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LXXXVII

Am nächsten Vormittag sah er Ann nicht. Sie war schon in der Früh mit dem großen Wolfshund ausgegangen, machte einen Spaziergang im Wald und kehrte erst zurück, als es Zeit zum Mittagessen war. Im Laufe des Vormittags teilte Eugen Elinor und Starwick mit, daß er nach Paris zurückführe. Starwick sagte überhaupt nichts darauf, aber Elinor bemerkte nach einem kurzen Schweigen:

»Sehr wohl, mein Lieber. Jedermann sein eigner Arzt.« Ihr Ton war kalt, es war eine Spur von Sarkasmus in ihrer Stimme. »Wenn die Lockungen der Großstadt zu mächtig für Dich sind, mußt Du freilich gehn.« Sie schwieg eine Weile, dann erkundigte sie sich ironisch: »Bedeutet das, daß wir auf unsrer Reise nicht die Ehre Deiner geschätzten Gesellschaft haben werden? ... Wirklich«, erklärte sie kurz, »ich wünschte, Du würdest Dich entscheiden ... Die Spannung, mein Lieber, wird völlig unerträglich«, bemerkte sie giftig. »Solltest Du im Sinn haben, uns sachte vorzubereiten, so möchte ich bitten, uns nicht länger schonen zu wollen. Es ist besser, wenn der Schlag sofort fällt. Schließlich könnte es ja sein, daß wir den Schrecken überleben ... Wirklich«, sagte sie scharf, als er ihr nicht antwortete, »ich möchte das sehr gern wissen. Wenn Du nicht mitmachst, müssen wir uns einen andern suchen, der Deinen Platz einnimmt. Wir brauchen einen Vierten, der die Kosten tragen hilft, und so möchte ich gern gleich wissen, was Du beabsichtigst.«

Er starrte sie mit glosendem Gesicht an, und ein hitzig gehässiger Ärger begehrte in ihm auf. Aber wie immer war ihre Attacke zu schnell und plötzlich für ihn. Ehe er noch die hitzige Antwort, die ihm unbeholfen auf der Zunge lag, herausbringen konnte, hatte sie sich geschwind abgewandt und mit resignierter Miene zu Starwick gesagt:

»Willst Du bitte ausfindig machen, was er beabsichtigt. Mir ist es leider unmöglich. Offenbar, ganz offenbar«, schloß sie höchsterstaunt, »hat Deinen jungen Freund ein Zungenschlag gerührt.« Sie ging weg, schön und selbstbeherrscht wie immer; ihre Haltung war tadellos, aber zwei Flecken der Zornesröte brannten auf ihren Wangen.

Als sie gegangen war, wandte sich Starwick an Eugen und sagte mit ruhig vorwurfsvoller Stimme:

»Du solltest sie es wissen lassen. Das solltest Du wirklich, weißt Du.«

»Schon recht!« erwiderte Eugen hitzig und schnell. »Ich lasse es Dich sofort wissen. Ich gehe nicht mit.«

Starwick schwieg eine Weile. Dann, ruhig, gemüdet, kummervoll, schicksalsergeben, bemerkte er:

»Tut mir leid, Eugen.«

Eugen sagte nichts. Er stand einfach da und sah mit Augen, die kalt, hart und garstig waren vor Haß, den andern an. Starwicks Ruhe, die beinah christushafte Demut, mit der er seine Worte vorgebracht hatte, – das schien Eugen nun weiter nichts zu sein als die Maske eines höhnisch hoffärtigen Stolzes, einer geringschätzenden Selbstsicherheit, ein Kennzeichen für Starwicks unermeßlich großes Glück. Mit kalten Haßblicken maß Eugen Starwicks sehnsüchtig lässige, weichliche, wollüstig anmutige Gestalt und dachte mörderisch berechnend für sich: »Wie leicht wär's für mich, Dir diesen verdammten, zierlichen Weichlingshals herumzudrehn! Wie leicht, Deinen verdammten Weichlingskörper wie einen morschen Stecken über meinen Knien entzweizubrechen! O Du verdammtes, verweichlichtes, verwöhntes Ersatzstück für einen Menschen – Du Notbehelf aus Gescheitheiten, Gerede und äffischer Aussprache – Du zusammengesetzte Nachahmung eines lebendigen Künstlers – Du läppischer Liebling für schöngeistige Weibsleute – Du Schoßhündchen einer Bostonerin – Du – –«

