickend bei. »... es gibt halt so Leute. Bilden sich ein, Du wärst reif für die Hölle ... Weißt Du, was ich neulich hörte? ... Da sagte doch eine Frau, der Eugen Gant hat sich dem Teufel ausgeliefert ... verloren, seit er auf der Staatsuniversität war ...«

»Robert!« gellte der junge Mensch. »Ich glaub' Dir kein Wort! Das schwindelst Du zusammen!«

»So wahr mir Gott helfe, ich hab's gehört! ... So wahr ich hier stehe! ...«, schwor Robert fest. »Sie sagte, Du wärst dort auf die Universität gegangen und hättest Philosophie studiert ... das hätt' Dich fürs Leben verdorben ... ein regelrechter Ungläubiger wärst Du geworden ... glaubtest weder an Gott noch an sonst was ... Sie sagte«, behauptete Robert böswillig, »sie müsse Deine Mutter aufrichtig bedauern.«

Der junge Mensch gebärdete sich wie ein Rasender. »Meine Mutter bedauern!« brüllte er. »Warum sollte das alte Hundeweib meine Mutter bedauern? Meine Mutter kann gut auf sich selber achtgeben! Sie braucht niemanden, der sie bedauert! Na, schon gut!« knirschte er erbittert, plötzlich überzeugt, die Geschichte sei wahr. »Sollen sie beten! Beten, bis sie Schwielen an die Knie kriegen! Das heuchlerische Dreckpack! Ich werd's ihnen schon zeigen! Einen hinterm Rücken anzustänkern und dann noch behaupten, sie beten für einen! Ich bin froh, daß ich aus dem verfluchten Nest weg bin! Dieses doppelzüngige Gezücht! Ich trau' keinem Menschen dort! So wenig wie ich 'nen Elefanten beim Schwanz nehmen und 'rumschleudern kann.«

»Ganz recht ... ganz recht ... vollkommen Deiner Meinung ... Weißt Du, wie's ist? ... Einfach furchtbar ist's, genau das ...«, bestätigte Robert mit ernstem Kopfwackeln.

Es war außerordentlich, wie heftig die eitle Schwatzmär den jungen Menschen aufregte. Die Behauptung, irgendeine Unbekannte bete für sein Seelenheil, und gewisse Frömmler betrachteten ihn als »verloren«, war ihm wie ein vergifteter Stachel ins Fleisch gefahren, und zwar genau in dem Augenblick, in dem er die Sache unvermittelt -plötzlich geglaubt hatte. Er konnte sich nun nicht mehr entsinnen, daß er zuvor das Zeug – mochte es wahr oder erfunden sein – für unwichtig gehalten hatte, einfach für einen Tratsch, den Robert böswillig auftische, um ihn zu ködern. Nun war ihm zumute, als wäre ein endgültiges, untilgbares Urteil gegen ihn ergangen, er war blindlings aufgebracht gegen seine namenlosen Widersacher. Grimmig entschlossen, mit diesem Schicksal fertig zu werden, erklärte er: »Schon gut! Ich werd's ihnen zeigen.« Er blickte zum Fenster hinaus auf die vorbeigleitende einsame Erde und dachte dumpfbrütend und verzweifelt-froh: »Gott sei Dank, daß ich dort weg bin! Nun kommt neues Land. Neues Leben. Menschen meiner Art werden sofort erkennen, wer ich bin. Und bei Gott, die andern kriegen's gezeigt, sie können sich drauf verlassen! ...« Mitten aus diesen finstern Gedanken heraus murmelte er auf einmal laut: »Schon gut! Zur Hölle! Sie kriegen's gezeigt!« – und wurde augenblicklich gewahr, daß Robert in ein hämisches Gemecker ausbrach, und daß der hellhaarige, rotwangige, belanglos-hübsche Bill Creasman sich mit überwallender, prahlerischer Kameradenbiederkeit an ihn wandte.

Creasman, angetrunken, außerdem von dem gesellschaftlichen Erfolg, den ihm der Abend gebracht hatte, in gehobene Stimmung versetzt, schlug den jungen Menschen gutmütig auf die Schulter und redete ihm zu: »Laß Dich doch nicht nasführen, Eugen! Zur Hölle mit den Leuten! Was macht Dir's, was sie reden!« Er zog eine Flasche aus der Tasche und bot an: »Da, trink mal!« In der Flasche war farbloser Maiswhisky, konzentriertes Rohdestillat, das wüste und jache Getränk, dem die beiden offenbar schon tüchtig zugesprochen hatten.

