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XLII

In dieser Verfassung, nachdem er zwei Tage ziellos auf den Straßen und auf den Hügeln umhergestreunt war, seiner selbst und seines Handelns unkundig wie ein Mensch in Trance, trat Eugen plötzlich eine Reise an. Er wollte seine Schwester Daisy besuchen, die verheiratet in einer Kleinstadt in Süd-Karolina lebte. Er hatte sie vor zwei Jahren beim Begräbnis seines Vaters zum letztenmal gesehn. Nun hatte sie ihn brieflich eingeladen, und, vom wuthaften Bedürfnis zur Flucht getrieben, hatte er ihr gedrahtet, er käme. Er reiste in einem großen Überlandomnibus durchs Gebirge. In der Stadt Blackstone in Süd-Karolina, sechzig Meilen von Altamont entfernt, sollte er seinen Bruder Lukas treffen; Lukas wollte ihn dann in seinem Wagen den Rest der Strecke und ans Haus der Schwester fahren.

Es war ein wilder, windiger Spätoktobertag, bald grau, bald golden, bald wieder grau vom Spiel zerrissener Wolken und im Wandel des Lichts. Und an alles, was an diesem tollen Tag geschah, konnte sich Eugen später mit greller Heftigkeit erinnern.

In jenem Jahr war es früh und schnell Herbst geworden; bereits im Oktober hatte es oft scharfes Wetter und Reif gegeben, und die Berge waren herrlicher, als Eugen sie je erlebt hatte. Nun hatte es, zu früh für die Jahreszeit, einen oder zwei Tage zuvor plötzlich stark geschneit; der Schnee lag noch vliesflockig auf den Feldern; auf den Höhen aber, zwischen dem Schwarz und Grau kahler Felsen, leuchtete er in weißen Placken; die Wälder, obschon die erste, scharffrische Herbstfärbung vorüber war, glosten noch in dumpfen Herbstgluten, aber die Blätter waren schon in dichten Massen zu Boden gefallen.

Nach einer Stunde, einer Fahrt von etwa fünfundzwanzig Meilen, machte der Bus einen längeren Halt vor dem Postamt eines Gebirgsdorfes. Dieses Dorf, ein Kurort, lag auf der Paßhöhe des letzten Bergzuges; von hier ging die Straße steil den Hang hinunter nach Süd-Karolina. Während der Bus hielt, fuhr ein anderer Wagen vor, ein offenes, glitzerndes, teuer aussehendes, hellgraues Gefährt, in dem drei junge Leute aus Altamont saßen, von denen Eugen zwei kannte. Der Wagen stoppte scharf neben dem Bus, und Eugen sah, daß Robert Weaver am Steuer saß. Und obschon Robert den Eugen seit jenem mitternächtlichen Besuch in Cambridge nicht mehr gesehen hatte, wandte er sich nun ohne ein Grußwort eulenhaft blinzelnd herüber und bellte:

»Wer ist denn da? Wer sitzt denn da vorn? Bist Du's, Eugen?« fragte er in der fiebrigen, stoßweisen, abgebrochenen Sprechweise, die für ihn charakteristisch war und mit den Jahren immer auffallender wurde.

Als Eugen ihm versicherte, daß er es wäre, erkundigte sich Robert nach seinem Reiseziel, und als Eugen »Blakstone« sagte, bestand Robert sofort darauf, Eugen solle den Bus verlassen und mit ihm fahren.

»Fahren wir auch hin«, erklärte er, wandte sich an seine Begleiter und fragte ernsthaft: »Nicht wahr? Da fahren wir doch hin, gelt?«

Die beiden jungen Männer lachten hellauf und riefen: »Ja, freilich! Da fahren wir hin, Robert!« Und einer von den beiden versicherte feierlichen Ernstes: »Wir fahren nach – – Blackstone ...«, hier schluckte er hart und krampfhaft, japste, und schloß dann, »... um dort ein Fußballspiel anzusehen.« Seine Behauptung wurde von den andern mit schallendem Gelächter begrüßt. Dann riefen alle drei:

»Hopp! Aussteigen! Einsteigen! Mitkommen! Hier gibt's noch Haufen Platz!«

Eugen stieg aus, zahlte für seine Fahrt beim Chauffeur, nahm seine kleine Reisetasche und kam in den andren Wagen zu Robert und dessen Begleitern. Robert fuhr schnell los, und fast sofort sausten sie steil bergab auf den Kurven und Windungen der Hangstraße.

Roberts Begleiter auf dieser Fahrt waren junge Leute, die Eugen in seiner Jugend nicht gekannt hatte, denn beide lebten erst seit kurzem in Altamont. Der ältere von den zweien hieß Emmet Blake, er saß nun vorn neben Robert.

Emmet Blake war ein Mann von siebenundzwanzig Jahren, mittelgroß, von einer zerbrechlichen, fast ausgezehrt wirkenden Gestalt; er hatte straffes, schwarzes Haar, schwarze Augen und ein schmales, fiebriges, verderbt aussehendes Gesicht, in dem trotz der Totenblässe eine dunkle Lebendigkeit glühte, was sich durch ein mattes, dünnes Lächeln, das ständig um die Mundwinkel spielte, und durch das dunkle, unnatürliche Glitzern seiner schwarzen Augen anzeigte. Er führte ein wüstes, ausschweifendes Leben und trank schwer. Mehrere Male schon war er mit Lungenblutungen in ein Sanatorium gebracht und sein Tod dort stündlich erwartet worden; jedesmal aber hatte er sich erholt und sofort in Gesellschaft von Robert und andern verwandten Seelen sein wüstes Leben mit Weibern und Whisky wiederaufgenommen. Er lebte auf großem Fuße, Geld hatte er genug dazu, denn er war der Neffe des Großindustriellen George Blake, des Herstellers jener billigen Automobile, über die in zwanzig Jahren zwanzigtausend Witze in Umlauf gekommen waren, während sie in zwanzig Millionen von blechernen und glitzernden Ebenbildern ihrer selbst auf den Landstraßen der Erde gefahren wurden.