Die widerlichen Beschimpfungen verdichteten sich in Eugens Gemüt zu einem Geschwel aus blindem Haß und Mordlust, sie schufen ihm keine Erleichterung, und er konnte sich so der drückenden unausstehlichen Last nicht entledigen; das Licht des Hasses und der Mordlust brannte unverhohlen in seinen Augen, er krümmte seine langen, kräftigen Finger, spürte, daß seine Hände stark wie reißende Raubtiertatzen waren, hatte, so schien ihm, schon jene warme, weiche Gurgel mit erdrosselndem Griff gepackt, und kam sich dabei die ganze Zeit überlistet, genasführt und geschlagen vor, von vornherein geschlagen von seinem eignen, nackten Haß, dem er sich völlig ausgeliefert hatte, geschlagen auch von einem Etwas, das zu subtil, sanft und schlau war, als daß er es je begreifen könne, von einem Etwas, das ihn, so schien ihm nun, immer schlagen würde, von einem Etwas, dessen unmöglich großes Glück es wäre, ihm immer das zu nehmen, was er am meisten begehre.

Tausendmal hatte er dies im voraus erlebt. Tausendmal hatte er – wie jeder andre junge Mann – den Feind kommen sehen, und stets hatte er ihn sich in bestimmter Form und Gestalt vorgestellt, stets war er, der Feind, mit Macht und Übermut gewappnet gekommen, und seine Kennzeichen waren die offne Drohung, das Hohnwort und das Hohnlachen und die gereckte Faust gewesen. Immer war der Feind so gekommen, daß das Herz erschrak vor der nackten Herausforderung und dem offnen Geprahl, immer als einer, der gewalttätig und mutwillig zerbrechen und unterjochen wollte, nie verstohlen, sondern immer angreiferisch und von vorn, und Eugen hatte – wie jeder lebendige junge Mensch – sich geschworen, dem Feind, wenn er käme, tapfer und ohne Wanken entgegenzutreten, ihm nicht auszuweichen, ihn zu bestehen oder aber den Verzweiflungstod zu sterben, ehe er sich untilgbarer Schmach, verruchter Unehre überantworte.

Und nun war der Feind gekommen, aber nicht auf die Weise, wie es Eugen vorabgesehn, nicht in der Gestalt, in der Eugen ihn erschaut hatte, nicht von vorn und mit roher Gewalt und offner Herausforderung, sondern spitzfindig, sacht und ungemein listig und aus einer Richtung, wo ihn Eugen niemals vermutet, und auf einem Weg, wo ihn Eugen niemals gewähnt hatte. Der Feind war hinter der Maske der Freundschaft gekommen, mit Lobesworten war er gekommen, mit Gelübden des stolzen Glaubens und des edlen Vertrauens, in der Haltung der Bewundrung und der Demut, ja, so war er gekommen, und während er Worte des Lobs und des stolzen Glaubens sprach, hatte er ihm, Eugen, das genommen, was er im Leben am meisten begehrte, und anscheinend so, als nähme er dieses Meistbegehrte gar nicht, wolle er es gar nicht, ginge es ihn gar nichts an.

 

Starwick und Elinor hatten wieder Streit; diesmal war es, weil auch er sich entschlossen hatte, an diesem Nachmittag nach Paris zurückzufahren. Außer Elinor wußte niemand, warum Starwick fahren wollte, aber was auch immer der Grund war, jedenfalls war es einer, den sie nicht gelten ließ. Als Eugen das Speisezimmer betrat, um seine letzte Mahlzeit mit den beiden einzunehmen, waren sie gleichsam mit Hammer und Zange dabei, die Kiste aufzupacken, und schienen gar nicht zu merken, welche Sensation sie den verschwörerisch wispernden Alten bereiteten, – oder aber, falls sie es doch gewahr wurden, war es ihnen vollkommen gleichgültig, denn selbst bei Streitigkeiten behielten sie ihre großartige, seltene Sonderart bei und trugen ihren Zwist mit einem Gehaben vor, das zusehends verdeutlichte, daß sie das Weltall für weiter nichts als einen geeigneten Bühnenhintergrund für die subtilen und romantischen Verworrenheiten ihres Privatlebens hielten, – mit einer so abstandsbewußten Enthoben- und Entrücktheit über das Dasein der gewöhnlichen Sterblichen, als handle es sich um Seelenbegegnungen viel zu hehrer und erlauchter Art vor einer Welt, die nur das Stumpfe und Grobe begriffe.