Der junge Mensch nahm an, entkorkte und schüttete zwei oder drei kräftige Schlucke hinunter. Augenblicklich war er wie blind und am Ersticken. Das Zeug brannte wie Feuer. Er schluckte krampfig, schnappte nach Luft, bemühte sich mannhaft, unter keinen Umständen merken zu lassen, was für eine Anstrengung es ihn kostete, das widerliche Gesöff bei sich zu behalten.

»Da ist Murr drin, was? Wie wenn ein Maultier nach hinten ausschlägt! Meinst Du nicht auch?« sagte Creasman, als er die Flasche zurücknahm.

»Ja, fein. Bessern hab ich nie getrunken«, sagte der junge Mensch heiser, schnappte nach Luft und blinzelte ein paarmal rasch, weil ihm das scharfe Zeug die Tränen in die Augen trieb.

»Sag's, wenn Du mehr willst«, sagte Creasman. »Ich hab' noch zwei Flaschen in meiner Schlaf statt stecken.« Er setzte an, lehnte den Kopf zurück und trank in langen Laufschlücken. Ein Neuling war er offenbar nicht.

»Verdammt!« rief Robert, der ihm zusah. Und im Ton des erstaunten Nicht-für-möglich-Haltens meinte er empört: »Wie könnt Ihr das Zeug nur so glatt 'runtersaufen?« Er schüttelte sich, als ob ihm schaudere, schnitt eine Fratze. »... Puh! ... Zum Kotzen so'n Gesöff! ... Brennt ja 'nem Messingaffen die Därme durch! ... Ich versteh einfach nicht, wie Ihr so was vertragt!« Er nahm die dargebotene Flasche und jagte sich, dreimal kurz schüttend, den Rest durch die Gurgel. Ihn schauderte, er schnitt eine Fratze, sah sich um, schien nicht zu wissen, wo er die leere Flasche hinschmeißen sollte, er meckerte und legte wieder empört los: »Das Zeug bringt Euch doch um! ... Wißt Ihr das nicht? ... Wie könnt Ihr's bloß so 'runtersaufen? Verrückte Kerle! ...«

Plötzlich ließ er die Flasche geschickt in der Tasche verschwinden. Der pompöse kleine Mr. Wade trat ein, im Hausmantel und blauen Schlafanzug, Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta in der Hand.

»Guten Abend ... ähähä ...«, grüßte Robert verbindlich mit leichter förmlicher Verbeugung.

»Na, die jungen Leute sind noch auf, was?« stellte das aufgeblasene Männchen mit gewohnter Treffsicherheit fest.

»Jawohl ... ähähä ... grad aber am Aufbrechen ...«, erklärte Robert liebenswürdig. Er warf den beiden andern einen warnenden Blick zu, den er mit leichtem Kinnruck auf den kleinen Mann bezog. »Kommt mit!« murmelte er und sagte laut zu Mr. Wade, der, den Rücken dem Abteil zugekehrt, mit gezückter Zahnbürste vor dem weißmetallenen Waschbecken stand: »Schon unterwegs ... ähähä ... Gute Nacht!«

»Gute Nacht! Wiedersehn morgen früh!« sagte Wade.

»Jawohl ... ähähä ... Gute Nacht!« meckerte Robert wohlerzogen, machte eine strenge Miene und ging, den beiden andern voran, hinaus auf den Gang. »Der Kerl sollte nicht sehn, daß wir saufen«, erklärte er draußen halblaut. »Wo kämst Du hin, wenn er sich's in den Kopf setzte, daß du säufst? Er hat die größte Bank in der Stadt! ... Ei!« riet er unvermittelt, »... gehn wir 'naus auf die Plattform! ... da sieht uns keiner!«

»Geht nur zu, ich komm' nach! Ich hol' noch 'ne Flasche!« flüsterte Creasman und verschwand in dem bereits abgedunkelten Gang zwischen den zweistöckigen, mit grünen Vorhängen abgeschlossenen Schlafstätten. Im Nu war er zurück. Die drei traten hinaus auf die Plattform am Ende des Wagens, schlossen die Tür hinter sich, und vom Donnergalopp der Räderstöße geschaukelt, tranken sie große Schlucke von dem rohen, feurigen Whisky, der ihnen hitzig züngelnd und heftig pulsend die ständig sich steigernde Illusion maßloser Machtfülle und grenzenloser Kraft ins Blut, in die Gewebe, ins Bewußtsein trieb.