Der andre junge Mensch hieß Kitchin. Er war ungefähr gleichaltrig mit Eugen, neben dem er nun hinten im Wagen saß. Kitchin war ein hochgewachsener, dunkler, hübscher Kerl mit gefälligen Manieren und einer angenehmen Stimme. Er stammte nicht aus Altamont, lebte aber dort bei seinem Onkel, einem in der Stadt ansässigen Arzt, der seine Praxis aufgegeben hatte. Eugen und Kitchin waren einander schon öfter auf der Straße begegnet, hatten aber zuvor nie ein Wort miteinander gewechselt.

Wenn sie auch noch nicht betrunken waren, so war es doch offenbar, daß Robert, Blake und Kitchin getrunken hatten, denn in ihrem Gebaren war jene zwar noch verhaltene, aber dennoch wilde, schwallhafte Heiterkeit, die den beginnenden Rausch bei jungen Männern anzeigt. Die drei lachten dauernd, ungemein belustigt und eigentlich ohne ersichtlichen Grund. Sie erwähnten mehrfach, daß sie nach der Stadt Blackstone führen, um dort ein Fußballspiel anzusehen, und jedesmal löste diese Behauptung ein schallendes Gelächter aus.

Gleich nach der Abfahrt hatte Blake neben sich in die Ledertasche an der Tür des Autos gegriffen und eine Flasche Scotch Whisky, noch dreiviertels voll, herausgezogen. Er wandte sich um, reichte sie Eugen und sprach:

»Nehmen Sie 'nen großen Schluck, Gant! Wir sind Ihnen ein tüchtiges Stück voraus.«

Eugen tat einen langen und tiefen Zug; er ließ sich den feurigen Trunk achtlos durch die Gurgel rinnen, und jählings empfand er ein fast verzweifeltes Gefühl des Erleichtertseins von der grauen, hoffnungslosen Elendslast, die ihn seit Tagen, seit der Ankunft jenes Briefs, erdrückt hatte. Er reichte die Flasche an Emmet Blake zurück; dieser nahm sie, sah sie mit einem dünnen, bösen, lüsternen Lächeln an und bemerkte:

»Na, schön! Das nenne ich recht gut! Was sagst Du, Robert? Sollen wir das für genug erachten?«

»Zum Teufel, nein!« rief Robert heiser, nach einem schnellen Seitenblick auf die Flasche. »Das ist doch nicht getrunken! Laß ihn noch mal tüchtig trinken, Emmet! Du mußt Dich besser dranhalten, wenn Du uns einholen willst, Eugen!« Dann lachte er sein Stakkatolachen, schüttelte den Kopf vor sich hin, beugte sich über das Steuerrad und rief aus: »Herrgott! Herrgott!«

Blake reichte die Flasche wieder zurück, und Eugen trank nochmals. Dann nahm Kitchin die Flasche und trank. Er gab sie an Blake weiter. Blake trank und reichte Robert die Flasche, und Robert, das Gesicht ein wenig zur Seite, die Augen aber unverwandt auf die Straße gerichtet, hob die Flasche mit einer Hand an den Mund und trank sie leer. Dann warf er sie im Bogen über seinen rechten Arm hinweg über den Straßendamm hinaus, die Flasche flog die Böschung hinab und traf einen Felsen, auf dem sie strahlsplitterig in tausend Scherben zerschellte. Die vier jungen Männer brüllten vor Vergnügen und Begeisterung.

So hatten sie in sausender Fahrt bergab diese Flasche geleert, und nun gingen sie sofort zu einem noch hitzigeren und heftigeren Getränk über – einer Viereinhalb-Liter-Flasche voll von rohem Maiswhisky, dem wasserhellen, geilen, schweren Gesöff, das der ungewohnten Gurgel Brechreiz verursacht, das augenblicklich und heftig wirkt wie ein Maultiertritt und wie flüssiges Feuer brennt. Sie hakten den Daumen in den Henkel der Krugflasche, brachten sie mit einer Bewegung der freien Hand in Schulterhöhe und ließen sich den wüsten Stoff, der gurgelnd aus dem weiten Flaschenhals gluckerte, wie ein Bächlein in den offnen Schlund laufen und schluckten ihn gierig hinunter.

Es war dies ein Trunk, der einen Ochsen zu Fall gebracht und wie ein furchtbarer Wetterschlag den Polyphem umgelegt hätte, und trotzdem war es nicht der Trunk allein, der an jenem Tag diese vier jungen Männer trunken machte. Denn sie waren eben alle vier junge Männer; sie schrien und sangen und brüllten vor Lachen und klopften einander mit zutunlicher Freude auf die Rücken; – und so war es nicht der Trunk allein, der sie so trunken machte – denn sie spürten, daß alles auf Erden gut und glorreich und zu ihrer Freude erschaffen war, daß sie nichts Unrechtes und keinen Irrtum begehen konnten, und daß eine solche unbändige Kraft in ihnen riß, daß sie Bäume mit einem Faustschlag zu fällen vermöchten, daß die unsterblichen Berge sich vor ihrem Gang verneigen würden, und daß nichts auf der Welt sie aufzuhalten imstand sei.

Dem Eugen schien es, als sei ihm mit einem Male alles lebendig geworden, als sei er im Nu und siegreich dem Entsetzen der Scham, der phantomisch-alptraumhaften Unwirklichkeit, die ihn im Bann gehalten hatte, entkommen. Ihm schien es, als sei die ganze Erde wieder in Formen todlos-vertrauter Klarheit lebendig geworden, als habe er herrlich ein für immer verloren geglaubtes Leben wiedererlangt, als besitze er nun den schlichten Ruhm und die unbezahlbare Freude des Daseins so, wie er sie nie besessen hatte.

