Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVII

Um die Monatsmitte hatte Gant einen schweren Anfall, der ihn vier Tage ans Bett fesselte. Unterleibsblutungen setzten ein, und er lag vier Tage und vier Nächte in Agonie. Helene, wieder im Bann des alten Entsetzens, drahtete dringlichst-verzweifelt an Lukas in Atlanta, er möge sofort heimkommen.

Lukas kam. Das Wiedersehn und die lebensstarke, hoffnungsvolle Art des Sohns regten den Alten ein wenig an. Er wurde aus dem Bett gehoben, und noch am Tage seiner Ankunft schob Lukas ihn in einem neuangeschafften fahrbaren Krankenstuhl spazieren durch die hellbesonnten Straßen, wo Gant Freunde traf und Bekannte, die er seit Jahren nicht zu Gesicht gekriegt hatte, wiedersah.

Am nächsten Tag schien es Gant besser zu gehen. Er aß ein gutes Frühstück; um zehn Uhr war er auf. Lukas, der ihn angekleidet hatte, half ihm in den neuen Rollstuhl und schob ihn wieder auf den hellbesonnten Straßen umher. Allenthalben blieben Leute stehn, um Vater und Sohn zu begrüßen, und es mag wohl sein, daß dann in Gants trübselig-müdem Gemüt ein Schimmer von einer alten Hoffnung aufleuchtete, und daß ihm vielleicht das Gefühl kam, er wäre wieder ins Leben zurückgekehrt.

»F-f-fein wie Seide ist sein Befinden!« sang Lukas volltönig heraus, ehe der Alte noch Zeit hatte, selber auf die freundliche Frage zu antworten. »Stimmt's v-v-vielleicht nicht, O-o-o-obriste? B-bei Gott, w-w-w-wissen Sie, Mr. P-p-paparker, den P-pa-pa kriegen sie nicht mit 'nem Fleischerhackebeil klein! Er wird noch hier sein, wenn Sie und ich schon den Gä-gä-gänseblümchen zum Gedeihen verhelfen!« Gant lächelte matt-erfreut zu solchen Reden und paffte täppisch und in der kläglich-hoffnungsvollen Art Schwerkranker von Zeit zu Zeit an der ungewohnten Zigarre.

Gegen ein Uhr aber fing er an, vor Schmerz vor sich hin zu stöhnen und drang flehentlich in den Sohn, ihn schnellstens heimzufahren. Lukas beeilte sich. Als er den Krankenstuhl vorm Haus zum Stoppen gebracht hatte und dem Alten heraushalf, stöhnte dieser noch immer. Die stotternde Betulichkeit und die übermäßig sorgfältige Hilfswilligkeit des Sohns reizten und verdrossen den Alten.

»Nein, nein, nein«, jammerte er mit bebenden Lippen und dem Weinen nah. »Laß mich doch allein! Laß mich eine Minute in Frieden, ich bitt' Dich um Jesu willen!«

»Sch-sch-schon recht, Pa-papa!« stotterte Lukas mit gespielter Heiterkeit. »D-d-du bist der Do-doktor in diesem Fall. Ich schieb nur den Rollstuhl auf die V-v-veranda, und da-da-dann komm ich auf Dein Zimmer und bi-bin Dir sofort behilflich!«

»O Jesus! Tu, was Du willst. Mir ist's gleich«, stöhnte Gant. »O Jesus, sind das Qualen! Es ist furchtbar, es ist grausam, es ist entsetzlich! Ich fleh' Dich an, laß mich in Ruh!«

»A-a-a-aber gewiß, P-papa! Du bist der Doktor«, sagte Lukas. »Ka-kannst Du's allein schaffen?« fragte er besorgt, als Gant sich, schwerfällig auf den Stock gestützt, anschickte, die paar Stufen, die vom Bürgersteig auf den Vorgartenpfad hinaufführten, zu steigen.