Und vorüberflutend, in eine unsterbliche Stille verzaubert, lag die alte Erde Virginiens träumend im Mondlicht.

Da sind sie also nun, drei Atome an der Riesenbrust der gleichmütigen Erde, drei Burschen aus einem Städtchen, das von stillen Bergen eingeschlossen schon weit weg liegt und nun nur noch ein winziger Fleck auf dem ungeheuren Schläferantlitz des Kontinents ist, drei junge Kerle, die zum erstenmal ins Leben hinausfahren, ihrem Bild von der fernen verzauberten Großstadt entgegen, überzeugt, daß ihr Sieg dort erglänzen wird, wenn auch so mancher ihresgleichen dort Bitternis und Staub gefunden hat. Da sind sie nun und werden im großen Wurfgeschoß des Zugs über das einsame Antlitz der Erde hingeschleudert. Drei aus der Ziffer derer, die die Erde beschwärmen, drei Gesichter aus den Millionen Gesichtern, drei Tropfen aus der nie endenden Flut; und jeder eine Flamme, ein Licht, ein glorreich Leuchten, jeder überzeugt, daß sein Schicksal in den brennenden Sternen steht, daß der Mond seine künftigen Glücksale bewacht, daß die riesige Erde, Nährerin und Mehrerin seines Ruhms, in ihm ihren einzig erkorenen Liebling betreut, die unsterblich stille Erde, über die hin er nun durch die Nacht braust, er, der schon mitten ins Bewußtsein und in den Willen der sagenhaften, nie endenden Stadt gestellt ist, an deren millionenfüßigem Leben er morgen teilhaben wird.

Und deswegen stehen sie auf der schaukelnden Plattform am Ende des Zugs, wild und dunkel und jubelnd von dem Trank, den sie tranken, wilder noch, dunkler noch, jubelnder noch von der Wut, die ihnen das Herz schwellt, der wahnsinnigen Wut, die durch die Adern treibt, der unbezähmten, maßlos mächtigen, nicht auszusagenden Wut, die ihnen in innerster Seele wütet. Und die großen Räder stoßen und schmettern unter ihren Füßen, und was die großen Räder stoßen und schmettern, ist ein Reim dem Wahnsinn, eine Sprache dem Hunger und der Gier, eine Bestätigung der ganzen unbezähmten, trunknen, überschwenglichen Wut, die ständig in ihnen aufbegehrt, ansteigt, schwillt.

Klick, klack, klacketi-klack; klick, klack, klacketi-klack; klick, klack, klacketi-klack; klick, klack, klacketi-klack; – Hipp, hopp, hacketi-hack; stipp, stepp, racketi-rack; komm' und hol's dir, komm' und hol's dir, hicketi, hicketi-hack! – Ruck, Schuck, Zuck und Schmiß; friß die Erde, friß sie, friß! Pack sie, würg sie, verwind sie im Wurf! Rein in die Weiche, 'rum um die Kurv'! Grad fahr schön stad, friß sie auf im Lauf! Achtzig-Meilen-die-Stund'-mußt-du-eilen, drum sauf; sauf sie auf, sauf die Erde, die Erde auf! Ruck-Zuck-Schluck im schlurrenden Schlur-r-rf!

– Ui-ih!

– Wau-u!

– Verdammt!

– Gieß' 'runter, Junge!

– Du auch, altes Langbein von einem Wuschelkopp, von einem Sohn einer Hündin! Uah-ah!

– Wupieh, Wah-wah! Whei! Gott verdammt!

– Ui-ih! Hastedenruckgespürt?

-Was??!

– Ob-Du-den-Ruck-gespürt-hast?! Fahr zu! Du Kerl da vorn! Schneller! Schneller!! Laß doch die Karre entgleisen, Junge! Was brauchen wir'n Gleis?! Zur Hölle damit! Was?!

