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XXXVII

Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit Eugen den Robert Weaver zum letztenmal gesehen hatte; aber nun, durch eine jener Unberechenbarkeiten des blindläufigen Geschicks, das Menschen wieder zusammenbringt und ihnen dann im Augenblick der Begegnung mehr aneinander aufzeigen kann, als Jahre der Gemeinschaft vermocht hätten, sollte er den andern jungen Mann wiedersehn.

In seinem zweiten Jahr in Cambridge saß Eugen eines Nachts auf seiner Bude und las. Es war zwischen zwei und drei Uhr, die stillbrütende Stunde im Herzen der Nacht, die ihn tiefer und schwellend-freudiger zu erregen pflegte als jede andere. Das Haus war längst schlafen gegangen, nirgends war ein Laut. Es war gegen Ende März; seit Monaten waren Eis und Schnee an der Erde gefroren, und der Winter hatte eine so trostlos-graue, zähverdrießliche Wirklichkeit, daß der Frühling und aller Frühlinge Wiederkehr zu einer unendlich fernen, kaum noch geglaubten Hoffnung geworden waren. Die Straße draußen lag dunkel und still im Banne des Starrfrosts. Plötzlich knatterte und ratterte ein Motor, ein Kraftwagen war von der Massachusetts Avenue in die Trowbridge Street eingebogen und raste nun mit toller Geschwindigkeit am Haus vorbei. Plötzlich wurden in voller Fahrt die Bremsen angerissen: der Wagen geriet auf dem vereisten Fahrdamm ins Rutschen, wurde aber sofort mit Vollgas rückwärts gefahren und kam vorm Haus der Murphys schlitternd zu Halt.

Eugen hörte, wie jemand ausstieg, die Wagentür zuschmiß, fluchend und vor sich hin murmelnd in der Straße herumsuchte, zum Haus der Murphys zurückkam, die kleine Freitreppe anstieg, ausglitt oder strauchelte und hart hinfiel. Und nun erkannte Eugen, daß der Mann da draußen Robert Weaver war: – »Gottverdammtester Platz, der mir je vorgekommen ist! ... Haben Sie hier schon mal was von einem Licht gehört? ... Wer zum Teufel möchte nur so wohnen ...!«

Robert trommelte an die Haustür und gellte Eugens Namen. Dann ließ er von der Tür ab und pochte mit der Faust an die erleuchteten Scheiben von Eugens Fenster. Eugen ging hinaus und ließ den Besuch ein. Robert schoß wortlos herein mit den jähen Bewegungen eines Schwerbetrunkenen. Drinnen im Zimmer musterte er Eugen mit empörtem Blick und legte los: »Wann gehst Du eigentlich zu Bett? ... Bleibst Du die ganze Nacht auf? ... Und verpennst dann den Vormittag?« Er sah sich um. Auf dem Boden verstreut lagen Bücher und beschriebene Papiere. Robert brach in ein jähes, heiseres Falsettlachen aus. »Verdammteste Bude, die mir je vorgekommen ist!« erklärte er. »Schläfst Du auf dem Ding da?« fragte er und deutete auf das schmale Bett in der Ecke.

»Aber nein, Robert«, versicherte Eugen, »ich schlaf auf dem Boden. Das Ding da benutze ich als Eisschrank.«

»Was ist denn da in der Ecke?« fragte Robert und deutete auf einen Haufen schmutziger Wäsche. »Hemden!? Wann hast Du das letztemal Dein Zeug zum Waschen geschickt? Was machst Du, wenn Du 'n frisches Hemd brauchst? Gehst aus und kaufst Dir eins ...? Nimmst Du mal ein Bad? Hast Du überhaupt schon mal gebadet, seit Du in Harvard bist?« Er lachte wild, ließ sich in einen Sessel fallen, stöhnte kurz auf, zog eine ungeduldig-unzufriedene, qualvoll-verdroßne Miene, fuhr sich ein paarmal gemüdet mit beiden Händen über die Stirn und seufzte: »Herrgott! Herrgott! Herrgott!« Er schüttelte traurig den Kopf. »Was ich alles angestellt hab'! Einfach furchtbar!!« Er schüttelte wieder den Kopf.

»Warum bemühst Du Dich eigentlich nicht, noch ein bißchen lauter zu reden?« meinte Eugen. »Ich glaube, drüben in Boston gibt's noch ein paar Leute, die Du noch nicht geweckt hast.«

Robert lachte schrill, verfiel aber sofort wieder in sein geistesabwesendes und reumütiges Kopfschütteln. Und von Zeit zu Zeit seufzte er: »Herrgott!«

In dem grellen Deckenlicht, das Eugen immer in seinem Zimmer brennen hatte, sah er sich nun den Besuch genau an. Robert trug einen steifen Hut, was sehr gut zu seinem schmalen, hageren Kopf paßte, und stak in einem großartigen, fast bis auf die Schuhe reichenden Pelzmantel von der Art, wie ihn hier in Cambridge die reichen Harvardstudenten trugen. Im übrigen war er unauffällig geschmackvoll und mit einer an ihm altgewohnten ausgesuchten Feinheit angezogen. Eugen erinnerte sich, daß Robert schon als Schuljunge das Förmliche in seiner Kleidung betont und zum Beispiel stets steife Kragen getragen hatte.

