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LVIII

Der Hudson River schießt ein in den Hafen. Und der Hafen dann schießt ein in das Meer. Immer fließen die Ströme.

Der Hudson River trinkt langsam aus dem Boden des Binnenlands, und das ist, wie wenn schwerer Rotwein in Bottichen wurlt. Der Hudson River ist wie das Liladunkel der Abendröte; er ist wie Feuerfarben auf den Palisaden, wie das Echo von Elfen, wie die altholländischen Kolonisten, wie Allerheiligenabend. Er ist wie die wilde Jagd in den Lüften, das Gezaus im Geäst und der sinnlose Wind; er ist wie federweißer Apfelmost und die großen Feuer der holländischen Siedler zur Winterzeit.

Der Hudson River ist wie der alte Oktober und wie goldbraunrote Indianer auf ihren Lagerplätzen von einst; er ist wie lange Pfeifen und alter Tabak; er ist wie kühle Tiefen und Fälligkeit, wie der gelöste Grünschimmer des Hochsommertags.

Der Hudson River fängt den Donner der Schnellzüge auf und wirft eine Handvoll verlorner Echos in die Uferhügel. Er ist wie die Rufe verlorner Männer im Gebirg, er ist wie der Junge vom Land, der in die Großstadt fährt mit einem Gefühl von Herrlichkeit im Geweide. Er ist wie der Grünplüschgeruch der Pullmanwagen und wie schneeiges Linnen; er ist wie der Bursche auf der oberen Schlafstatt der Koje Nummer vier und wie die gutaussehende Frau, die auf der unteren Schlafstatt ihre Glieder im Bettzeug regt; er ist der magische Strom. Er ist, wie wenn einer zur Großstadt käme und Geld machte und die Herrlichkeit, den Ruhm und die Liebe fände, ein Leben schicksalsschöner und glückhafter, als je noch ein Mensch es kannte. Er ist wie die Knickerbockers und der Frühherbst; er ist wie die Reichen, wie die feinen Leute, die ihre Landsitze am Fluß haben, die Vanderbilts, die Astors, die Roosevelts; er ist wie der Schriftsteller Robert W. Chambers und die »Gute Gesellschaft«, von der er in Romanen erzählte; er ist wie die junge Generation aus diesen Kreisen, wie Hilary, Monica und Garth, wie der Inhalt des ersten Akts – also:

die liebliche Monica Delavere schöne verwöhnte tochter eines der reichsten männer der welt trifft auf einer auf dem landsitz ihres vaters Mount Kisco zu ehren ihrer bevorstehenden hochzeit mit dem jungen architekten Hilary Chedester gegebenen gesellschaft dessen freund Garth Montgomery einen jungen künstler der gerade von jahrelangen Studien aus dem ausland zurückgekehrt ist gebannt und abgestoßen von seinem dunklen leidenschaftlichen gesicht und seinen langen schlanken spitzfingerigen künstlerhänden gereizt durch irgendetwas rätselhaftes und spöttisches in seinen augen in einem augenblick verrückter Unbesonnenheit gespornt vom Stachel der eifersucht weil sie denkt daß Hilary seiner alten flamme Rita Daventry ungebührlich viel Aufmerksamkeit zukommen läßt nimmt sie eine herausforderung Garths an mit ihm in seinem rennwagen eine wilde fahrt durch die nacht zu machen und zwar nach seiner jagdhütte in den bergen und von dort vor tagesanbruch zurückzukehren auf der jagdhütte angekommen erklärt Garth jedoch kühl daß ihm das benzin ausgegangen sei und daß er nach der nächsten ortschaft telephonieren müsse damit man ihm von dort aushelfe ein wenig verstört weil ihr nun zum erstenmal einfällt daß ihr unbesonnenes wegfahren möglicherweise einen skandal nach sich ziehen könnte tritt sie in die hütte ein und nun fahrt fort damit wie die geschichte weitergeht:

Monicas rote Lippen verzogen sich zu einem Lächeln spöttischer Zurückweisung. Une moue, ein Schmollmäulchen machte sie. »Kaum ein Ort«, sagte sie, »wie ich ihn gewählt haben würde, um einen Abend dort zu verbringen. Aber das ist wohl die letzte Pariser Mode, daß man Ladies zu weltentlegenen Hütten mitnimmt und ihnen dort erklärt, man wäre gestrandet. C'est comme ça a Paris, hein?« –

Ja, auch alle diese Sächelchen waren wie der Hudson River.