– Wo geht denn der verdammte Zug hin, wenn wir durch Virginien durch sind?

– Maryland.

– Maryland, oh je! Marys Land! O mei, da will ich nicht hin! Lucys Land war mir lieber. Prost auf die Lucy, Jungs! Bessere Mädchen gibt's nicht als die Lucy Bowles!

– Bist, Robert, Knab, zugegen?

– Herr zur Stelle!

– Dann sag: hast Du das Fräuwelein gesehn auf Koje Nummer Sieben, untre Schlafstatt?

– Das hab' ich, meiner Treu. Ein artig Ding!

– Dann schweig von ihr, Du Narr, denk nicht an sie! Bild', stolzer Gockel, Dir nicht ein, Du könntest ins arge Lustnetz diese Holde locken, ein Täubchen ist sie, und dazu ein Reh, ein makelloser Schwan, ich sag's! ein hübsches Ding!

 

Und Virginien lag träumend im Mondlicht. In Louisianas Tiefland drunten zittert das splittrige Mondlicht, glittert das flittrige Bild vieler Flüsse im Mond, und sie säumen und träumen im Mondlicht.

– Mo-o-o-ondlicht!

– Träumen und säumen im Mondlicht.

 

WHR-RAMM!-RRTSCH!-SCHSCH!

– Wau-uh! Nun, Gottverdammt, gib ihr Saures! Wau-uh!

Mit Schlagdonner und Wetterleuchten, Schallprallgebrüll und Sturmwindwut rast auf dem Nebengleis der südwärts fahrende Zug, und – tiefer berückt nun, verzückt nun, beglückt nun die Schau Virginiens im Mondlicht.

Und nun, als hätte er Fahrtgeschwindigkeit von dem Vorüberfahrenden gewonnen, rumpelt und schuckert und schlingert und springt mit neuerwachter Dämonenwut der Zug in die Nacht.

Mit Schmetterpäng und Höllenlärm und gottverdammtem Fluch, her mit der Pulle, trinkt, Jungs, trinkt! Virginiens Macht liegt allgepackt im Mond! Heil dir, Du Teufelzauber-Schmetterpäng-Maschine! Stahlstoß und Schmeißgestäng des Triebwerks! Flammenfeuerrachen! Sturmstrich der Kolbenstangen an den Rädern. O Donnerbolz der Hast! Du großer Erdverschlinger, Städtebringer, heil!

Und heil Dir, alter Maschinist! Heil Deinen Habichtsaugen dämonglitzig aufs Gleis gerichtet! Und an der Drossel Deiner klugen Hand im Schutzhandschuh! Du Stoppelbart! Du schutzbebrillter Sohn von einer Hündin! He! Reiß doch die Drossel auf, gib Dampf und laß uns rasen! Wau! Friß doch Virginien auf, sauf's auf!! He Heizer! Schaufel drauf! Du Niggerbaptist, gib ihr Futter! O Jungs, o Jungs! Ich bin ein Berstebauch von einem Bastard aus dem Staate Alt-Catawba, ein Raufbold, Draufbold, Saufbold, Jungs, und das da ist mein Zug! Gott schütze ihn, er ist verdammt der beste Zug seit Züge fahren! Wo geht das Ding denn hin? Ah, Pennsylvanien, sagst Du?! Bloß daß mir keiner was dagegen sagt. Mein Vater kam aus Pennsylvanien, Jungs, und war verdammt der beste Mann, der je gelebt hat! Hat Krebs und sechs Doktoren, und so vereinte Kräfte kriegten ihn nicht tot! Zur Höll' damit, wohin die Fahrt jetzt geht! Zur Höll' mit Baltimore, New York und Boston! Verdammt noch mal, laßt doch den Zug entgleisen! Wir wollen uns doch die Welt ansehn! Wir fahren in den Westen! Wir schaffen's durch die Wälder, Felder, über Berg und Fluß, die Pässe, durch Nebraska, durch die unbekannten Ebenen, Ohio, Kansas! Wir halten in Dakota, Minnesota, im breiten Tiefland, wo die Erde furchtbar fruchtbar ist und schwarz und üppig-schwer und anders als im Osten, aber nur, um einmal auszusteigen, zu verschnaufen und zu spüren, wie der Boden uns untern Füßen federnd dröhnt und schwingt!