Roberts Gesicht war schmäler geworden; er sah abgemagert aus und wirkte viel älter als vor zwei Jahren. Die Falten in dem scharfzügigen Gesicht hatten sich tiefer gegraben. Die Augen – nun rotgeädert und glasig vor Betrunkenheit – flackerten wilder und fiebriger als je. Aus diesen Augen blickte die Rastlosigkeit eines innerlich Gehetzten, eines Menschen, den ein verzweifelter und unbezähmter, ein unstillbarer und irrer Hunger trieb. Robert wurde verzehrt und zerrissen von qualhaften Süchten und Gierden, die er schon deshalb nicht zu stillen oder zu beschwichtigen wußte, weil deren Ursache und Wesen ihm unerklärlich waren.

Nun zog er eine halbvolle Whiskyflasche aus der Manteltasche, bot Eugen an, und nachdem dieser einen Schluck genommen hatte, setzte Robert an, trank den Rest auf einen Zug aus und schob die leere Flasche mit einem ungeduldigen Ruck auf den Tisch. Es war offensichtlich, daß der Trunk ihn nicht etwa beruhigte oder labte, sondern – wie Öl in Flammen gegossen – seinen Wahnsinn nur noch fachte und ihm erst Erlösung brachte, wenn er bewußtlos betrunken war. Robert war einer von denen, für die Alkohol ein verhängnisvolles und unkontrollierbares Reizmittel ist: nachdem er einmal die Flasche entkorkt und den ersten Schluck seines Lebens getan hatte, war er ihm verfallen; er trank, bis er nicht mehr konnte. Er hätte gebettelt, zugeschlagen, gelogen, betrogen, sich gemein gemacht und jede Gefahr auf sich genommen, bloß um sich Alkohol zu verschaffen. Er erzählte Eugen, er hätte bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr keinen Tropfen angerührt, dann, in seinem letzten Jahr auf der Staatsuniversität, hätte er angefangen, und nun, in den beiden letzten Jahren, wäre es ›so weitergegangen‹.

Eugen fragte, wie Robert seine Wohnung ausfindig gemacht hätte, und Robert, der sich nun wieder mit den Händen über die Stirn fuhr, antwortete ungeduldig und zerstreut: »Oh ... ich weiß nicht ... Jemand hat's mir wohl gesagt ... ich glaub', es war Arthur Kittrell ...« und dann verfiel er wieder ins Kopfschütteln und sagte: »Furchtbar, furchtbar, furchtbar ...! Weißt Du, wieviel Geld ich in diesem Jahr schon vermöbelt hab? Achtundvierzighundert Dollars ... So wahr mir Gott helfe und mich sterben lassen soll, wenn's nicht die Wahrheit ist ... Ei, es ist ja furchtbar!« stöhnte er und fing plötzlich an zu lachen.

»Bist Du viel herumgekommen?« fragte Eugen.

»Bewahre! Mein Gott nein! Seit Neujahr bin ich einmal weggewesen zu einem Wochenend in New Haven ...« sagte er. »Ei, es ist wirklich furchtbar! ... Weißt Du, mit wem ich zusammenwohne?« fragte er dann.

»Nein.«

»Mit Andy Westerman«, sagte er gewichtig, und dann, als er sah, daß der Name keinen Eindruck auf Eugen machte, setzte er ungeduldig hinzu: »Sag' mal, hast Du nie von den Westermans gehört? Mein Gott, was hast Du eigentlich mit Deinem Leben angefangen? Du mußt doch sicher mal von Westermans Staubsaugern und elektrischen Refrigeratoren gehört haben! Wenn der Mann überhaupt Geld hat, dann sind's mindestens zwanzig Millionen! Der verrückteste Kerl, der je gelebt hat!« Er erinnerte sich Westermans und mußte plötzlich hell auflachen.

»Wer? Westerman?«

»Nein! Der Kerl, mit dem ich zusammenwohne ... Dieser verdammte Andy Westerman ... Möchtest Du ihn kennenlernen?«

