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XIX

Soll ein Mensch Dir im Herzen tot sein, ehe noch sein Fleisch in der Grube zu Ende verweste, ehe noch die nährenden Fett-, Horn- und Sirupstoffe, kraft deren sein Haar weiterwächst, völlig zerfielen? Soll ein Mensch für Dich erledigt sein mit dem, was dann nur noch Genist emsiger Maden heißt, und soll ein Bruder des Bruders Gedenken verlassen, ehe noch das Gewürm das zerstörte Gewebe verließ? Ein Gegenstand ist dies, von Inhalt schwer: – Gesetze sollten erlassen und eine Zucht sollte errichtet werden, um größere Treue zu lehren. Und Eugen erwachte plötzlich aus dem Traum von der Zeit, in dem er lebte. Inständig-augenblicklich, und wie erlöst von einem Sperrzauber, der ihn jahrelang ans Fremdferne gebannt hatte, und mit einem unerträglichen Gefühl von Schmerz und Verlust erinnerte er sich seines Zuhause, seiner Heimat und der verlornen Welt seiner Kindheit, spürte er das sonderbare und bittre Geheimnis des Lebens, hatte er keine Worte für das, was er zu sagen begehrte.

Die verlorne Welt erschien ihm viele Male wieder, oft ohne daß er Grund und Ursache für das Erscheinen hätte finden können, es sei denn gewesen: eine Stimme halbgehört, ein Wort fernhergesprochen, ein Blatt, ein Licht, das kam und ging und wiederkam. Immer aber, wenn die verlorene Welt wiedererschien, geschah es jählings und so, als dränge ihm ein Schwert durch den Leib. Und die verlorne Welt war dann da in all ihrer Glanzgewandung, lebendig und ganz so magisch, wie sie immer gewesen war.

Und immer, wenn sie kam, und wann auch immer sie kam, und aus was für einem Grund sie auch immer kam, – immer hörte Eugen die große Stimme seines Vaters im Hause erdröhnen, immer sah er den Alten murmelnd und mit erdeverschlingendem Schritt um die Ecke kommen, so wie es stets um die Mittagsstunde gewesen war vor vielen und langen Jahren.

Und dann hörte er auch immer die Stimme seines toten Bruders wieder. Mit der Schwärze des jähsten Schrecks und in einem traumhaften Nichtglaubenkönnen fiel ihm ein, daß Ben tot war. Und dennoch vermochte er's dann nicht zu glauben, daß Ben gestorben wäre, daß er, Eugen, diesen Bruder gehabt, diesen Freund verloren hätte. Ben erschien ihm in diesem Augenblick in einer so unerträglich grellen Wirklichkeit, daß ihm bangte. Alsbald hörte er die ruhige Stimme des lebendigen Ben, sah Bens heftige, bittergraue Augen unter der heruntergerückten Braue, sah das zürnende, stolze lebhafte Gesicht. Und immer, wenn Ben so zurückkehrte, sah Eugen ihn in einem einzigen Wahrbild, in einem kurzen, vergeßnen Augenblick aus der Vergangenheit, und das Erinnern geschah durch ein Erinnertes, geschah durch ein Wort, eine Gebärde, eine Handlung Bens. Und alles, was je über Bens Leben gewußt werden konnte, war gewiß gesammelt und verdichtet in diesem grellen Wahrbild aus verlorner Zeit und dem vergessenen Augenblick von damals. So, in einer fremden Gegend, von seinem Bett nachts ins Dunkel starrend, hörte Eugen plötzlich die Stimme seines Bruders wieder und lebte dann im fernen und bittern Geheimnis der Zeit.

Das Wahrbild, in dem Ben nun zurückkehrte und in dem er den Bruder dann öfter heimsuchte, war dies: Eugen sah Ben im großen Schaufenster des Zeitungsgebäudes. Der Widerschein eines alten Abendrots und ein tragisches und fremdes Schicksalslicht lagen auf Bens Braue. Und alles, was je jemand von Ben wissen und verstehen konnte, war da inbegriffen:–

Bittrer und Schöner, zürne nicht mehr! Ben steht im Schaufenster, im Augenblick hat er nichts zu tun, und so stützt er die hager-kräftige Hand leicht in die knochige Hüfte. Seine grauen Augen unter der finster gerückten Braue blicken heftig, bitter und verächtlich über die Menge draußen vor der Scheibe hinweg. Dann, eine Sekunde lang, sieht er diese Leute finster und fest und mit einem Ausdruck fast wilder Verachtung an. Und dann wendet er sich zürnend ab. Der feine Mund in dem bittern, schmalen, spitzen Gesicht verzieht sich leicht, und der wohlgeformte, kühne Kopf mit dem kurzgeschnittnen Haar wird ruckhaft seithochgeworfen, so als solle er über die Schulter zurechtgeschnickt werden. Ben lacht ein kurzes mitleidig-verächtliches Lachen, Ben wendet sich an den unbekannten und unsichtbaren Zuhörer, der lebenslänglich-ewig seines Zornes vertrauter Zeuge ist.