Und was er zuerst verspürte, unsäglich beglückt und erleichtert verspürte, war ein ungeheurer Hunger. Er hatte seit Tagen nur verdrossen und angewidert gegessen, und nun begehrte sein Magen gebieterisch eine Speise. Er dachte an Eßbares in hundert herrlichen Formen und Zubereitungen; die sinnlichen Vorstellungen von Essen grellten ihm im Bewußtsein auf wie auf den Stilleben holländischer Meister, und ihm schien nun, niemals noch wären Dichter, Maler oder Schriftsteller dem Essen in gebührender Weise gerecht geworden.

Wenn Eugen später an diesen Tag zurückdachte, waren es diese Dinge, deren er sich mit lebendiger Freude erinnerte, denn es war ja, als wäre er wiedergeboren worden, oder als hätte er die Welt in all ihrer Herrlichkeit neu entdeckt. Und als ein mitwirkender Anteil am ganzen Geschehn der Wiederentdeckung erschienen ihm dann die Begleitumstände – die Art, wie die Berge aussahen an jenem Tag auf der sausenden Fahrt bergab; der Geruch der Luft, die zwar herbstmüde war, aber schon Frost und Schärfe ahnungsvoll enthielt; und der wilde Jubel, das Machtgefühl und die Verzückung im Herzen, in der Kehle, im Leben, die Empfindungen von unbesiegbar-sieghafter Kraft und seltener, unerträglicher Glücksal, die, schwallhaft mit der maßlos frohlockenden Musik dieses zaubrischen Tages aufbegehrend, ihm vorschwebten.

Der Atem der Begeisterung drang aus allem an; er wehte in der frischen, glänzenden Herbstluft, stieg aus der herbstbraunen Erde auf, kam von den großen Formen der herbstbunten Berge, sprach aus den Farben, dem dumpfen Braun, dem vollen, bitteren Rot, dem mürben Gelb und den dunklen Bronzetönen, schwoll entgegen aus dem roten, groben Lehm des vorgelagerten Unterlands mit den Stoppeläckern und den großen, braunen Baumwollfeldern. Es war spät im Oktober, die Luft roch nach dem Rauch der Laubfeuer; Goldpollen und eine wehende, webende Röte hingen im schweren, schwebenden, bangen, überschwenglichen Licht des Tages; irgendwo bellte ein Hund, und fernher, ganz fernher, kamen die Geräusche eines abfahrenden Zuges, die beiernde Schelle, der klagende Pfiff, der Räderstoß auf den Schienen.

Und schließlich war da das unsterbliche Antlitz der Erde selber, ungeheuer und nah mit schwingenden blauen Bergketten und den mächtigen herbstbraunen Hängen und den schlichten, fetzigen Formen bekannter Bäume, der Kiefern, Eichen, Kastanien, Ahorne und Akazien, ... war da die rohe, reiche, wilde Erde mit ihrem unerforschlichen Geheimnis, ihrer äußersten Vertrautheit, ihrer bezaubernden Musik und diesem unbeschreiblich, sie ewig umschwebenden Wesen von Zeit und Einsamkeit, einem Wesen, wie es der Klang einer Kuhglocke, der im Wind in fernen Tälern zerschellt, plötzlich zu Bewußtsein bringt ... – und alle diese Dinge, die Eugen als Kind schon gekannt und erlebt, und von denen er aber nie zu sprechen vermocht hatte, alle diese Dinge schienen ihm auf einmal so traut und verständlich, als wäre er nun ihre Zunge und sie auszusagen bestellt worden, als wäre er um so mehr ihr Kind, weil er ihnen so lange fern gewesen war, um so mehr ihr Auge, weil er sie nun so wiedersah, wie sie die ersten Menschen, die sie je gewahrten, gesehen haben mußten, nämlich mit den Augen der Entdeckung, der Liebe und der Erkenntnis.

Und dennoch, diese Dinge, die so augenblicklich-inständig, so unerträglich-freudig zu ihm sprachen, redeten ihm nicht von Heimat, von Heimkehr und vom Seßhaftwerden, sondern sie erweckten ein Wahrbild, das nunmehr immer in seinem Hirn brannte, immer wie ein Siegeslied in seinem Herzen rauschte. Es war das Wahrbild der verzauberten Stadt, in der – so schien ihm – die ganze drangsälige Unrast seines Geistes ein sicheres Ziel finden und er seinen Triumph erleben würde, und der nun alles auf Erden und seine ganzen herzerhebenden Hoffnungen und Freuden entgegenstrebten.

 

Als sie in Süd-Karolina drunten am Fuß des Gebirgs ankamen, waren sie sehr betrunken. Zwischen Baumwollfeldern auf einer lehmstaubigen Straße hielt der Wagen, und sie gingen in das Feld, um zu pissen. Die Baumwolle stand steif und trocken und butzig in den geborstenen Kapseln, die dürren, braunen Stauden waren in endlosen Reihen angebaut, und Eugen sah das alte, schlichte Antlitz der lehmroten Erde. Am Rand des Felds, scheinbar weit entfernt, stand eine verlassen aussehende Negerhütte, und hinter der Hütte lag ein einsames Kieferngehölz. Über der ganzen Erde lagen nun, nachdem das Gebrumm des Motors ausgesetzt hatte, eine maßlose, brütende Stille, eine schläfrige, rauchige Herbstwärme und ein ungeheures Alleinsein, das trauervoll die tragische Weissagung enthielt, daß Winter und Tod kommen müßten und dennoch erfüllt war vom jubelhaften Geheimnis der Erde.

Eugen riß ein paar Baumwollstauden aus der trocknen, roten Erde, zog eine dieser armeslangen Stauden durch das Knopfloch seines Rockaufschlags und taumelte dann wieder auf den Wagen zu, die andern Stauden wie einen Strauß in der Hand. Er stieg in den Wagen und hielt nun seinen Begleitern einen Vortrag über Baumwolle, der mit einer leidenschaftlichen Lobrede auf die Berge, die Felder, die Baumwolle und die Erde endete. Er versuchte, ihnen alles von den »Südstaaten« zu erzählen und machte dabei aus den »Südstaaten« und der Baumwolle gewissermaßen Symbole, ganz so, wie es junge Menschen zu tun pflegen. Aber auch die andern benahmen sich genauso, wie junge Männer sich dann zu benehmen pflegen.