 

Und Virginien lag träumend im Mondlicht. Und an Floridas leuchtenden Wassern schliefen die Töchter des Reichtums, die schönen und lieblichen Töchter im schimmerlebendigen Wasser des Mondstroms, Stromtöchter, säumend und träumend im flimmernden, glimmernden Mond.

– Drauf, Junge, drauf!

– He, heb noch einen! Runter mit, Gott-verdamm-Deine-Seel, 'runter damit!

– Bei Gott, ich trink' sie aus und überflut' die ganze Erd' Virginiens, und Maryland ersäuf' ich, und in Pennsylvanien soll Überschwemmung sein! Ich werd' sie stromab bringen, die –

– Stromtöchter, säumend und träumend im schimmernden, flimmernden Mondlicht, Mondlicht, Mondlicht.

Und Virginien lag träumend im Mond.

 

Der Mond glänzte auf die Ödnis der Küsten Amerikas, aufs Geschling und Gezisch der Gezeiten, auf den Schwall und Prall der Brandung, die an einsame Strände schäumt. Der Mond glänzte auf die Millionen Einschnitte, Saugstellen und Höhlungen des Ufers, er glänzte auf das glitzernde Meer, das ewig die Erde ein bißchen benagt. Der Mond glänzte auf die Wildnis, er fiel auf schlafende Wälder, er träufte durch reges Laubwerk, wob seltsame Muster auf den Boden und füllte das Katzenauge mit glimmglütigem Gelb. Der Mond schlief auf Gebirgen, er bettete sich stumm in Wüsten, er zeichnete die Schattenspuren großer Felsen wie verwitternde Zeit. Der Mond vermählte sich mit wandernden Flüssen, er begrub sich im Herz großer Seen, er blinzelte wie ein Geblink von Fischheeren auf Wasserspiegeln. Der Mond umfing die Erde in ihrem ganzen irdischen und unirdischen, tausendgesichtigen Sein, er betünchte den Kontinent mit Gespensterlicht, einem Licht, das allen Dingen, die es anrührte, wesenseigen ward. Und so schwoll Mond herein mit dem Meer, floß Mond dahin mit den Flüssen, lebte Mond still in den Lichtungen des Waldlands, wo kein Mensch wachte.

Und im Walddunkel flatterten große Vögel zu ihren Schlafplätzen; seltsame und heimliche Vögel, Krickenten, Ziegenmelker und fliegende Rallen kehrten im schlafenden Waldland zu ihren Plätzen mit einem Flattern, das dunkel war wie das Herzflattern schlafender Menschen. Auf Betten aus Farrenwedeln und den Blättern kaum bekannter Pflanzen, wo Taranteln und Vipern und Nattern sich am eignen Gift in den Schlaf betäubt hatten, – auf üppigem Dschungeldickicht, wo grüngolden, harschrot und glanzblau stolzbeschopfte Vögel mit hirnlosem Gekreisch aufschrien –, schlief das Mondlicht.

Das Mondlicht schlief über dunklen Herden, die sich in der Nacht langsam grasend rührten; es legte eine Decke auf einsame Dörfer, es fiel am mächtigsten auf das ungebrochene Gewoge der Wildnis, es grellte auf Fensterscheiben, es strich über die Gesichter schlafender Menschen.

Schlaf lag auf der Wildnis, lag auf dem Antlitz der Völker, lag still in den Herzen der Schläfer, – und tief auf die Tieflande, hoch auf die Höhen ergoß er sich leise, sanftfließend ... Schlaf ... Schlaf ... Schlaf ...

– Robert.

– Komm, Eugen, gehn wir schlafen!

– Muß Dir erst was sagen, Robert!

– Narr, komm doch, geh schlafen!

– Schlafen? Scher dich zum Teufel! Schlafen geh ich erst, wenn mir's verdammt paßt.

– Hopp, Eugen, komm mit! Du hast genug. Gehn wir schlafen!

– Creasman, Du magst ja 'n ganz netter Kerl sein, aber ich kenn' Dich nicht näher. Und das da geht Dich nichts an. Robert ... ich muß Dir was sagen, verstehst Du? Du hast da heut nacht so was vorgebracht ... gefallen hat mir das nicht ... gelt, sie beten für mich, nicht wahr, Robert?