»O Du, mein Gott!« sagt Ben und deutet mit dem Kinn auf die Menge, »nun hör Dir das an, bitte!«

Die Baseball-Begeisterten draußen vor der Scheibe lachen und strahlen den Ben an, denn Bens Zürnen verletzt sie nicht. Sie sehen Ben an mit der heimlichen, ungesagten Zärtlichkeit, die Bens in Fremdheit und Bitternis gehülltes Dasein immer in den Menschen wachruft. Sie sehen den Ben an mit dem Glauben, dem Stolz, der Freude, mit dem Vertrauen und der Zuneigung, die Bens Gegenwart in jedermann erregt. Und so, als wäre Ben der Urheber ihrer liebsten Hoffnungen, der Macher (und nicht bloß der Nachrichtenvermittler) von dem, was sie nun vollbracht sehen möchten, schreien sie dem Ben in ihrem unvernünftigen Übermut zu: »Schon gut, Ben! Jetzt laß ihn treffen! Laß einen auf erste Base laufen! Bring einen heim!« Und während die einen dies schreien, gellen die andern mit dem gleichen gläubigen Übermut: »Laß ihn fehlschlagen, Ben! Daß er 'raus ist!«

Auf einmal aber haben nun diese Leute die elektrische Spannung, die drohende Geladenheit eines entscheidenden Spielmoments gespürt. Sie warten mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen, die Augen begierig auf Ben geheftet. Irgendwo, tausend Meilen nordwärts, über zahllose Felder und Falten und Wälder und Hügel und Dellen hinweg, über die große braune Erde, die abgemähten Äcker, die weiten und wilden Öd- und Brachlande, die üppigen, rohen, unbezäunten Fernen hinweg, über die vertraute und schlichte, die schnöde und harsche, die wunderlich heimsucherische amerikanische Landschaft hinweg ... durch das rötliche, schrägeinfallende Licht dieses schnellentschwindenden Oktobertags hindurch, durch die reife, spröde Luft und den dunstig-goldpolligen Glast der verschwenderischen, achtlos-bedachtlos spenderischen amerikanischen Ernten hindurch ... irgendwo im Herzen der großen, himmelan gereckten, rauchgoldnen und zaubrischen Stadt im Norden ... und gleichviel im Herzen des Bilds, das die Leute hier vor dem Schaufenster mit inneren Augen schauen ... dort auf dem Baseballfeld steht das Spiel so:

Der große Arm des Einschenks Matthewson saust wie eine Peitsche durch die Luft. Sein Gegner in diesem Augenblick, der Schläger, heißt Speaker. Speaker ist ein Rennhund von einem Mann, schnell wie ein Hirsch im Lauf, scharfäugig wie ein Falke mit dem Blick, sicherhändig wie ein Panther im Ansprung und Zuschlag. Die riesigen gestuften Zuschauerstände sind bis auf den letzten Platz gepackt, Reih um Reih ein Nebeneinander von kleinen, weißen Gesichtern. Und das Interesse dieses einen vierzigtausendköpfigen Wesens ist mit einer atemlosen, stummheftigen Spannung auf Speaker und Matthewson gerichtet. Und überall in den kleinen Städten Amerikas sind die Schauzierten Augen auf Speaker und Matthewson gerichtet, und da geschieht über Räume und Entfernungen hinweg ein Einswerden zahlloser Leben, das das Maß menschlichen Verstehens zerbricht, – etwas Wirklich-Wahres, das selbst der Miterlebende nur als traumwahr zu empfinden vermag.