Eugen versuchte, von den Jahren zu sprechen, in denen er nicht in der Heimat geweilt hatte, er versuchte von seiner Heimkehr zu sprechen und davon, wie er seine Heimat wieder entdeckt habe, und davon, daß er »bei Gott!« hierher gehöre; er fuchtelte mit den Baumwollstauden in der Luft herum und fand den Kern von all dem, was er zu sagen begehrte, in diesen Baumwollstauden; und alles das, obschon zusammenhanglos, wirr und betrunken vorgebracht, erschien ihm so überwältigend beredsam, so leidenschaftlich, so zutreffend und wahr, daß er vor lauter Freude mitten in seiner Rede in Tränen ausbrach. Die andern waren freilich höchlich ergötzt darüber; sie brüllten vor Lachen, klopften ihm auf den Rücken, schüttelten ihm und einander die Hände und riefen hell begeistert: »Bei Gott!« ... »Immer drauf, Junge!« ... »Ganz Deiner Meinung, Gottverdammtnocheinmal!« und »Weiter! Weiter! Hah! Das nenn' ich geredet!«

Robert fuhr nun mit einer fürchterlichen Geschwindigkeit. Sie sausten und rasten über die lehmstaubigen Straßen, zwischen den Baumwollfeldern dahin, in dichten Staubwolken und mörderisch schnell an Fahrzeugen vorbei, und sie hielten die Schreie der Männer und das Gekreisch der Weiber, an denen sie vorbeikamen, für Äußerungen des bewundernden Beifalls, was zwar ein Irrtum war, aber sie trotzdem zu noch größerer Geschwindigkeit anspornte.

Die Folge davon war, daß sie schließlich mit verrückter Geschwindigkeit auf der Hauptstraße der Stadt einfuhren. Die aufgeregten Leute längs der Straße aber hatten schon seit einer Viertelstunde die Verkehrspolizei angerufen, und nun sahen sich die kühnen Fahrer plötzlich einer Kette von Schutzleuten gegenüber, die in doppelter Reihe den Fahrdamm absperrten.

Die erste Wirkung des Rausches, der strahlende, schimmernde, wilde Aufschwung war bereits verflogen, obschon die jungen Männer noch immer die unbändige Kraft in sich reißen spürten. Der Whisky gloste nun dumpf in ihren Adern mit einer finster-sturen Rauschhaftigkeit. Dem Eugen war es, als könne er alle Formen und Gestalten klar erkennen – da waren die groben, roten Gesichter der schwerfällig-plumpen, bäurischen Schutzleute; da war die Straße: staubig und verschlafen lag sie in der Wärme des Herbstnachmittags. Die Rasenplätze vor den Häusern waren welk und verdorrt; von den Bäumen war schon viel Laub gefallen, und das Laub, das noch an den Ästen hing, war gelb und tot. Ein Windstoß kam, und das Laub auf den Bäumen raschelte trocken, und das abgewehte Laub in der Gosse schurrte hurtig auf. Und dann war die Luft wieder still.

Robert bremste und stoppte den Wagen vor dem gediegenen Wall aus blauen Uniformröcken und roten Gesichtern. Die Polizisten umzingelten den Wagen, und ein paar von ihnen stiegen schwerfällig auf. Zwei standen auf den Kotflügeln, je einer saß links und rechts von Eugen auf dem rückwärtigen Polster, und einer saß vorn zwischen Robert und Emmet Blake.

»Schon recht, Jungs!« sagte einer von ihnen gutmütig und durchaus beiläufig in der volltönig-dröhnigen, etwas heulenden Mundart, die die weiße Landbevölkerung in jener Gegend spricht. »Nu fahrn Se mol da runner uff die Polizeiwache!«

»Jawoll, Herr –! Jawoll, Herr!« erwiderte Robert in gehorsam-demütigem Ton und mit einer komisch betrunknen Bereitwilligkeit. »Wie kommt man denn da hin, Herr Kapitän?« fragte er mit drollig-schmeichelhafter Liebenswürdigkeit.

»Gradaus bis an die übernächste Querstraße«, dröhnte der Polizist in seiner trägen, langgezogenen Mundart. »Da biegen Se rechts ab. Steht ein Feuerwehrhydrant an der Ecke.«

»Jawoll, Herr!« erklärte Robert munter und ließ den Motor wieder anspringen. »Wir sind alle fremd hier«, log er, wohl in der Hoffnung, diese Lüge könne den Tatbestand mildern. »Kennen uns hier noch nicht aus.«

»Na, vielleicht das nächste Mal«, meinte der Polizist mit häßlicher Herzhaftigkeit, »wenn Se hierherkommen, werden Se sich besser auskennen.« Er zwinkerte seinen Kameraden zu, die alle schallend auflachten. »Wir freu'n uns, Sie kennenzulernen, Jungs. Wir haben schon viel von Ihnen gehört, und so war uns viel an der Bekanntschaft gelegen.« Er zwinkerte seinen Kameraden wiederum zu, und die Polizisten lachten schallend über den Mutterwitz ihres Sprechers.