»Aber ja, Sohn, Du siehst es doch«, sagte nun Eliza vermittelnd. Sie hatte die Stimmen gehört, war auf die Veranda herausgekommen und hatte sofort gemerkt, daß Lukas' Betulichkeit den Alten unwirsch machte. »Also bring' den Rollstuhl herauf und laß ihn allein. Er wird schon selber mit sich fertig.«

Und Lukas, ein respektvolles »Ei, g-g-gewiß, Papa! Du-du bist der D-doktor!« murmelnd, hob nun den Rollstuhl über die Stufen auf den Vorgartenpfad und schob ihn auf das Haus zu, allerdings nicht ohne einen besorgten Blick auf seinen Vater zu werfen, der mühselig-langsam auf die Verandatreppe zuging. Eliza musterte die beiden mit einem hurtigen Blick, dann wandte sie sich um, um vorm Wiedereintreten nachdenklich ihr Haus zu betrachten; sie stand da, die Hände lose vorm Bauch gefaltet, die Lippen geschürzt und jenen versonnenen Ausdruck des Besitzerstolzes auf den Mienen, der ihre lebendige und unzertrennliche Einheit mit diesem alten Haus mächtig offenbarte.

In diesem Augenblick geschah es. Gant, noch immer leise vor sich hin stöhnend, hatte fast die Verandatreppe erreicht, als er plötzlich taumelte und einen entsetzten Schmerzensschrei ausstieß. Der Krückstock fiel klirrend auf die Zementdecke des Vorgartenpfads, und Gant griff sich mit den beiden großen Händen krallend in die Leiste und schrie auf: »O Jesus! Rette mich! Rette mich!« Er stürzte in die Knie, die Hände noch immer schmerzlich aufs Schambein gepreßt.

Eliza spürte, wie ihr das Fleisch an den Knochen stockig ward, noch ehe sie ihn erreichte, denn sie sah, wie das Blut aus ihm hervorsprudelte. Das helle Arterienblut lief in Bächen über den Zement des Pfads; es hatte die dicken schwarzen Tuchhosen Gants so schwer getränkt, daß sie blaurot aussahen; es rieselte ihm durch die Finger und bedeckte seine großen Hände. Gant blutete sich aus dem Zeugeglied zu Tode.

Eliza eilte mit täppisch-schwerem Schritt zu ihm; sie versuchte ihn zu heben, aber er war zu groß für sie. Sie schrie nach Lukas um Hilfe. Lukas kam mit ein paar Sätzen über den Vorgartenrasen gerannt und, fast ohne im Laufen innezuhalten, packte er Gants Riesengestalt mit beiden Armen – die Last war leicht wie ein Bündel dürres Holz – und mit einer Kopfwendung zur Mutter ordnete er kurz an:

»Ruf Helene an! Schnell! Ich nehm' ihn auf sein Zimmer und zieh' ihn aus.«

Und den Vater wie ein Kind auf den Armen haltend, rannte er geradezu die Stufen hinauf und durch die Diele, überall die Blutspur hinterlassend.

Eliza, kaum wissend, was sie tat, zauderte gerade lang genug, um Gants schwarzen Filzhut und den Krückstock aufzuheben, dann eilte sie, so schnell sie konnte, die Verandastufen hinauf und durch die Diele ans Telephon. Ihr Gesicht war weiß und starr wie Marmor, denn nun, nachdem nach all diesen Jahren des Wartens und der Qual das Ende gekommen war, erfüllte dies sie mit einem unglaublichen und ungläubigen Entsetzen. Einen Augenblick später sprach sie mit der Tochter, ihre Stimme war leise und aufs äußerste entsetzt:

»O Kind! Kind!« sagte sie. Komm schnell ... Dein Vater blutet sich tot.«

Da war ein jähes Schnappen nach Luft, dann ein überraschter, halb in der Kehle erstickter Angstseufzer, und der Hörer wurde ohne eine Antwort eingehängt. Vier Minuten später war Helene im Haus. Barton, gewöhnlich ein vorsichtiger und besonnener Fahrer, mußte die gefährlichen Kurven und Hügel mit mörderischer Geschwindigkeit genommen haben.