Elinor sprach. Sie sprach ernst, bestimmt, laut, nachdrucksbetont, mit scharfer Stimme, sie sprach, wie die Gebildeten sprechen, sie sprach unheimlich selbstsicher, in guter Form, sie sprach autoritativ und verneinte wie jemand, den die Lebenserfahrung zum Verneinen vollauf berechtigt.

»Das kannst Du nicht tun! Ich sag Dir, Du kannst es nicht! Du wirst bös zu Fall kommen, wenn Du so unklug bist!«

Starwick, vor Ärger dunkelrot im Gesicht, antwortete ruhig und manieriert in einem Ton, der seiner Entrüstung und Empörtheit vollen Ausdruck verlieh:

»Ich nehme das sehr übel!« erklärte er. »Es ist sehr unrecht und sehr unfair von Dir, daß Du so etwas sagst! Ich nehme es übel«, behauptete er zwar ruhig, aber vorwurfsvoll streng.

»B'daure!« wandte sie kurzangebunden und brüsk ein; sie sprach das Wort gestutzt aus, so, wie die Engländer dergleichen Worte zu stutzen pflegen. »Wenn Du übelnimmst, nimmst Du übel, und das wäre das. Aber schließlich, mein Lieber, was erwartest Du denn von uns? Wenn Du drauf bestehst, jeden Gurgelabschneider, den Du in irgendeinem Bistro auf dem Montmartre aufliest, überallhin mitzunehmen, dann mußt Du damit rechnen, daß Deine Freunde aufbegehren! Sie haben ein Recht dazu.«

»Ich nehme das sehr übel«, erklärte Starwick manieriert.

»B'daure!« wandte sie spröd ein. Kurz wie zuvor. »Aber so empfinde ich in der Angelegenheit!« Sie blickte Starwick eine Weile stumm an, dann schüttelte sie kurz und entschieden den Kopf und flüsterte mit einem Schaudern des Abscheus und Ekels:

»Taugt nichts! ... Ich bin doch wirklich willens, Frank, jedes mir mögliche Zugeständnis zu machen, ... aber der Mann taugt nichts – taugt einfach nichts! ... Er geht nicht an!« Ihr Ton war der Ton einer gebieterischen Neuengländerin von Stand und vornehmer Herkunft, von ›Fiber‹ und Charakter, die männlich und dogmatisch das endgültige Urteil über eine ›unangängige‹ Person fällt, die nicht ihresgleichen ist.

Zwei grellrote Flecken brannten auf Starwicks Wangen, und wiederum sagte er kalt, ruhig, unbeugsam störrisch sein:

»Ich nehme das sehr übel.«

Offenbar hatte Starwick beschlossen, daß Alec – der Franzose, den er eines Nachts in einer Bar auf dem Montmartre kennengelernt hatte, und der seitdem sein ständiger Gefährte bei allen Unternehmungen geworden war – als Gast auf die bevorstehende Automobilreise durch Frankreich mitgenommen werden sollte. Außerdem hatte Starwick mit der für ihn charakteristischen arroganten Verschwiegenheit sich auf diesen Abend mit dem Franzosen irgendwo in Paris verabredet und erst an diesem Vormittag Elinor davon unterrichtet, daß er zu dieser Verabredung in die Stadt zurückfahren wolle. Das also waren die Gründe zum Streit.

Als Eugen zu Tisch gekommen war, hatten die beiden ihn gleichgültig angesehn und weiter gestritten. Nun, eine Weile später, erschien auch Ann. Sie nahm ohne Gruß Platz und begann in mürrischer Schweigsamkeit zu essen. Es war eine unangenehme Mahlzeit. Elinor verfiel alsbald in ihre heitere, leichte, spöttische Art, diesmal aber, ganz im Gegensatz zu ihrer freudig sprühenden Frohlaune vom Abend vorher, war sie voll Bosheit und Tücke, ganz so, als könne sie damit, daß sie anderen mit Stichen und Wunden Schmerzen verursache, jene Schmerzen und Seelenqualen lindern, die sie selber litt.