Diese Polizisten waren alle Bullenkerle mit roten Bauerngesichtern und herzhaften Klönstimmen. Sie hatten große, eckige Füße und trugen verstaubte, schwarze, breitkrempige Schlapphüte. Ihre ziemlich theatralischen Uniformen sahen schlampig aus. An den Seitennähten der weitfaltigen Hosen lief eine Biese aus Goldbesatz, und die dickblauen Tuchröcke hatten Messingknöpfe, von denen die untersten offenstanden, so daß man einen Ausschnitt von den prallen, mit angeschmutztem Hemdzeug bespannten Wänsten sah. Auf ihren Mienen lag eine träge, aber mächtige Energie, eine unergründliche, verständnislos-tierhafte Gutmütigkeit, gepaart mit einer unergründlichen, verständnislos-tierhaften Grausamkeit, einer jähen, vulkanischen, mörderischen Grausamkeit, die furchtbar auf den breiten, dünnlippigen, entsetzlichen Mündern ausgedrückt war. An diesen Mündern war eine Lebenskraft zu erkennen, die die ganze wilde, sinnliche Naturgewalt enthielt, eine Lebenskraft, die deswegen – unbändig und verständnislos, wie sie war – außernatürlich, ja fast übernatürlich wirkte.

Schutzleute dieser Art hatte Eugen in kleinen Städten des Südens oft gesehen. Sie waren an den Straßenecken gestanden, groß und schlampig, mit vollen, roten Gesichtern von unergründlicher Gutmütigkeit und Mündern darin von unergründlicher Grausamkeit, sie hatten den Knüttel am Handriemen in den breiten Pranken wippen lassen und hatten faul die vorüberschwärmende Menge beobachtet. Eugen hatte sie sprechen hören in der dehnig-klönigen, heulenden Mundart der Gegend, und er hatte es erlebt, wie ihr träger Verstand in eine verständnislose und mörderische Wut geraten war. Einmal als Kind hatte er gesehn, wie so ein Schutzmann, ein Hüne so groß und schwer, daß er bei jedem Schritt schlingerte und die ganze Straße mit seiner massigen Gestalt auszufüllen schien, ein betrunkenes, altes, rappeldürres Männchen mit dem Knüttel zu Tode schlug, wie der Riese dem heulenden Greis, diesem kläglichen Wesen aus Haut, Flechsen und Knochen, so lang mit dem Knüttel auf den Schädel hieb, bis das Blut in Strömen durch das schüttere Silberhaar quoll und in leuchtenden Bächen über das Gesicht und den Bart schoß, so daß es unglaublich schien, wieso ein so winziges altes Männchen solche Quellen hellen Blutes in sich haben konnte.

Woran diese mächtigen Geschöpfe Eugen gemahnten, das war eine ganze Erd-und-Menschheitsgeschichte, ungeheuerlich, wüst und nicht auszusagen, – eine übereinstimmige und aussprechliche Lesart vom Dasein, die er kannte, und die diese Leute bis zu den Ursprüngen kannten, eine Lesart, von der er nicht reden konnte und von der er doch um jeden Preis irgendwie reden mußte. Denn an diesen Männern offenbarte sich ihm nicht nur die wüste und verständnislose Energie der Erde selber mit all ihrer Wildheit, Sinnenhaftigkeit, Fruchtbarkeit, Grausamkeit und Wesensgüte, also der ganze Stimmungscharakter des Lebens, – sondern an ihnen offenbarten sich auch die Angst, die Schande, die kauernde Feigheit und jenes Entsetzen, das sie unter dem ozeanischen Gewicht namenloser Furcht erdrückt und ihre Seelen zerbrochen und zerstört hatte.

 

Roberts Wagen war ein neues Sportmodell; der Sitzplatz in diesem Gefährt war schmal und eigentlich nur für vier Personen berechnet. Die knatschig-feiste, gediegen-schwere, fleischmassige Körperlichkeit der zwei Polizisten, zwischen denen eingekeilt Eugen saß, erweckte Abscheu und Ekel in ihm. Trotzdem aber war sein freudig-mächtiger Übermut noch nicht verflogen. Zwar hatte er beim ersten Blick auf die Kette der Schutzleute sofort begriffen, daß er und seine Begleiter verhaftet waren und ins Stadtgefängnis gebracht werden würden, aber diese trübselige Aussicht verursachte ihm nicht das geringste Unbehagen. Er war noch so fröhlich betrunken, daß ihm alles auf Erden gut erschien, und daß er jedes Ereignis als wundervoll begrüßen konnte. Verhaftet und ins Gefängnis gesperrt werden, das dünkte ihm nun eine glückhafte, glorreiche Erfahrung, und so war denn auch seine überschwengliche Zuneigung für die Welt so groß, daß er sogar an den Schutzleuten Gefallen fand.

Eugen brüllte vor Lachen, tatschte die Schutzleute auf die breiten Buckel, hängte sich ihnen an die Schultern und erklärte: »Bei Gott, Ihr seid feine Kerle, alle zwei, und jetzt müßt Ihr mal trinken!«

Robert, der dies gehört hatte, lachte unbehaglich und sagte zu den Polizisten: »Hören Sie nicht auf sein Gerede. Wir haben nichts zu trinken dabei, ich schwör's Ihnen, bestimmt nicht.«

Aber einer von den Polizisten hatte schon gestöbert, und nun brachte er die große Flasche, die unter Blakes Beinen gestanden hatte, zum Vorschein.

»Hier, hab ihn schon, hier ist der Stoff, Jungs!« verkündigte er laut und hob die Flasche hoch. Sie war beinah leer, es war gerade noch ein bißchen Whisky drin.

Robert machte eine besorgte Miene, denn nach dem Gesetz konnte in einem solchen Fall unter Umständen das Automobil des Besitzers beschlagnahmt werden.

Blake machte unterdessen einen schlauen Bestechungsversuch und sprach leise und betrunken auf den Polizisten, der neben ihm saß, ein:

»Na, ich weiß doch, daß Sie uns keine Scherereien machen wollen. Wir haben ja schließlich nichts verbrochen, ein bißchen getrunken, das ist alles, und wenn Sie drüber weggehn wollen, können wir die Sache unter uns erledigen ... Sie brauchen bloß zu sagen wieviel ...« flüsterte er listig. »Wir fahren dann sofort von hier weg, alles ist vergessen, kein Mensch erfährt was davon ... Also, was meinen Sie dazu? Kommen Sie, das läßt sich doch machen!« erklärte er mit einem einschmeichelnden Lächeln.