– Narr, verdammter! Du weißt ja nicht mehr, was Du sprichst! Hopp! Gehn wir schlafen!

– Ich und schlafen gehn! Du Bankert, also beten täten sie für mich, was? Besser bet' für Dich selber, Du blutiger Bruderschaftsnarr!

– Der verdammte Narr ist verrückt geworden. Hopp, geh mit! Schlafen!

– Ich und schlafen gehn! Weißt Du noch, was Du damals gesagt hast, Du Sohn einer Hündin?

– Wann? Damals? Verdammter Narr, Du weißt ja nicht mehr, wovon Du sprichst!

– Werd's Dir schon sagen. An dem Tag, als wir nach der Schule die Chestnut Street 'runterkamen, Du und ich und Jim Curtis und Ed Petri und Bob Pegram und Carl Hartshorn und Monk Paul und noch ein paar aus der Klasse ...

– Verdammter Narr! Chestnut Street! Ich weiß nicht, was Du meinst.

– Ja! Du weißt's ganz genau! ... und Irwin und Jim Holmes und noch ein paar Buben aus der Klasse waren dabei. Erinnerst Du dich, was Du da gesagt hast, du Sohn einer Hündin!? Was? Der alte Mr. English war da in seinem Garten und verbrannte welkes Laub, und es war Oktober, und wir kamen grad aus der Schule heim, und man konnte die Laubfeuer riechen, und da hast Du gesagt: »Das da ist der Sohn von dem Grabsteinmetzen Mr. Gant!«

– Verdammter Narr, ich weiß nicht, was Du da meinst!

– Natürlich weißt Du's, Du Sohn einer Hündin mit Deiner billigen Bruderschaftsnadel! Du warst Dir zu fein, um Dich mit uns auf der Straße zu zeigen, solang Du Dich bei so vornehmen Bübchen wie Bruce Martin und Steve Patton und Jack Marriot anschmieren konntest, – aber ein Bruder auf Lebzeiten – was? – wenn Du allein warst. Ja! dann konntest Du nicht genug von uns kriegen!

– Der verdammte Narr ist ja verrückt!

– Verrückt! Was? Ich?! Na, wir haben keine alten Schoten von Großmüttern festgebunden in der Dachkammer verstecken müssen! Mehr als manche von sich sagen können! O Du Sohn einer Hündin! Was bildest Du Dir denn ein mit Deinen geschwollenen Allüren und Deiner großen Blechnadel? Meine Leute sind besser dagestanden, als Deine ganze Blase je dazustehn hoffen kann. Wir sind länger hier und sind besserer Schlag. Und was den Grabsteinmetzensohn angeht, na, mein Alter war verdammt der beste Steinmetz, der je gelebt hat, – und jetzt stirbt er am Krebs und sämtliche Ärzte der Welt können ihn nicht totkriegen! – Er ist aus besserem Holz geschnitzt als irgendso ein kleiner abgedankter Beamter von der Stadtpolizei, der mit dem Titel ›Richter‹ 'rumläuft. Und das betrifft Dich!

– Was willst Du denn überhaupt damit? Verdammter Narr! Ich hab' nie was über Deinen Vater gesagt –

– Zur Hölle mit Dir, Du verdammter kleiner Stiefelablecker!

– – – –

Na, na, komm, Eugen, komm doch jetzt! Du hast wirklich genug gesoffen. Nun hör auf damit und geh schlafen!

– Was?! Gottverdammt und zur Hölle mit Euch! Ich haß Euch – –

– Schon gut, schon gut! Komm, Bill, laß ihn! Er weiß ja nicht, was er spricht.

– – – –

– Schon gut. Also gute Nacht, Eugen. Und gib auf Dich acht. Wiedersehn morgen früh!

– Schon gut, Robert. Ich hab' ja nichts gegen Dich, weißt Du-Du-Du-

– Schon gut! Also komm, Bill, laß ihn in Ruh. Gute Nacht, Eugen. – – Komm, gehn wir schlafen! Zu Bett!

Zu Bett, zu Bett, zu Bett, zu Bett, zu Bett. So, so, so, so, so. Leise, leise zieh's Vorhängchen auf. So, so, so. Morgen früh werden wir zur Nacht essen. Sososo.