»Lieberchen«, sagte sie auf ihre gewandte, maliziöse Art zu Eugen. »Ich hoffe doch sehr, daß Du mich nun, nachdem Du mich schon verläßt, nicht auch vergißt ... Willst Du mir nicht dann und wann mal ein paar aufheiternde Zeilen schreiben? Oder soll es ein Lebewohl auf immer sein? Sag's lieber gleich, wenn dem so ist, Lieberchen! Wenn's auch weh tut, ich möchte lieber jetzt gleich das Schlimmste wissen, so daß ich in den Garten gehn und Würmer essen kann, oder mich ausheulen, oder mit dem Kopf wider die Wand rennen, oder sonst so was«, sagte sie zwar drollig, aber das trotzige Glitzern in ihren Augen und die Glattzüngigkeit ihres Geplausches ließen keinen Zweifel an der verletzenden Absicht aufkommen. »Also bitte, Lieberchen, sag' schon, dem wäre nicht so! Ich meine, es wäre doch nett, wenn Du Dich meiner so weit erinnertest, daß Du mir manchmal ein Briefchen schriebst. Es braucht ja nicht lang zu sein, weißt Du, darauf kommt's nicht an, solang Du nur schreibst, daß Du mich noch ein wenig liebhast«, sagte sie spöttisch. Sie lehnte sich halb zu Eugen hinüber und fügte schmeichlerisch hinzu: »Na, komm schon, Lieberchen, sag's, daß Du's tun willst! Versprich mir, daß Du mir wenigstens einmal ein ganz kleines Briefchen schreibst ... so ein winziges-wunziges Zettelchen, weißt Du, so ...« Drollig gab sie mit zwei Fingern das Maß an, und dann, als er sie mit hitzigem Gesicht und zornigen Augen angrellte, versetzte sie ihm im Augenblick den schnellen, gewandten, entschiedenen, abschlüssigen Stich, ehe er überhaupt noch imstand war, an eine Antwort zu denken.

»Schön von Dir! Na, also!« sagte sie hurtig und tätschelte ihm geschwind den Arm, so, als wäre es somit beschlossen. »Gott segne Dich dafür, Lieberchen! Ich wußte ja, daß Du meiner Bitte nachkommen würdest!«

In einer dumpfen, verstimmten Stille aßen sie das Mahl zu Ende. Dann ging Eugen auf sein Zimmer, packte seine Handtasche, ging hinunter und erledigte seine Rechnung. Als er vors Haus kam, saß Elinor allein im Wagen. Starwick war noch nicht da.

»Stell Deine Handtasche hinten rein!« sagte sie kurzangebunden. »Und sag dem Frank, er soll sich beeilen. Viel Zeit haben wir nicht.«

»Wo ist Ann?« fragte er. »Fährt sie mit zum Bahnhof?«

»Weiß ich nicht, mein Lieber«, sagte sie kalt. »Warum fragst Du sie nicht selber, wenn Du's wissen möchtest?«

Er errötete. Und dann mit einem Gefühl peinlich beengender Verlegenheit sagte er:

»Elinor – wenn's Dir nichts ausmacht, meine ich – dann möchte ich gern –«

»Was?« fragte sie kurz, ungeduldig, scharf und sah ihn an. » Was möchtest Du gern?«

»Wenn's Dir nichts ausmacht«, sagte er wieder. Er schluckte schwer vor Verlegenheit und war doch gleichzeitig wütend auf sich selber, weil er so verlegen war. »Mein Geld!« platzte er heraus.

»Was? ... Was? ...«, fragte sie nochmals in einem brüsken, betretnen Ton. »Ah so!« rief sie mit der Miene eines Menschen, dem plötzlich ein Licht aufgeht. »Dein Geld. Du meinst die Expreßschecks, die Du mir zum Aufbewahren gegeben hast.«

»Ja«, sagte er jämmerlich. Er verspürte eine unerklärliche Scham darüber, daß er sie um sein eignes Geld bitten mußte, und verfluchte in seinem Innern die Narrheit, die ihn in der Gefühlswallung, die der letzten allgemeinen Versöhnung gefolgt war, dazu verleitet hatte, ihr seinen letzten Cent in Verwahrung zu geben. »Wenn es Dir nichts ausmacht, meine ich –«

»Aber freilich, mein Kind«, rief Elinor im Ton des vornehmen Erstaunens. »Gleich sollst Du's haben!« Sie machte ihre Handtasche auf und nahm das kleine, schmale, dünne Scheckbuch heraus, in dem nur noch drei Expreßschecks zu je zwanzig Dollars waren, – das letzte Geld, das Eugen zur Zeit noch hatte. »Hier, mein Herr!« sagte sie und reichte ihm das Scheckbuch auf eine solche Art, daß er wieder das Gefühl von Scham und Schuld ihr gegenüber verspürte, ganz so, als benähme er sich gemein gegen sie oder nähme etwas, das ihm nicht gehöre.