Der Polizist, dem er so zugeredet hatte, schmunzelte, sagte aber nichts. Der Wagen war schon in die Seitenstraße eingebogen und hielt nun vor der Polizeihauptwache, einem trüben, kleinen Backsteinbau mit vergitterten Fenstern.

Warm und verschlafen, welk und von den Gespenstern des Herbsts besucht, lag die schäbige Straße da. Aber im Nu, wie aus dem Nichts hergezaubert, hatte sich, während die Angeheiterten torkelnd aus dem Wagen stiegen und von den Schutzleuten auf die Wache geführt wurden, allerlei Geschmeiß versammelt: – Negerbuben in zerlumpten Kleidern, grinsende Tölpel vom Land, die mit offnem Maule gaffend mit ihren roten Gesichtern dastanden, schlampige Barbiere in Hemdsärmeln und wurmstichig aussehende Bummler – und diese Zuschauer standen nun im Halbkreis herum, sie kicherten und stießen sich an und scharrten mit den Füßen, manche beschatteten sich den Blick mit der Hand, um besser zu sehen, und andre preßten das Gesicht gegen die Gitterstangen der Fenster, um hineinzulugen.

Ehe er hineingeführt wurde, hielt Robert an und sagte heiser in einer kläglichen, besorgten Stimme zu dem Schutzmann, der ihn am Arm hielt:

»Warum führen Sie uns hier 'rein? Wir haben nichts begangen. Wirklich nicht! Was haben Sie mit uns vor?«

Der Schutzmann lächelte gutmütig und versicherte herzhaft: »Ah, wir haben nichts mit Ihnen vor! Wir haben bloß Angst, Sie könnten weiterfahren und einen Unfall haben und sich weh tun. So nehmen wir Sie hier auf und lassen Sie eine Weile da, bis es Ihnen wieder besser geht.« Er zwinkerte seinen Kameraden zu.

»Jedenfalls«, sagte Robert störrisch und warf unabsichtlich einen betrübten Blick zurück auf seinen glänzenden Wagen. »Wenn ich 'rauskomme, möchte ich meinen Wagen hier vorfinden. Wenn an dem Wagen etwas geschieht, setzt es Unannehmlichkeiten«, drohte er düster.

»Der Wagen wird ganz so, wie Sie ihn verlassen haben, dastehen, wenn Sie 'rauskommen«, sagte der Schutzmann herzhaft. »Kein Mensch wird ihn anrühren. Nein, nein, ich werde mich selber darum bekümmern«, versicherte er und zwinkerte seinen Kameraden zu.

»Dann ist's schon recht«, sagte Robert. »Das wollte ich bloß wissen.«

Dann marschierte er mit den anderen zusammen ins Haus.

Die Wachtstube, die sie nun betraten, war groß, und weil sie aus der hellen Sonne kamen, schien es zunächst sehr dunkel dort. Eugen, verwirrt von der Verhaftung und so betrunken, daß ihm alles vor den Augen schwamm, konnte zunächst überhaupt nichts erkennen. Dann aber sah er, wo er sich befand. Es war ein viereckiger, ziemlich hoher Raum mit einem abgenutzten Fußboden aus Holzbohlen und einer dunkelbraun gefirnißten Wandverschalung. Die Decke und die Wände oberhalb der Verschalung waren mit Kalk getüncht. Auf der Straßenseite waren neben der Tür zwei vergitterte, nicht sehr große Fenster, durch deren schmutzige Scheiben nur wenig Licht hereinfiel.

An der einen Wand, den Eintretenden gegenüber, stand eine Reihe dunkelgrün gestrichener Spinde; sie waren vermutlich für die Schutzleute da. Am andern Ende, auf einer ein paar Zoll hohen Tribüne majestätisch aufgebaut, war ein rechteckiger, dunkelbraun gebeizter Schreibtisch, auf dem eine Lampe mit einem grünen Glasschirm brannte. Dort saß, groß und mit rotem Gesicht, ein Polizist, der, dem autoritativen Aussehen und der Opulenz seiner Uniform nach, der Erstkommandierende war. Die Achselstücke aus dicken Goldraupen hätten einem General der Marine-Infanterie zur Zier gereicht.

Im übrigen war der Raum des Schmuckes und der Ausstattung bar bis auf ein paar alte, nicht mehr ganz fugen- und leimfeste Stühle mit runden Lehnen und eine Menge freizügig verteilter, hoher Messingspucknäpfe, die aber, wie man an den kahlen Fußbodenbohlen ringsum sehen konnte, nicht so sehr als Empfangsbecken dienten, wie vielmehr als Zielscheiben für offenbar unsichere Schützen.

Der ganze Ort war unvergeßlich; er sah aus und roch so, wie Polizeistationen überall, besonders aber in Kleinstädten, immer ausgesehn und gerochen haben. Die muffige Luft war durchdrungen von den Gerüchen billiger Zigarren und von Kautabakspritze, von altem, gefirnißtem Holz, von menschlichem Schweiß und Urin, von dicker Wolle und von dem teerähnlichen, starken Geruch eines sanitären Desinfektionsmittels. Und an diesem dunklen, dumpfen, trägen Mief hafteten irgendwie die Eigenschaften des Terrors, der Drohungen und der düsteren Ahnungen; es war, als hätte sich die trübselige Chronik der Irrtümer und Tragödien, deren Zeuge dieser Raum einmal geworden war, der Luft mitgeteilt. Man spürte die ganze rohe, schäbige Sündigkeit der Kleinstadt, die ganze gräßliche, plagsame und verlotterte Geschwisterschaft von Armut, Laster und Verfehlung, aus den Rattenlöchern in alten Backsteinhäusern aufgestöbert, aus Stundenhotels, Spielhöllen und Spelunken aufgescheucht, aus baufälligen hölzernen Hurenhäusern im Bahnhofsviertel und aus elenden Niggerhütten hergejagt, eine ganze Bande narbiger Männer und mißhandelter Weiber, Neger, die als Sträflinge in Fußketten gearbeitet hatten, versoffne Bauernlümmel und billige Alkoholschmuggler, schmierige Strichgängerinnen mit ihren verstohlenen Kupplerinnen und ihren Zuhältern, Messerhelden und Raufbolde aller Art, diejenigen, die am Laster verdienen, neben denjenigen, die dem Laster zum Opfer fallen, – diese ganze Erde der Schmerzen, des Verbrechens und des Elends hatte hier ihren Wesenshauch zurückgelassen, und die Luft, die Möbel, die Wände, der Fußboden, die Decke, alles war mit Kummer und Angst und menschlicher Erbärmlichkeit wie mit einer Substanz fürchterlich und untilgbar beschlagen und durchtränkt.