»Seid Ihr zusammen hier?«

»Na, das sag ich Dir doch gerade!«

»Und wo ist er?«

»Weiß ich's?« sagte Robert und lachte. »Mittlerweile wohl auf der Polizeiwache ... Ich verließ ihn ungefähr vor 'ner Stunde auf der Copley Plaza ... da lief er rum und hielt jeden Menschen an und fragte ihn, ob er je in Harvard gewesen war ... Sagte der Mann ja, dann fiel der Andy über ihn her und drosch auf ihn ein ... Mein Gott, der verrückteste Kerl, der mir vor die Augen gekommen ist! ... Weißt Du, wie ich ihn kennenlernte? So 'ne verrückte Geschichte hast Du im Leben nicht gehört!« versicherte er und erzählte dann in fieberhaftem Stakkatoton die Geschichte: »Flog einfach glatt um ... bewußtlos, ganz allein ... in der Park Avenue eines Nachts. War da in so 'nen Ausschank geraten, da hatten sie mir Ohnmachtstropfen ins Glas geschüttet ... und mir die Taschen ausgeplündert ... flog glatt um und lag wie tot in der Gosse ... Wachte auf in der großartigsten Wohnung, die Du je im Leben gesehn hast ... Schönste Frau, die Du je im Leben gesehn hast, sitzt an meinem Bett ... hält mir die Hände ... Andy Westermans Schwester ... Gott! Haben die Leute Sachen in der Wohnung! Ein Vermögen steckt drin! ... Ein Gemälde, da hat ihr Alter hunderttausend Dollars dafür bezahlt ... Ganz kleines Bild, kaum ein Quadratfuß Wandfläche ... Und zwanzig Millionen Dollars haben die! ... Die beiden Kinder kriegen die mal, jawoll! ... und mich ruiniert das! ... kostet mich meinen letzten Cent, um da mitzumachen ... Die Leute denken sich so wenig dabei, zehntausend Dollars auszugeben, wie wir daheim, wenn wir fünfzig Cent hinlegen ... Gott! Ich muß was anstellen! Arbeiten oder so was! Irgendwoher Geld kriegen ... Jawoll, der Robert wird sich da hinauf schaffen, alles haben, wie die ... eine Wohnung in der Park Avenue ... Gott, die schönste Frau in der ganzen Welt. Alles, was ich will, ist nur einmal bei ihr schlafen ... jawoll, nur einmal ... ja ... und dann denken müssen, daß so eine Frau hingeht und sich wegwirft an so ein verdammtes, schwindsüchtiges, kleines –« er vollendete den Satz nicht, sondern biß die Zähne zusammen und knirschte vor Wut.

»Und sich wegwirft an? An wen denn, Robert?«

»Ah ... an den verdammten kleinen Kerl Upshaw, mit dem sie verheiratet ist! Seit Monaten sitzen wir da und warten und beten und hoffen, daß er stirbt ... sie will mich heiraten, sobald er aus dem Weg ist ... und er weiß es ... verdammte Ratte!« Robert knirschte wild mit den Zähnen. »Klammern sich ans Leben, bloß um uns den Spaß zu verderben.« Und Robert fluchte bitter, mit einem furchtbaren, ihm unbewußten Humor auf den halsstarrigen, hartnäckigen Mann, der ihm nicht den Gefallen tat, früh zu sterben.

Plötzlich sprang er auf und fragte unvermittelt: »Fährst Du mit nach New York?«

»Wann?«

»Jetzt gleich! Diese Minute noch! Also komm!« Robert ging zur Tür. Als Eugen keine Miene machte mitzukommen, kam Robert zurück und sagte gekränkt: »Also, kommst Du oder willst Du mich bluffen?«

Eine kleine Weile war Eugen seiner Sache nicht sicher. Die Verrücktheit Roberts, seiner eigenen gar nicht so unähnlich, hatte ihn angesteckt. Die Vorstellung einer tollkühnen, betrunkenen, sinnlosen Flucht in die magische Stadt zog ihn mit bannender Gewalt an. Aber er entriß sich der Berückung und erklärte kurz und bündig:

»Heute nacht würde ich nicht bis zum Harvard Square mit Dir fahren, Robert, wenn Du den Wagen fährst. Du bist viel zu betrunken, und wenn Du fährst, gibt's ein Unglück.«

Robert war in der Tat nun so betrunken, daß es nicht anging, ihn sich selbst zu überlassen. Eugen beredete ihn, dazubleiben und schlafen zu gehn. Die Schwierigkeit jedoch war, daß sich in Eugens Zimmer außer der einen sehr schmalen Bettstatt keine Schlafgelegenheit befand. Die Murphys zu wecken war unmöglich; sie schliefen seit Stunden. Aber Mr. Wang hatte in seinem zweiten Zimmer eine sehr bequeme Schlafkautsch stehen, und Eugen wußte, daß Wang ihm aus der Patsche helfen würde. Er ermahnte Robert, sich still zu verhalten, ging an Wangs Tür und klopfte. Wangs verschlafener Kopf erschien im Türspalt, Eugen erklärte, was los sei, und Wang war sofort bereit und liebenswürdigst damit einverstanden, daß Robert auf seiner Kautsch schliefe. Robert wurde denn schließlich dort zur Ruhe gebracht, aber nicht ohne daß ihn zuvor die plötzliche Erscheinung eines schuppenschwänzigen Drachens – ein Bild, das über der Kautsch hing – sehr entsetzt hatte. Robert hatte laut aufgeheult, war in Eugens Zimmer erschienen und hatte furchtsam und aufgebracht erklärt: »Erwartest Du wohl ... ich soll da die ganze Nacht schlafen? ... allein mit dem verdammten Chinesen und seinem Drachen? ... Wie soll ich wissen, was er mit mir anfängt? ... ich bleib nicht da!« Eugen aber gelang es, Robert von Wangs Unschuld und Güte zu überzeugen, und nachdem Robert dann noch den größeren Teil einer Flasche von Wangs Reiswein getrunken hatte, war er endlich eingeschlafen.


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