Als sie in die Diele trat, hatte ihre Mutter gerade nach einem Telephongespräch mit McGuire den Hörer eingehängt. Ohne auch nur ein Grußwort zu wechseln, eilten die beiden Frauen durch den Gang nach rückwärts in Gants Zimmer. Lukas hatte seinen Vater bereits entkleidet. Gant lag von Kissen halbhochgestützt da, die großen Hände noch immer um den Geschlechtsteil gekrallt, das Betttuch unter ihm war bereits mit Blut durchtränkt. Der rote, feuchte, ekelhaft-entsetzliche Placken wurde zusehends größer und größer. Gants kaltgraue Augen grellten vor Entsetzen. Als die Tochter eintrat, sah er sie mit einem kläglich-flehenden Kinderblick an, einem Blick, der ihr am Herzen riß, und der sie bat – sie, die einzige, die es vermochte, und es in diesen schwarzen Jahren der Qual tatsächlich getan hatte –, ihn durch ein Wunder der Kraft und der Gnade zu retten. Aber gerade, als er sie so kläglich-flehentlich anblickte, sah sie, daß er verfallen war, daß er starb, und sie erkannte auch, daß er darum wußte. Ihr war, als sauge ihr ein kalter Schreck das Herz aus. Ohne ein Wort zu sagen, griff sie nach einem Handtuch, riß ihm die großen Hände von dem Brunnen sprudelnden Blutes und bedeckte ihn. Ehe noch McGuire eintraf, war das Bettuch gewechselt worden, aber auch dieses Bettuch war sofort mit dem entsetzlichen, immer größer werdenden Blutplacken befleckt.

McGuire trat ein, warf einen Blick auf den Kranken, wandte sich ans Fenster und suchte in seiner Rocktasche nach einer Zigarette. Helene trat zu ihm und, ohne zu wissen, was sie tat, packte sie ihn an den stämmigen Armen und schüttelte ihn, während sie flehentlich in ihn drang: »Sie müssen etwas tun, um das Blut zu stillen! Sie müssen! Sie müssen!«

Er glotzte sie an, steckte sich die Zigarette in den Winkel des dicklippigen Munds und bellte ruppig:

»Um was zu stillen? Ja, wer zum Teufel denkst Du denn, daß ich bin? Jehova?«

»Sie müssen! Sie müssen!« stöhnte sie halblaut, das große, hagere Gesicht gespannt vor Hysterie. Und dann jählings, unvermitteltplötzlich fragte sie ihn ruhig:

»Was also ist nun zu tun?«

Statt einer Antwort blickte er zum Fenster hinaus, das grobe, schwammige, brutal gutmütige Gesicht war fleckig und plackig im späten Westlicht.

»Es ist besser, Du telegraphierst gleich an die andern«, raunzte er schließlich. »Das heißt, falls Du sie hierhaben möchtest. Steve und Daisy können es noch schaffen. Wo ist der Eugen?«

»Boston.«

Er zog die schweren Schultern hoch und schwieg eine Weile.

»Schon gut. Drahte ihm auch, daß er kommt.«

»Wie lang?« flüsterte sie.

Er zog wiederum die massigen Schultern hoch, gab aber diesmal keine Antwort. Er zündete seine Zigarette an und trat ans Bett. Handtuch und Laken waren rotgetränkt. Gant verblieb reglos, die großen Hände um das Handtuch gekrallt, die kläglich flehenden Augen grell vor Entsetzen. McGuire öffnete seine alte Ledertasche, sichtete die Nadel und lud die Spritze. Dann, die Rauch ringelnde Zigarette noch immer auf die fette Unterlippe gepappt, trat er ans Bett zurück, nahm den Arm Gants, der ihn mit angsthellen Augen anblickte, grunzte: »Schon recht, W. O.!« und stach die Nadel oberhalb des Ellenbogens ein. Gant stöhnte ein wenig; dann, als die Nadel eingedrungen war, erschlaffte er in Fühllosigkeit. Ein paar Minuten später wurde sein Blick stumpf, und die großen Hände lösten sich aus der Verkrampfung.


 << zurück weiter >>