Die Polizisten hatten Eugens drei Begleiter in einer Reihe vor der imposanten Tribüne, auf der der Beamte am Schreibtisch saß, aufgestellt. Ihn aber, Eugen, hatten sie wie einen für Alltagsgebrauch zu seltenen und kostbaren Gegenstand vorsichtig gegen die Wand gelehnt. Und nun, als der große Mann die Vorgeführten finster und mißtrauisch musterte, sprach einer der Polizisten zu seinem Vorgesetzten.

»Der Lange da«, sagte er im volltönigen Idiom des Landes und deutete mit einem Ruck des Kopfs auf Eugen, »der is' der Besoffenste vun dere Bande.«

Das auf den Thron erhobene Gesetz ließ sein feindseliges und verdachthegendes Auge auf Eugen ruhen, und dieser Blick sagte, schlichter als es Worte getan hätten, daß diese so offensichtlich richtige Angabe des Polizisten überflüssig gewesen war.

Eugen hatte in der Tat gar nicht gewußt, wie betrunken er war. Aber nun, mit der Wand hinterm Rücken, spürte er, daß er schwer betrunken, betrunkener als je zuvor im Leben war. Er spürte, wie er mit dem Rücken an der Wand 'runterrutschte, und dann machte er mit einem Ruck die Knie grad und rutschte wieder die Wand hinauf. Die Wachtstube schwamm und schaukelte vor seinen Augen und stand dann wieder still, die Gegenstände taumelten durcheinander und verschmolzen schmierig, dann zerlöste sich das Knäuel, und die Dinge standen wieder richtig auf ihren Plätzen.

Er wurde sich bewußt, daß die Polizisten ihn und seine Gefährten durchsuchten, daß sie ihnen die Taschen abklopften, um nachzusehen, ob sie Waffen trügen, ihnen in den Brieftaschen und Briefsachen nach Ausweispapieren stöberten, ihnen die Uhren abnahmen und ihnen schließlich ein Protokoll machten mit einer Reihe von förmlichen Anklagepunkten, von denen einige nichts mit dem Fall zu tun hatten: – Betrunkenheit – nun, das freilich stimmte, – unordentliche Führung – nun, das mochte stimmen, obschon es den Beschuldigten nicht so schien, als hätten sie sich unordentlich aufgeführt, – rücksichtsloses und zu schnelles Fahren – nun, dessen hatten sie sich schuldig gemacht, – aber – Widerstand gegen die Staatsgewalt – nein, dieses Verbrechens waren sie bisher unschuldig, denn sie hatten keinem Schutzmann in Ausübung seines Dienstes Schwierigkeiten gemacht.

So aber lauteten die Anklagen, die ihnen nun feierlich-ernst und mit volltöniger Stimme verlesen wurden. Das Gehaben der Polizisten, ihre ungebildete Sprechweise, ihre Äußerungen, ihre allwissende und wichtigtuerische Art, als sie die jungen Männer abtasteten, als wären diese eine Bande bewaffneter Desperados, eine Art, die ganz und gar an durch Unterrichtsbriefe vermittelte Detektivmethoden erinnerte, – dies alles hatte etwas Komisches und Possierliches. Andererseits war da aber auch ein geradezu banditenhafter Zusammenhalt im Bewußtsein der ausübenden Gewalt, ein dienstliches Benehmen derart, als hätten sie sich gegen die jungen Leute verschworen. Nun, nachdem die Schutzleute ihre gutmütige Jovialität aufgegeben hatten, kam ihre häßliche und empörende Art, Menschen zu behandeln, brutal zum Vorschein, eine Art, die dumm, provinzial und pöbelhaft-bedenkenlos war und den jungen Leuten klarmachte, woran sie wären, die ihnen gewissermaßen geradezu sagte: »Nun haben wir Euch, und Ihr seid Fremde, und schon deswegen seid Ihr verdächtig, und so müßt Ihr stillschweigend die verstockten Tyrannenlaunen unsrer örtlichen, das heißt unantastbaren Behörden erdulden.«

Schließlich waren alle Formalitäten der Anklage erfüllt. Der diensttuende Wachtmeister hatte ins Hauptbuch geschrieben und gekritzelt, nun sah er auf und befahl barsch:

»Schon recht, Jungs! Führt sie nach hinten und sperrt sie ein!«

Die jungen Männer wurden durch einen Gang in einen rückwärtigen Anbau geführt. Das Gefängnis war ein großer, zweistöckiger Raum mit Backsteinmauern und einem Zementboden und zwei Reihen kleiner, vergitterter Fenster, durch deren schmutzige Mattscheiben ein kaltes, trübgraues Licht fiel. Hier war es feuchtkalt, es roch nach Eisenbeton, und offenbar war dieser Teil des Gefängnisses erst vor kurzem erbaut worden. Die Zellen, nebeneinander und stockwerkweis übereinander eingebaut, reichten bis unter die Decke. Als sie eintraten, war es ganz still, aber sofort begann eine betrunkene Negerin zu plärren, zu stöhnen und zu seufzen; sie hämmerte und ratterte und rüttelte an der Gittertür ihrer Zelle und benahm sich wie ein irrsinnig gewordener Affe. Und überall war der faulige, üble Gestank von Menschenkot aus schlechtgespülten Aborten, durchsetzt mit dem teeartigen Geruch des Desinfektionsmittels und scharf verschnitten von der säuerlichen Bitterkeit von flüssigem Ammoniak.