Das Bild erstellt sich im Nu, es erstellt sich ganz, es ist wunderbar. Die dunkle, hochgestaute Menschenmauer um die unabänderliche Geometrie des grünsamtenen Spielfelds herum und die winzigen, hageren Gestalten der Spieler, die gespannt auf ihren Plätzen stehn, das allein ist schon unglaublich. Aber mehr noch ist es das Licht, das Wunder von Licht, Schatten und Farbe, denn ein sprödblauer Schlagschatten, der schräg über die Zuschauerstände hinweg auf das samtene Feld fällt, sich in ein Violett vertieft, zunimmt und auf das Gehaus des Einschenks zuwandert, gibt dem Ganzen eine einmalige und unvergleichliche Schönheit.

Auf der Platte steht wartend, den Schlagstock schwingend, grimmig geduckt der Schläger. Der Fänger, ebenfalls geduckt, wartet hinter der Platte. Der Schiedsrichter, die Hände auf dem Rücken verschränkt, steht scharflugend nach vorn gebeugt da. Schläger, Fänger und Schiedsrichter, sie alle drei stehn bereits im kalten Blauschein des schrägeinfallenden Schattens, und nur der Einschenk steht noch im goldroten Abendlicht, allein und verlassen, kühn und ruhig, in der verzweifelten Entschlossenheit und in einer einsamen Würde, die ihm das schwindende Licht des Oktobertags verleiht. Und die violetten Schatten auf dem Spielfeld werden tiefer und wachsen, aber die ragenden Turmhäuser der furchtbaren Großstadt hinter dem gestauten Menschenwall auf den Zuschauerständen stehen noch im dunstgoldnen oktobrischen Abendglanz. Unvergeßliches, geheimnisvollschönes, fremdartig-liebliches, rauschhaft-heldisches Bild! – und doch ist es fraglich, ob die anwesenden Augenzeugen dessen Herrlichkeit je so gewahr werden und spüren, wie es die Schauenden vor dem Zeitungsgebäude in dem fernen, kleinen Städtchen tun.

Die Menge vor der Scheibe schweigt, während Ben sich den Kopfhörer aufklemmt und sich herabbeugt zu der großen Tafel, auf der er den Spielstand postiert. Der Ausdruck auf Bens Gesicht ist der eines tiefen, gespannten Lauschens. Plötzlich spricht Ben scharf zu einem jungen Mann, der hinter ihm an einem Tisch steht. Ben schnippt nervös mit den Fingern, ein Täfelchen wird ihm gereicht, er sieht's schnell an, wirft's zurück und faucht gereizt:

»Nein! Nein! Nein! ›Fehlschlag Eins!‹ hab ich verlangt. Verdammt, da kann ich mir auch 'nen Holzindianer zum Helfen holen!«

Schnell wird ihm ein anderes Täfelchen eingehändigt, Ben nimmt's, sieht's an, zieht schnell ein gleichgroßes Täfelchen aus dem komplizierten Reihen-, Säulen-, Draht- und Rahmenwerk der Postierungstafel (denn der Tag der elektrisch bedienten Scoreboards hat noch nicht getagt) und schiebt das neue Täfelchen an die Stelle des soeben entfernten. Draußen in der Menge bricht ein brüllender Jubel los über die Nachricht, daß der Schläger Speaker den Ball gefehlt hat.

Ben spricht nun scharf und gereizt zu Foxey, einem mürrischen, brünetten Jüngling. Foxey eilt an die Nebentafel, auf der die Namen der Spieler postiert werden, zieht das Täfelchen mit dem Namen Speaker aus dem Schlägerplatz und ersetzt es durch ein anderes. Und nun rufen jene Leute draußen, die mit ihren Sympathien gegen die Partei des Einschenks sind, ein Hurra für den »Einpetzer«, den außer der Reihe von der Schlägerpartei eingeschobenen Spieler.

Und auf der Straße erhebt sich ein erregtes Hin- und Hergerede. Diese Leute nämlich sind heftige Parteigänger, sie hängen mit einer sonderbaren und irgendwie rührenden Treue an einer der beiden Neunermannschaften, die sie nie gesehen haben. Und nun reden sie von den Vorzügen und Verdiensten der Partei, mit der sie es halten, nun streiten sie und bestreiten sie, machen sie für den weiteren Verlauf des Spiels zuverlässig-geglaubte Voraussagen, wie sie doch offenbar übertrieben und unsinnig sind in einem Wettkampf, über dessen Ausgang sich nichts vorabsehen läßt, weil soviel von Glück, Zufall und Gelegenheit abhängt.