Vor allem aber war der Hudson River wie das Licht, oh, mehr als alles war er wie das Licht, wie der Ton und das Weben des magischen Lichts, in dem Eugen die Weltstadt als Kind geschaut, und das den Hudson River so wunderbar gemacht hatte.

Golden und tief und gefüllt mit allen schweren Erntegoldlichtern war das Licht; golden wie das Fleisch der Weiber war das Licht, treu, ohne Tiefe und zärtlich wie ihre herrlichen Augen, feingesponnen und rasendmachend wie ihr Haar, unaussprechlich begehrend wie ihr Genist voll Wohlgeruch und Spezerei, ihre großen, melonenschweren Brüste. Golden war das Licht wie goldne Vormittagssonne, die durch alte Scheiben in eine alte, braundunkle Stube fällt. Braun, üppig-dunkelbraun und rege von schweren Goldtönen war das Licht; schwer-braun und golddurchschossen war das Licht wie das erregend-schwüle Arom von gemahlenem Kaffee; üppigbraun war das Licht wie alte Steinhäuser morgens in der Schlucht einer Großstadtstraße, braun wie erregende Frühstücksgerüche aus den Kellerküchen der Braunsteinhäuser, in denen Leute wohnen, die reich sind; blau war das Licht, von einem steilen Frontalblau wie der Morgen zu Füßen der frontalaufragenden Hochhausklippen, blau war das Licht, von einem kühlen Vertikalblau und leichtdunstig von zarten Nebeln der Frühe, blau war das Licht von einem kalten, fließenden Blau wie in Häfen, wenn die klarkühlen Wasser hellrandig sind von einem tanzenden Morgengold, frisch und halbverderbt mit dem muffigen Flußgeruch; blau von dem Schwarzblau des Morgens in den Schluchten und Schlüften der Weltstadtstraßen, schwarzblau mit kühlen Morgenschatten, als die Fähre mit tausend kleinen Menschengesichtern abglitt und stracks auf die rostigen, verwitterten Schiffe zufuhr.

Bernsteinbraun war das Licht in weiten, dunklen, mit Fensterladen gegen den jungen Tag verschlossenen Gemächern, wo in großen Walnußbetten die herrlichen Frauen sinnenschwer in der Wärme die üppigen Glieder regten. Goldbraun war das Licht wie gemahlener Kaffee, wie die Kaufleute und die Walnußmöbel in deren Wohnungen, braungold wie alte Ziegelsteinbauten, schmierig vom Geld und dem Geruch des Großhandels, goldbraun wie die Morgenstunde in einer großen, blanken Bar mit einem Schanktisch aus schwärzlichem Mahagoni, dem frischen, feuchten Abschaum des Biers, Zitronenschalen und dem Geruch von Angostura Bitter. Und dann vollgolden abends in den Theatern, mit vollgoldner Wärme und Körperlichkeit leuchtend auf vollgoldnen Frauengestalten, auf dickem Rotplüsch und dem schweren, welken, leicht-schalen Geruch und auf Goldgarben, Liebesgöttern und Füllhörnern und auf dem fleischlichen, mächtig sanft-goldnen Geruch aller Leute; und in den großen Restaurants war das Licht heller golden, aber voll und rund wie warme glatte Onyxsäulen, wie in warmen Farben getönter, ädriger Marmor, wie alter Wein in dunklen, runden Flaschen, in denen sich innen eine Alterskruste angesetzt hat, wie die großen Gestalten nackter, blonder Frauen in Rosenwolken an die Decke gemalt. Und dann war das Licht voll und schwer und braungolden wie große Felder im Herbst; es war das schwellend-füllige Goldlicht von abgemähten Äckern, auf denen gebündelt die üppigen, rostgoldnen Garben zuhaufstehn, in einer Gegend, wo es große rote Scheunen gibt, die die Landschaft beherrschen, und wo der Weinduft von mürben Äpfeln auf allem liegt. – Ja, von all dieser Art war der Ton und das Weben des Lichtes gewesen, in dem sein kindliches Schaubild von der Weltstadt und dem Strom stand.