»Tut mir leid«, stammelte er, sich entschuldigend. »Tut mir leid, daß ich Dich drum bitten mußte, Elinor. Aber das ist alles, was ich noch übrig habe.«

»So?« sagte sie schnippisch. »Du hattest doch noch viel mehr, als wir uns kennenlernten ... Was hast Du denn damit gemacht?«

»Ich – ich werd's ausgegeben haben«, stammelte er.

»Wirklich?« sagte sie schnippisch. »Da frag' ich mich verwundert: wo? Sicher, solang Du mit uns zusammenwarst, kannst Du nichts davon verbraucht haben.«

Er hätte sie erwürgen können. Die Adern standen wie Kordelschnüre auf seiner Stirn, sein Gesicht war ziegelrot, es wurde ihm schwarz vor den Augen, so jäh und hitzig schoß ihm das Blut zu Kopf. Er wollte etwas sagen, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er brachte kein Wort hervor. Er stand einfach da, stierte sie aus hervorgequollnen Augen an; sein Gesicht brannte, er brachte ein paar zusammenhanglose Krächzlaute hervor. Und eh er sich noch fassen konnte, war sie ihm wieder entschlüpft. Starwick und Ann kamen aus dem Haus, und Elinor rief den beiden schnell zu, sie sollten sich beeilen.

Auf dem Weg zum Bahnhof sprach niemand. Er saß hinten im Wagen neben Ann und dem großen Wolfshund. Starwick und Elinor saßen vorn. Als sie zum Bahnhof kamen, waren es noch fünf Minuten bis zur Zugzeit. Eugen und Starwick kauften sich Fahrkarten dritter Klasse, dann gingen sie hinaus zu den Frauen, die noch auf sie warteten. Starwick und Elinor gingen ein paar Schritte weiter und begannen sich wieder zu streiten. Ann sagte nichts. Sie sah Eugen dumpf und geelendet an. Und dieser Blick war so, daß Mitleid und wildes Bedauern an ihm rissen, so, daß er schwach und wie ausgehöhlt war von seinem blinden, unmöglichen Verlangen.

Sie sahen einander mit zornigen, düstern Augen an, gequält vom widersinnigen, halsstarrigen Stolz der Jugend, unwillens, Zugeständnisse zu machen oder nachzugeben, obschon jedes wünschte, das andre möchte einlenken.

»Leb wohl, Ann, leb wohl«, sagte er und streckte ihr die Hand hin.

»Wie meinst Du das –?« begann sie zürnend. »Was hast Du denn vor?«

»Ich sag' Dir Lebewohl«, entgegnete er störrisch.

»Das heißt, daß Du nicht mit uns fährst?«

Er antwortete nicht sofort, sondern deutete mit dem Kinn auf Elinor und sagte erbittert:

»Diese Dir befreundete Dame da scheint mich nicht gern mitnehmen zu wollen. Sie glaubt nicht, daß ich meinen ehrlichen Anteil an den Kosten trage.«

»Was hat sie zu Dir gesagt?« fragte Ann.

»Oh, nichts«, sagte er leis mit wuterstickter Stimme. »Eigentlich nichts im besonderen. Bloß so eine von den kleinen Freundlichkeiten, auf die man bei ihr gefaßt sein muß. Bloß, daß sie nicht wüßte, was ich mit meinem Geld angefangen hätte, da ich doch nichts davon ausgegeben hätte, während ich mit Euch zusammen war.«

Ann wurde feuerrot im Gesicht. Sie blickte mit zürnenden Augen zu Elinor hinüber und murmelte ganz leis:

»Gemeinheit, so was zu sagen!« Dann wandte sie sich wieder an Eugen und fragte leis:

»Du willst also sagen, daß Du die Reise aufgegeben hast? Daß Du nicht mit uns fährst?«

»Ja, das ist's, was ich meinte, Du verstehst doch«, sagte er herb. »Hast Du etwas andres von mir erwartet?«

Sie sah ihn einen Augenblick düster zürnend an. Plötzlich waren ihre Augen feucht.

»Das wird 'ne schöne Reise für mich werden, nicht wahr?« murmelte sie. »Eine ganze Masse Sachen, auf die ich mich schon im voraus freuen kann, nicht?«

»Oh, es wird schon gehen, nehm ich an«, höhnte er. »Meine Gesellschaft wirst Du jedenfalls nicht sehr entbehren.« Er spürte die verzweifelte Hoffnung, daß sie sie entbehren würde.