In der ersten Reihe der Menge – von Ben aus gesehen etwas nach rechts – steht ein gutangezogener älterer Mann, der aufgeregt den Spielstand mit seinen Begleitern beredet. Dieser Mann, fast schon ein Sechziger, ist Fagg Sluder, ein Bürger, der jedem im Städtchen bekannt ist. Er hat sich, nachdem er als Bauunternehmer ein Vermögen gemacht hatte, vor ein paar Jahren von den Geschäften zurückgezogen; ein Teil seines Geldes steckt in zwei oder drei großen Geschäftsgebäuden, und er lebt von dem Einkommen, das ihm der Mietzins abwirft.

Fagg Sluder, ein Mann voll von nervöser Energie, ist mittelgroß, hat angegrautes Haar, einen kurzgestutzten Schnurrbart und jenes trockene, leichtfleckige und etwas hohlwangige Gesicht, das bei älteren Männern in Amerika so häufig ist. Von Kind auf hatte dieser Mann nichts als schwere Arbeit gekannt, und nun, in den Jahren der Ruhe und Muße, hat er eine leidenschaftliche Besessenheit für den Baseballsport entwickelt. Er hat nicht nur der Stadt den nach ihm benannten Baseballpark geschenkt, er ist auch Präsident des Altamonter Baseballklubs, und ohne mit der Wimper zu zucken kommt er alljährlich für das Defizit in der Klubkasse auf. Während der Spielzeit dreht sich sein ganzes Leben um Baseball, er atmet, denkt und spricht von diesem Sport von früh bis spät. Beim Spiel sitzt er, gespannt vornübergebeugt, gierig und hingerissen begeistert, auf seinem Gönnerplatz hinter der Platte. Gelegentlich ruft er dann den Spielern einen Rat oder ein ermutigendes Wort zu in seiner schnellen, stotternden, schrillen Stimme, die merkwürdig eindringlich ist und sehr weit trägt. Und wenn nicht gespielt wird, dann steht er oben auf dem Stadtplatz vor der Feuerwache und spricht vom Spiel mit seinen speziellen Freunden, oder aber er richtet ein Schnellfeuer von Fragen an die jungen Männer mit den sonnengeröteten Nacken, die Berufsspieler, deren Brotgeber er ist, und denen gegenüber er die verehrungsvolle Bewunderung eines Schulbuben an den Tag zu legen pflegt.

In diesem Augenblick kann man in der Menge hören, wie Fagg Sluder, der trotz ärztlichen Verbots täglich zwanzig bis dreißig starke, schwarze Zigarren raucht und nie ohne Zigarre betroffen wird, aufgeregt in seiner schnellen, schrillen Stotterstimme zu einem freundlich-ruhigen Mann spricht, der hinter ihm steht. Dieser Mann ist Chefassistent der städtischen Berufsfeuerwehr; er heißt Bickett.

»Jim«, sagt Mr. Sluder in seiner hastigen Art, »i-i-ich sag Dir, was ich glaub'. We-we-wenn der Speaker nochmal ans Schlagen kommt, während Läufer auf den Basen stehen, ei-ei-ei, dann glaub' ich, daß der Matthewson ihn nochmals fehlschlagen macht. Ich schwör drauf, da-da-daß ich's glaub'. Was hältst Du denn davon?« fragt er unvermittelt plötzlich.

Mr. Bickett nimmt zunächst einen langen letzten Zug aus seiner Zigarette, wirft sie dann in die Gosse und gibt schließlich eine behagliche, nichtssagende Antwort, die jedoch den Mr. Sluder vollauf befriedigt, denn ihm kommt's ja gar nicht darauf an, was jener zur Sache meint. Mr. Sluder klappt die angekaute Zigarre, die er in seinen stupsigen Fingern hielt, in die Zähne, nickt schnell und eifrig, macht eine überzeugte Miene und stottert wieder los:

»I-i-ich also glaub's bestimmt! Dem Matthewson ist nicht im geringsten bang vor dem Speaker; er weiß, daß er ihn jederzeit fehlschlagen machen kann.«