 

Stolze, grausame, immerdar-andere, eintägige Stadt, zu der wir einst kamen, als uns das Herz hochgestimmt, das Blut heiß und leidenschaftlich und das Hirn ein Feuerbrand war – unendliche und wankelmütige Stadt, Quecksilber-City, seltsame Zitadelle der millionengesichtigen Zeit – oh, endloser Strom und ewiger Fels, darin des Lebens Formen kamen und gingen und sich unerträglich verwandelten vor unsren Augen, zu der wir wie jeder junge Mensch mit solch ungeheurem Wahnwitz und mit so wahnwitzigen Hoffnungen kamen – wozu?

Um Dich zu verzehren, Zweig, Wurzel und Stamm, um Dich zu verschlingen, goldne Frucht von Macht, Liebe und Glück, um Dich zu verbrauchen bis auf den Grund, Strom und Fels, Turmspitze und Stahlfundament, und das ungeheure Wesen Deines billionenfüßigen Pflasters, das unerträgliche Weben und die Erinnerung der dunklen, millionengesichtigen Zeit uns einzuverleiben.

Und was ist nun geblieben von all unserm Wahnwitz, unserm Hunger und unsrer Begier? Was hast Du, unglaubliches Spiegelbild aller unsrer tausendmal tausend glänzenden Hoffnungen, denen gegeben, die Dich ganz und gar, letztlich und bis in den Kern des Wesens besitzen wollten, denen gegeben, denen Du Kraft, Leidenschaft und Unschuld der Jugend nahmst?

Was haben wir von Dir genommen, Du Proteus-Geschöpf und Phantom-Gebilde aus Zeit? Was haben wir im Gedenken bewahrt von Deinen Millionen Bildern, von Deinem billionenfachen Weben aus Zufall und Zahl, von der sinnlosen Wut Deiner Tage ohne Datum, von der brutalen Betäubung Deiner tausend Straßen und Pflaster? Was haben wir gesehn und gekannt, das auf immerdar unser wäre?

Gigantische Stadt, wir haben nichts genommen, nicht einmal eine Handvoll Deines zertrampelten Staubs. Wir haben kein Wahrbild gesetzt auf Deine eiserne Brust, wir haben nicht einmal den Abdruck unsrer Schuhabsätze hinterlassen auf Deinem Pflaster, das wie ein Herz aus Stein ist. Der Besitz aller Dinge, ja selbst der Luft, die wir atmeten, ward uns vorbehalten, und da wir Zugriffen, zog der Strom aus Leben und Zeit durch unsre Hände, und in denen blieb nichts für unsern Hunger und unsre Begier außer den stolzen und bebenden Augenblicken, einer nach dem andern. Aus den zertretnen und vergeßnen Worten, aus dem Rost und dem staubigen Begängnis des Gestern wurden wir wiedergeboren zu tausend Leben und tausend Toden, und auf immerdar belassen wurden wir einzig mit dem Wesen unsres sterblichen Fleischs und den Heimsuchungen unsrer von Zufällen gespeisten Gedächtnisse, mit all der verschieden wichtigen Fracht großer und kleiner Dinge, die vorübergingen, im Nu entschwunden waren und nicht vergessen werden konnten, mit den ungerufnen und unergründeten Gedenkbildern aus Hauchrauch und Gehusch, die das Bewußtsein all der dunklen, stolzen Wahrbilder von Liebe und Tod teilhaftig machen.