»Oh, reizend, reizend wird es werden, nicht wahr? Nichts zu tun wie mit dem Hund hinten im Wagen zu sitzen, während sie«, sie machte eine leichte Kopfbewegung zu Elinor und Starwick hinüber, »ihre wunderbaren Gespräche führen, mich mit dem Hund allein lassen, wenn sie die ganze Nacht lang zusammen spazierengehn, – oh, ganz tollschön wird das werden, nicht?« sagte sie wütend mit sarkastischer Bitterkeit.

»So, das ist also der Grund, weshalb ich gewünscht wurde!« sagte er. »Um neben Dir hinten im Wagen zu sitzen, um Dir Gesellschaft zu leisten, um den Platz des Hunds einzunehmen! Damit die Sache 'n bißchen besser aussieht, was? Damit die Partie zu Haus in Boston etwas respektabler wirkt, wenn von Mr. Starwick und seinen zwei Damen die Rede ist! Deshalb wurde ich also gewünscht, nicht? Einen leeren Platz im Auto sollte ich ausfüllen und gewissermaßen den verdammten Wärter und Anstandswauwau für Dich und Elinor und Frank Starwick abgeben – –«

Sie war einen kleinen Schritt auf ihn zugetreten, sie hielt an sich, die Fäuste geballt, Tränen in den Augen, und ihr großer Körper bebte einen Augenblick vor unterdrückter, zorniger Verzweiflung.

»Gott verdamme Dich!« sagte sie halblaut, und die Hände noch verkrampft, wandte sie sich jäh ab, um ihre Tränen zu verbergen.

In diesem Augenblick trat Starwick hinzu, sein rötliches Gesicht errötete, als er ruhig und beiläufig sprach:

»Ann, hör mal! Willst Du mir mit tausend Francs aushelfen?«

Sie wandte sich herum, blitzte Starwick aus geröteten Augen wütend an, und im Nu – zu Starwicks und ihrem eignen Erstaunen – dröhnte sie komisch ein empörtes »Nei-ein!« heraus.

Starwick wurde vor Verlegenheit purpurrot im Gesicht, aber nachdem er Ann einen Augenblick fest angesehn hatte, drehte er sich um und ging wieder zu Elinor. Und sofort dann konnte Eugen hören, wie Elinor sagte:

»... Bedaure, Francis, aber ich kann nicht! ... Du hättest Dir das zuvor überlegen sollen! ... Wenn Du nicht hierbleiben und morgen mit uns zurückfahren willst, mußt Du eben selbständig zusehen, wie Du am besten durchkommst ... Nein, wirklich, ich kann nicht! Oder, wenn Du es so auffassen willst: Ja, ich will nicht ... Ich mag den Mann nicht; ich mißbillige von Grund auf, was Du tust, und ich will Dir nicht helfen.«

Ein leiser, erregter Wortwechsel folgte, und eine Weile später sagte Starwick:

»Du hast kein Recht, das zu behaupten. Ich nehme es sehr übel

Sein rötliches Gesicht war tiefrot vor Ärger und von der Demütigung. Stracks auf dem Absatz machte er kehrt und ging ohne Abschiedswort weg. In diesem Augenblick ertönte vom Bahnsteig der Ruf: »En voiture! En voiture, messieurs!« und Elinor, mit einem schnellen Blick auf Eugen und Ann, sagte:

»Wenn Du den Zug erreichen willst, mußt Du Dich beeilen!«

Eugen wandte sich an Ann, um ihr Lebewohl zu sagen. Sie beachtete seine ausgestreckte Hand nicht, sondern stand noch immer da wie zuvor, die Hände krampfhaft zu Fäusten geballt, und funkelte Eugen aus feuchten Augen zürnend an.

»Lebewohl«, sagte er rauh. »Sagst Du mir nicht Lebewohl?«

Sie antwortete nicht, sondern funkelte ihn an und wandte sich plötzlich ab.

»Schon recht!« sagte er ärgerlich. »Tu, was Dir beliebt.«

Ohne ein Wort an Elinor zu richten, griff er nach seiner Handtasche und rannte durch die Sperre, als sich der kleine Vorortzug gerade in Bewegung setzte. Starwick stieg soeben noch ein, Eugen folgte ihm, warf seine Handtasche ins Abteil und kletterte selber atemlos nach. Ein Beamter mit verwarnendem Gesicht schlug die Tür hinter ihm zu.


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