Zu Mittag dann werd' ich zu Bette gehn.

Allein. Allein nun. Den dunklen, den grünen, den Dschungelgang hinunter zwischen dem betäubten Geschnarche der Schläfer. Die Pause, das Sich-Regen-und-Rühren, der Seufzer, das plötzliche Sich-Herumlegen auf die andre Seite. Und der Zug rumpelt voran durch die dunklen Forste des traumgeladenen, mondverzauberten Bewußtseins. Raus aus dem Gefängnis der Kleider – Ruck, Zuck, Schmiß und Schwung – und 'nein in die steifen weißen Bettlaken. Den langen Leib schräg in die kurze, schmale Schlafstatt geklemmt. Licht aus. Matte Spiegelung auf der polierten Unterseite des oberen Schlafsargs. Und Virginien schlaflos, flutend, traumhaft im stillen, weißen, heimsuchenden Mond.

Nachts begegnen uns große Züge, die fahren unterm zeitlosen Bann schlafloser Beblickung, endlos klaftertiefer Starrnis. Dann plötzlich im nie schlafenden, nie wachenden Jahrhundert der Nacht regen sich seidig-schlummerwarm sinnlich-fleischig-nackte Glieder hinterm grünen Vorhang der untern Schlafstatt Koje Nummer Sieben. Und dann wieder, ganz jäh, Stille und Dunkel, überschwengliche Freude am traumhaften Vorbeigleiten Virginiens.

Dann in der Nacht ein Halt. Ungesehene Gesichter. Und die verlornen Stimmen von Amerikanern auf dem Bahnsteig. »Also, leb wohl, leb wohl! Und schreib von dort, Helene! Und sag' dem Bob, er soll schreiben! Schönen Gruß an Emilie! Also ... leb wohl und schreib bald!« Dann das heimliche, gedämpfte Seidenkleiderrauschen an den grünen Vorhängen, an den Schläfern vorbei, die leise, ehrerbietige Negerstimme des Pullmandieners, der schrille Pfiff, die beiernde Schelle, das Stampfen und Stoßen der wieder anfahrenden Lokomotive, die letzten Lichter einer Stadt, das große Gedröhn des Zugs, das Vorbeifluten der einsamen, vom Mond heimgesuchten Erde Virginiens.

Auch kommt es vor – im Traum, im Dickicht der ewigen Nacht –, daß mit wüstem Krach das Furchtbare geschieht, daß Dampf auf dem Bahndamm aufwölkt, eine Flammenwand jäh auflodert, und der wilde, rauschende Brand in den mondsüchtigen, traumgequälten Gesichtern der Schläfer widerscheint.

– Und schließlich – im dunklen Dschungel der Nacht, durch alle die Bilder aus Schau und Gedächtnis hindurch, durch das zeitlose Zauberweben gebannter Zeit hindurch, im ewigen Nu – – kommen zwei Reiter geritten einen Ritt durch die Nacht. Wer sie sind? Oh, wir kennen sie mit unserm Sein und Wesen, sie werden über Land reiten, über die mondbesuchte Strecke unsrer Leben reiten auf immerdar. Tod und Mitleid heißen sie, und wir kennen ihre Gesichter; – unser Bruder und unser Vater reiten immer neben uns durch den Traumzauberbann und das Blickfeld der Nacht. Und die Hufschläge fallen im Zeitmaß mit dem Donner des Zugs.

Bleiches Mitleid und dürrer Tod heißen sie und werden reiten auf immerdar durch die Mondflur Virginiens im Zeitzeitzeitmaß mit dem steten Donner des Zugs, der das Zeitzeitzeitmaß schlägt zu dem Viererschlagdonner der phantastischen Hufe, die auf immer gleichfallen mit dem Tonfall des Zugs durch die Mondflur Virginiens.

Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum wie mit sturmphantastischen Hufen Tod, dürr, und Mitleid, bleich, mit quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum ... campum ... quadrupedante ... putrem ... putrem ..: putrem putrem putrem wie mit sonitu quatit ungula campum quadrupedante putrem ... putrem ... putrem putrem putrem wie mit sonitu quatit ungula campum quadrupedante putrem ... putrem ... ungula campum ... ungula ... ungula campum.


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