Der Junge Eugen sieht sich um; er kennt jeden in der Menge. Da sind die andern Buben, gleichalterige und ältere, – Buben, die wie er eine Route als Zeitungsträger haben, – Buben, die seine Schulkameraden sind, – Buben, die einen Verdienst als Laufjungen für Drogerien, Kaufläden und Kleiderhändler haben, – und die Söhne der wohlhabenden und angesehenen Stadtbürger. Und da sind die Buben aus dem Ostteil der Stadt, zu denen er gehört, weil dort auch sein Vaterhaus steht. Und dieses Viertel, das ältere und schlichtere Stück der Stadt, ist ihm auch das liebere, freudigere, traulichere. Warum er so empfindet, weiß er nicht. Vielleicht kommt es daher, daß der Ostteil so innig nah an die Berge gerückt ist, während der Westteil der Stadt sich breiter ins Gelände erstreckt, den fernen schwingenden Gipfelketten der Smoky Mountains, der heimsucherischen Ödnis der unbekannten Weite und der roten, prächtig sinkenden Sonne zu.

Schnell fällt nun das alte rote Licht schräger herein, die Menge wartet stumm und gespannt, und Kummer, Verzicht und Winter rühren bereits den Leuten ans Herz. Der Sommer ist vorbei, die Baseballzeit ist zu Ende, und Oktober ist wiedergekommen, wiedergekommen. Im Fenster, in das jetzt schon die roten Strahlen der sinkenden Sonne fallen, bewegt sich Ben sehr flink; er nimmt Tafelchen heraus und setzt neue dafür ein, zieht die Stirn wütend herunter, erteilt kurze, scharfe, gereizte Befehle an die geschäftigen Helfer, die er zu dirigieren hat. Das Spiel, das nun bald zu Ende sein muß, ist das letzte der Meisterschaftsserie – ein scharfer, bitterer Wettstreit, in dem der Sieg bis zuletzt in der Schwebe hangt. Bis jetzt kann noch niemand sagen, welche Seite am besten steht oder voraussichtlich gewinnen wird, noch auch, ob die Entscheidung sich hinausschieben wird oder nicht. Aber die Schicksäligkeit dieses roten, schrägeinfallenden Lichts, diese Ahnung vom drohenden Frost und die unabänderliche Gewißheit, daß eine Seite verlieren und die andre gewinnen muß, und dazu all der Kummer und all das Bedauern, die Sieg und Niederlage für Beteiligte und Parteigänger mit sich bringen, – das liegt in der Luft und drängt zum Herzen.

Dann und wann bricht ein wilder, plötzlicher Jubel los in der wartenden Menge, denn es ist etwas geschehen, was die Siegeshoffnung für eine Seite erhöht, aber die meiste Zeit verbleiben die Leute nun stummgespannt: sie warten auf die plötzliche Entscheidungskrise, das schnelle Ende des Spiels.

Hinter Ben, im Erdgeschoß des Zeitungsgebäudes, kann Eugen die aufgedunsene Gestalt des gichtigen Mr. Flood, des Zeitungsbesitzers, sehen. Mr. Flood sitzt nach vorn gebeugt in einem Swivel-Chair und glotzt an Ben vorbei hinaus auf die Menge. Die dicken, blauroten Finger hat er auf den Knien verschränkt, der grobe Mund mit dem lose hängenden Unterkiefer steht ihm halb offen, das klobige, purpurrote, giftfleckige Gesicht mit den hervorgequollenen, gelben Augäpfeln der Stielaugen trägt seinen ständigen Ausdruck von stumpfer, träger Benommenheit. Von Zeit zu Zeit, wenn die Menge draußen laut aufjubelt, wird dieser Ausdruck roher Überraschung auf dem Gesicht des Mr. Flood noch gröber und wirkt dann komisch. Und alsdann fragt er jedesmal auf seine dumme Art und in seiner heiseren, verschleimten Stimme:

»Was war denn das jetzt, Ben?« oder: »Weswegen schreien sie denn jetzt?« oder »Welche Seite ist denn jetzt im Vorteil?« oder: »Wer hat denn jetzt grad gespielt, Ben?«

Ben gibt gewöhnlich auf diese Fragen überhaupt keine Antwort, aber er blickt noch finsterer, noch gereizter drein. Und schließlich, wenn ihm das Gefrage zuviel wird, flucht er entrüstet:

»Verdammt noch mal, Flood! Wer glauben Sie denn, daß ich bin? Ihre ganze verdammte Zeitung? Um Gottes willen, Mann, denken Sie, ich hätt' sonst nichts zu tun, als Ihre verdammt albernen Fragen zu beantworten? Wenn Sie wissen wollen, was los ist, dann gehn Sie doch 'naus zu den andern und gucken!«

»Schon gut, Ben, ich wollte ja doch gerade bloß wissen ...«, fängt Mr. Flood, heiser, schwerfällig, dumm an zu erklären.

