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XXXI

Der Sterbende selber ließ sich nicht länger von der Hoffnung zum Narren halten; er wußte, er war erledigt und nahm es mit Gleichmut hin. Es war sogar, als hätte ihm dies Wissen neue Kräfte verliehen, die ungemeinen und unermeßlichen Kräfte, die aus der Resignation kommen, und die das Entsetzen und die Verzweiflung überwinden. Gant hatte sich mit dem Sterben abgefunden und wartete nun ohne Kummer und ohne Qual mit einer friedlichen und vollkommenen Ergebenheit auf den Tod.

Bei einem Mann, der so maßlos heftig ein Leben heulender Wut und wüster Aufbäumung gelebt hatte, nahm diese vollkommene Schicksalsergebenheit und Wesensstille wunder; sie machte die Angehörigen stumm und hilflos. Es war, als hätte Gant, wohl wissend, daß er oft schlecht gelebt hatte, sich nun entschlossen, eines guten Todes zu sterben, und das vollbrachte er. Jede Aufwartung, jeden Besuch, jede gestammelte Versicherung und jede verwirrte Handreichung nahm er mit einer stillen Erkenntlichkeit entgegen, und er schien zu wünschen, daß jeder um diese Erkenntlichkeit wisse. Am Abend des Tages, an dem er die schwere Blutung gehabt hatte, begehrte er etwas zu essen, und Eliza, übergeschäftig und ergreifend begierig, etwas für ihn zu tun, war hinausgeeilt, hatte ein Hühnchen geschlachtet und es für ihn zubereitet.

Und dann war es, als hätte er aus der unendlichen Tiefe des Todes und der Stille, aus der er sie anblickte, hinter ihrer gezügelt flinken Beflissenheit, hinter ihrer aufgeregt aus und ein gehenden Gestalt, hinter ihren wirren Versicherungen: »Ei ja, gleich, genau das!« das weiße, betroffene Gesicht und die schmerzlichen Augen einer stolzen, zartfühlenden Frau erkannt, die ihr Leben lang Zuneigung begehrt hatte und meistens unrecht behandelt und mißbraucht worden war, und die nun bereit wäre, jedes kleinste bißchen Trost oder Rechtfertigung von ihm, dem Sterbenden, begierig anzunehmen. So ließ er sich ein paar Bissen schmecken, und dann sah er zu ihr auf und erklärte:

»Ich will Dir etwas sagen, dieses Hühnchen war sehr gut!«

Helene, die bei ihm am Bett saß und ihm die Bissen gereicht hatte, rief darauf scherzhaft herausfordernd:

»Was? Du wirst doch nicht gar behaupten wollen, daß es besser war als die Hühnchen, die ich für Dich gekocht habe! Sag das ja nicht, sonst setzt es Klapse!«

Gant grinste matt, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ah-h-h! Deine Mutter kocht gut, Helene. Du kochst auch gut, aber niemand kann ein Hühnchen kochen wie Deine Mutter.«

Er streckte die große Rechte aus und tätschelte Elizas abgeschaffte Hand.

Und Eliza, von plötzlicher Rührung bestürzt über dies ungewohnte Lob und diese ungewohnte Zärtlichkeit, wandte sich ab und eilte aus dem Zimmer, taumelnd, die eine Hand fest um das Gelenk der anderen geschlossen, den altersschwachen Blick von Tränen geblendet. Sie schüttelte heftig krampfhaft den Kopf, lächelte mit bebendem Mund ein fahles Lächeln, ein drolliges, rührendes Lächeln, das unnatürlich wirkte, weil sie ein künstliches Gebiß hatte, und flüsterte unausgesetzt vor sich hin: »Armer Kerl! Da sagt er: ›Niemand kann ein Hühnchen kochen wie Deine Mutter‹ und streckt die Hand aus und tätschelt meine, weißt Du, und sagt: ›Ich will Dir etwas sagen, es gibt niemanden, der ein Hühnchen kochen kann wie Deine Mutter‹, und das ist, als hätte er mich es wissen lassen wollen, als hätte er es mir sagen wollen, und so sagt er: ›Ihr alle seid gut zu mir gewesen, Helene ist eine gute Köchin, aber niemand sonst kann kochen wie Deine Mutter.‹«

»Aber na, na, na!« sagte Helene, die unsicher lachend Eliza gefolgt war, als diese zum Zimmer hinauseilte. Sie packte ihre Mutter bei den Armen und schüttelte sie sanft. »Guter Himmel! Na, na! Ei faß Dich doch! Du mußt es doch nicht so nehmen! Es steht ja gut um ihn!« rief sie herzhaft aus und schüttelte Eliza abermals. »Papa wird ja wieder gesund! Also, warum weinst Du denn?« Sie lachte. »Er wird nun wieder gesund, weißt Du das denn nicht?«

Und Eliza, auf einen Augenblick sprachlos, lächelte mit bebendem Mund jenes verräterische und unnatürliche Lächeln, schüttelte leicht krampfhaft den Kopf, und ihre Augen standen voll Tränen.

»Ich will Dir was sagen«, flüsterte sie lächelnd und kopfschüttelnd, »da war irgend etwas in seiner Art, weißt Du, in der Art, wie er das sagte: ›Es gibt niemand, der sich da mit Deiner Mutter vergleichen kann‹ ... da war irgend etwas in der Art, wie er das sagte! Armer Kerl, da sagt er: ›Keins von Euch kann kochen wie sie‹ ... sagt er: ›Ich will Dir etwas sagen, das war aber sicher ein gutes Hühnchen‹ ... Armer Kerl, es war ja gar nicht so sehr das, was er sagte, als die Art, wie er es sagte, ... es ging durch mich hindurch wie ein Messer, ja, ganz so ...«

»Aber na, na, na«, rief Helene abermals und lachte. Aber ihre eignen Augen waren ebenfalls feucht. Die bittere Besitzsucht, die alle ihre Beziehungen zu ihrem Vater beherrscht und Eliza von ihm weggeschoben hatte, war plötzlich überwunden. Und in diesem Augenblick begann sie, eine Zuneigung für ihre Mutter zu empfinden, wie sie sie nie zuvor verspürt hatte, ein tiefes und namenloses Mitleid und Bedauern und eine düstere Genugtuung.

»Also ja«, dachte sie, »das ist vermutlich alles, was ihr zuteil geworden ist, und ich bin froh, daß sie es gekriegt hat, so daß sie sich dran erinnern kann. Ich bin froh, daß er es zu ihr gesagt hat, nun wird sie es auf immer haben und sich dran klammern können.«

Und Gant lag da und blickte auf aus der versunkenen Tiefe des Todes und der Stille, und die großen Hände der lebendigen Kraft lagen mit ihrer ungemeinen und ruhigen Stärke neben ihm auf dem Bett.


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