Das Zerren eines Blatts am Zweig im Spätoktober, schurrende Zeitungsblätter in einer Windbö auf der Straße, eine Wolke, die kam und ging und Schatten warf im Licht des April. Und das vergeßne Lachen verlorner Leute in dunklen Straßen, ein Gesicht, das wir in einem Zug sahen, an dem unser Zug vorüberfuhr, das Haus, in dem unsre Geliebte wohnte, als sie Kind war, eine aufpeitschende Flamme an der kalten Ecke einer Wohnbaracke im Elendsviertel, der Kordelstrang der Adern auf einer Greisenhand, das fiedrige Grün eines Baums, Sonnenaufgang auf einer Großstadtstraße im Mai, eine Stimme, die schrill aufschrie nachts und sofort wieder verstummte, und ein Lied, das eine Frau sang, und ein Wort, das sie sprach in der Dämmerung, ehe sie fortging, – das Andenken an eine zerfallene Mauer, an das alte, leere Gesicht eines halbzerstörten Hauses, in dem Liebe einst lag, – an die Spuren der Faust eines jungen Mannes im zerbröckelnden Gips, ein verlornes Überbleibsel aus all der immerdar dauernden Vielfalt Deines Lebens, ein Überbleibsel kurz und zeitweilig wie der Wahnwitz, der Schmerz, die Angst im Herzen dessen, der mit der Faust auf die Stuckwand schlug, – das ist alles, was wir von Dir mitgenommen haben, eisenbrüstige Stadt, und diese Dinge sind unser und auf immer von uns gegangen, ganz so verloren wie windzerschellte Laute, wie die verlornen Gespenster der Zeit, wie der immerdardauernde Strom, der in der Dunkelheit an uns vorbei ins Meer floß.

 

Der Strom ist eine Flut bewegter Wasser; nachts schwemmt er die Taschen der Erde aus. Nachts trinkt er fremde Zeit, dunkle Zeit. Nachts trinkt er die stolzen, mächtigen Flutungen fremder, dunkler Zeit. Nachts zieht der Strom die Flutungen in sich, die stolzen, mächtigen Flutungen der dunklen Wasser der Zeit, die, die leise nagend und malmend mit stockendem, langsamem Atem wie in saugenden Küssen sich in die Taschen der Erde drängen. Von den Rossen des Meeres gezeugt, kommen sie, vom Dunkel bemähnt.

Sie kommen! Schiffe rufen! Die Hufe der Nacht, die Rosse des Meeres kommen unter ihren Mähnen aus Dunkel. Und immer fließt der Strom. Tief wie Ebbe und Flut aus Zeit und Gedenken, tief wie Ebbe und Flut des Schlafs fließt der Strom.

Und Schiffe gibt's dort! Haben wir nicht dort die Schiffe gehört? (Haben wir nicht die großen Schiffe gehört, die stromab fuhren? Haben wir nicht die großen Schiffe gehört, die in See stachen?)

Große Sirenen heulen dort. Haben wir dort nicht die großen Sirenen heulen gehört? (Ein Harnisch heller Schiffe ist auf dem Wasser. Ein Donner gedämpfter Hufe ist auf dem Land.)

Und Zeit gibt es dort. (Haben wir nicht fremde Zeit, dunkle Zeit, fremd-tragische Zeit dort gehört? Haben wir nicht dunkle Zeit, fremde Zeit, die dunkle, die schwellende Flutung der Zeit gehört, als sie stromab zog?)

Und zur Nachtzeit, im Dunkel, in all der Schlafstille der Erde haben wir nicht dort den Strom gehört, den reichen, unsterblichen Strom voll von seiner fremden, dunklen Zeit?

Voll vom Pulsschlag der Zeit fließt er dort; voll vom Pulsschlag der Lebenden und Sterbenden, der Schlafenden und Wachenden wird er dort fließen; voll mit der Billion dunkler und heimlicher Augenblicke aus unserm Leben fließt er dort. Voll von all der Hoffnung, dem Wahnwitz und der Leidenschaft unsrer Jugend fließt er dort, in der Tagzeit, im Dunkeln, unaufhörlich das Land benagend, die Erde in seine Gezeiten ziehend, so, wie die Erde die Stunden und Augenblicke unsrer Leben in ihre Gezeiten zieht; er schwappt gegen die Flanken der Schiffe, er schäumt um die angehäuften Verkrustungen alter Werften, er schlüpft wie Zeit und Stille an der großen Klippe der Weltstadt vorbei, er umgürtet die steinerne Insel des Lebens mit bewegten Wassern – dick vom Abfall der Erde, dunkel von unseren Unreinheiten, beschwert von unserm Müll, üppig, geil, schön und unendlich wie alles Leben, alles Lebendige fließt er an uns vorbei, an uns vorbei, an uns vorbei ins Meer.


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