»O Du mein Gott! Nur hör' Dir das an, bitte!« sagt Ben und lacht erzürnt und verächtlich, während er sich an den unsichtbaren Zuhörer seiner Entrüstung wendet und mit einem Kinnruck auf die aufgeschwollene Gestalt seines Arbeitgebers deutet. »Du da!« sagt er dann angewidert zu einem der Helfer, »lauf schnell mal 'naus und sag' ihm um Gottes willen, wie das Spiel steht, damit dieser Jammer ein Ende hat!« Und dann spricht er, der Finsterblickende, scharf in die Telephonmuschel und wechselt schnell zwei Täfelchen in der Reihe aus.

Und plötzlich nun, während im Schaufenster hier vor der wartenden Menge noch flink postiert wird, ist das bittre Spiel mit seinen schönen Erregungsschauern aus! Im schwindenden Licht, in den hereinschwimmenden Schatten, weit weg in der Großstadt im Norden hat sich die vierzigtausendköpfige Menge in atemloser Spannung nach vorn gebeugt, an sich haltend wie ein einziges Wesen in einem Augenblick, der schön war und schicksalhaft wie alles Lebendige. Ein Läufer stand auf einer Base, der Arm des Einschenks zuckte den Ball werfend durch die Luft, der Schlagstock krachte auf den Ball, der prallgetroffene Ball sauste wie ein weißer Strich im Bogen durch die Luft, ein wildes, jähes, ungeheures Gebrüll brach los, ein paar wetzende Beine sind über den Grenzstrich geflitzt – und das Spiel ist aus!

Und sofort nun, dort im Herzen der Stadt und überall in ganz Amerika, in zehntausend Straßen, in zehntausend kleinen Städten geht die Menge auseinander; sie zerbricht, zerbröckelt, zerfließt und ist für immer verloren. Und diese tragische, stolze, an sich gehaltne Einheit der Menschen gehört nun dem Erhabnen, dem Erledigten, dem unzerstörbaren Gewebe der Vergangenheit an und hat sich aus dem unfaßbaren Schlingrachen dessen, was wir Zukunft nennen, letzthin in die fremde Endgültigkeit der dunklen Zeit begeben.

Nun ist es vorbei, die Einheit ist zerborsten, und zehn Millionen Einzelmenschen gehen auf zehntausend Straßen – wohin? Manche beim Licht des Hesperus, das, wie man sagt, alles Lebendige auf Erden wieder zu seiner rechten Heimat zurückbringen soll – die Herde zur Hürde, den Vater zum Kind, den Liebhaber zur Liebsten, die er verließ, – und die Stolzherzigen, die Verlornen, die Einsamen auf Erden, die Verbannten, die Wandrer – wohin? Sie müssen wiederum auf den kargen Nachtalleen gehen, unter den Laternenzwiebeln der leblosen Straßen halbabgewandten Gesichts vorbeigehen, an den tausend Türen vorbeigehen und wieder die alte Hoffnungslosigkeit der Hoffnung in sich spüren, die Kunde von der Verzweiflung und den Glauben des Vereinsamtseins.

Und auf einen Augenblick, indes sich die Menge verzogen hat, steht Ben stumm und verloren da, einen Ausdruck des bittren Verdrusses, des Angewidertseins und der Sterbensqual auf dem grauen, hageren Antlitz, auf der einsamen Braue, in den heftigen, zürnenden Augen. Und während Ben so dasteht, fällt die Abendröte auf sein kühnes Haupt und in sein hageres, abgezehrtes Gesicht. Mit der Weissagung seiner sonderbaren Schicksäligkeit rührt das alte rote Licht das ganze Wahrbild von Bens zürnendem, furchtbar verwundetem und verlornem Wesen an. Und in diesem Augenblick, in dem der Bub Eugen zu seinem Bruder aufblickt, treibt ihm der jähe Schmerz ein Messer ins Eingeweide. Mit inständig-endgültiger Gewißheit – jenseits der Vernunft, des Beweisbaren oder irgendeiner sichtbaren Augenscheinlichkeit – spürt er, was das Ende und die Antwort auf seines Bruders Leben sein muß. Der Tod liegt bereits wie eine Krone auf diesem stolzen Haupt. In diesem einen Augenblick weiß Eugen, daß Ben sterben wird.


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