Die Polizisten, die Robert Weaver und Emmet Blake führten, blieben ziemlich am Ende der untersten Zellenreihe stehen. (Eugen entdeckte plötzlich betroffen, daß Kitchin nicht mehr dabei war.) Ein Polizist schloß die Türen zu den Zellen Nummer zwei und drei auf, und Blake und Robert wurden dort festgesetzt. Die letzte Zelle in der Reihe war, wie Eugen nun sah, für ihn bestimmt, und er stand gehorsam abwartend da. Ein Polizist hielt ihn lose am Arm, während ein andrer aufschloß.

Als die Tür aufging und Eugen eintreten wollte, wurde sein verschwommener Blick plötzlich klar, und er sah einen jungen Neger in der Zelle neben der eisernen Bettstelle stehn. Aus dem verdutzten Gesicht des Negers war zu schließen, daß er fest geschlafen und nun roh geweckt worden war. In Eugens berauschtem und erhitztem Hirn setzte sich augenblicklich und all-eindringlich der Glaube fest, daß er wegen Überfüllung des Gefängnisses mit diesem Neger zusammengesperrt werden solle, und daß – dies war's, was ihn rasend machte und ihm unannehmbar war – die Schutzleute, die, wie ja einer von ihnen zuvor gesagt hatte, ihn »für den Besoffensten von der Bande« hielten, dachten, er sei so betrunken, daß er entweder nicht merke oder sich nichts daraus mache, daß sie ihn mit einem Neger zusammen einsperren wollten.

Und aus diesem Grund, lediglich aus diesem Grund, war er so aufgebracht. Gegen den Neger selber hegte Eugen keinerlei Gehässigkeit, und sein Gefühl der Scham und Erniedrigung war so überwältigend angesichts der Zelle und der Tatsache, daß er wie ein Stück Vieh eingesperrt werden sollte, daß es ihm völlig gleichgültig gewesen wäre, mit wem auch immer man ihn zusammen festgesetzt hätte, also auch mit einem Neger, wenn es der Brauch im Lande so gehalten hätte. Aber der Brauch im Lande hielt es, wie Eugen wohl wußte, nicht so, und der Gedanke, daß man mit ihm, dem Betrunkenen, so schandbar verführe und ihn schlechter behandele als seine Mitverhafteten, stachelte ihn in seinem zur Raserei aufgerührten Stolz so heftig, daß er sich umdrehte und die eiserne Gittertür den Polizisten, die sie gerade hinter ihm schließen wollten, entgegenstieß.

Eugen versuchte, sich aus der Zelle herauszudrängen, und als es ihm gelang, warfen sich die beiden Polizisten mit ihrer lummeren, schnaufenden Plumpheit auf ihn und versuchten, ihn wieder in die Zelle hineinzuschieben. Und im Nu stand etwas Dunkles, Graues, Furchtbares, von dem er zuvor nicht gewußt hatte, daß es in seiner Seele sei, in ihm auf, etwas sinnlos Gewalthaftes, dessen Macht er nun zum erstenmal in sich spürte, aber später in den wüsten Jahren seines Leben noch oft spüren sollte.

Eugens Wut und Verzweiflung waren so groß, daß er kaum Angst oder überhaupt keine Angst hatte, aber der Abscheu und der Ekel in ihm waren so furchtbar, daß es ihn rasend machte, und daß er sich wie ein Ertrinkender vorkam. Die Berührung und der Geruch dieser großen und breiten, knatschig-feisten und plumpen Fleischberge waren ihm entsetzlich. Eugen stand in der Tür, hielt sich von beiden Seiten an den Gitterstangen fest, brüllte und fluchte und stieß mit dem Kopf nach den Polizisten. Die Polizisten, schnaufend und schwitzend, versuchten ihn zurückzudrängen, einer von ihnen hob die geballte Faust und schrie: »Geh zurück oder ich schlag zu!« Eine schwere Pranke traf Eugen platt auf die Nase und den Mund, er stieß mit dem Kopf zurück, fluchte, vor seinen Augen drehte es sich wie ein Spritzwirbel von berstenden Raketen, die Faust traf ihn hart unter das eine Auge, Eugen schrie auf wie ein verwundetes Tier, fluchte furchtbar und stieß wieder, den Kopf als Rammbock benutzend, auf die fetten, roten Gesichter los.

Einer von den Polizisten – er grunzte, sein Atem ging in Puffstößen, die dicke Zunge stak ihm zwischen den Zähnen – versuchte nun, auf Biegen oder Brechen Eugens eine Hand von der Gitterstange loszuwinden und sagte zu dem andern: »Geh an seine andre Hand, Jim!« Eugen aber fluchte und schrie in einem fort: »Ihr gottverdammten Süd-Karolina-Bankerte mit Euren roten Fressen! Nein! Ihr werdet mich nicht mit einem Nigger einsperren! Nein, mich nicht!« Und nun spürte er auf einmal ein rauhwolliges Kratzen unter seinem Arm. Es war der Kopf des erschreckten Schwarzen. Der Neger zwängte sich unter Eugens Arm hindurch und nun stand er draußen und glotzte mit seinen weißen Augäpfeln über die Schulter eines der Polizisten. Als Eugen sah, daß die Schutzleute den Neger nicht mit ihm zusammen einsperren würden, ging er in die Zelle zurück und wurde eingesperrt. Es war ihm übel und schwindlig. Alles schwamm vor seinen Augen. Er beugte sich über den Abort und erbrach heftig. Dann setzte er sich auf den Bettrand und starrte vor sich hin. Er dachte an nichts, aber etwas Gräßliches, etwas großes, graues Schmieriges war in ihm.


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