Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

LIX

Ganz Nacht war es bereits geworden, als Eugen auf dem Kleinstadtbahnhof ausstieg, wo Joel ihn abholen sollte. Nach den schweren Regengüssen des Nachmittags und dem stürmischen Sonnenuntergang hatte sich der Himmel vollkommen aufgehellt. Nach der schwiemeligen Schwüle der Großstadtstraßen, nach dem Gifthauch und Hochofendampf des Großstadtatems tat diese süße und frische Luft gut. Und die große Erde wartete, und sie war ungeheuerlich still, und man wußte stets, sie wäre da.

Die Lokomotive schnob mit heiser-metallischem Hall, aus dem Gepäckwagen warf jemand Postsäcke und zusammengebündelte Abendzeitungen auf den Bahnsteig, ein Bremser gab das Schwingsignal mit seiner Laterne, die Schelle auf der Lokomotive beierte, aus dem Ablaßschlauch zischte stoßweise der dicke Dampf, die Kolbenstangen schwangen wie Ellenbogen, zogen an, drückten nach unten, die furchtbaren Radkranzspuren kamen ins Sausen, der kurze, niedre Schornstein rülpste mit dem Explosionsdonner heißen Rauchs, der Zug rollte langsam voran, die Schwellen knirschten, die schweren Wagen rumpelten hart hintereinander her, und der Zug fuhr.

Fort war der Zug, und nun waren nur noch die Schienen da, die Erde, der Mond, der Fluß und die starke Stille, – und das heimsucherische, unsterbliche Antlitz Amerikas bei Nacht. Da war es, war es auf immerdar, und Eugen hatte es immer gekannt, und es verharrte da und war still, und in seinem Herzen war etwas, das er nicht aussprechen konnte. Die Schienen zeigten nordwärts in die Dunkelheit und sahen im Mondlicht aus wie zwei lebendig gleißende Silberstränge, und das schwere Schottergestein zwischen den Schienen war weiß wie Mondmarmor, und die braunen Holzschwellen waren harzig und trocken und sehr still.

Unmittelbar neben dem aufgeschütteten, abschüssigen Bahndamm war das Ufer des mächtigen Stroms. Und der Strom leuchtete im großen, blanken Mondglanz, die kühlen Wasser schwappten leis an die Saug- und Schwemmstellen des Uferrands, und im großen Blinken des Monds blitzte der Strom heller als Elfengold. Und weiter weg, wo die Dunkelheit den Wasserspiegel traf, brach sich das Licht in Schaufelschalen von Gold, es schwamm und schimmerte in billionenfachem Strahlgeblinke wie ein Heringsschwarm auf dem Wasser, und noch weiter weg war einfach die Dunkelheit, das kühlfließende Geheimnis der sammetherzigen Nacht, der leise, lautlose Schwall und die Kühle des fremden, des großartigen, des heimsucherischen, des unendlichen Stroms.

Weit, weit weg im Dunkel auf dem jenseitigen Ufer, mehr als eine Meile weit weg, stießen Wasser und Land zusammen, aber wo der Ufersaum war, war schwer zu sagen, denn gerade dort war die Dunkelheit um einen Schatten dichter, tiefer, nachtender, um einen Schatten weniger durchsichtig, glatt und gelöst, um einen unbestimmbaren Grad gediegener.

Dort jedoch waren Lichter, war eine Kette von ein paar harten Lichtern am Fluß, – Lichter von einer juwelenhaften, harten Helle, und jedes so schmerzlich-spitz verloren und allein in der ungeheuren Dunkelheit wie alle Lichter in Amerika, – Lichter, dünngesät auf den ungeheuren, unerkennbaren Mantel der Dunkelheit und durch ihr Wesen das Wesen der Dunkelheit kenntlich machend, – ein Muster von ein paar Lichtern, karg, hart, hell und klein, hingestreut auf die ungeheure Dunkelheit der Nacht, auf das große, aufmerksame Alleinsein der großen Erde, auf ihr erhabenes, beharrliches Geheimnis.

Und jenseits des fernsten Uferstreifens in der Dunkelheit wartete die große Erde und war still. Sie wartete mit der erhabenen, aufmerksamen Heimlichkeit der Nacht, Amerikas und der Wildnis; ihr dunkles, dem Hinblick entzogenes Antlitz war grauenhafter, fremder und einsamer als das Antlitz des dunklen Tods, ihre ungezähmte Kraft reißender und zerstörerischer als eine Tigertatze, ihre wilde, geheimnisholde Lieblichkeit zarter als Zauber, begehrlicher als Frauenfleisch, erregender, lockender, inniger als Frauenliebe.

Als Eugen so dastand, berückt von dem mächtigen Bann der Stille und der Nacht, hörte er, wie jemand eilends die Bahnhofstreppe herunterrannte. Eugen blickte sich um. Er erkannte Joel Pierce, der ihm schnell entgegengelaufen kam – die hohe, schlanke Gestalt in blauem Rock und weißen Flanellhosen –, ganz erfüllt von jenem quicklebendig-behenden jungenhaften Eifer, jener verbindlich-beflissenen Begier, die eine seiner gewinnendsten Eigenschaften war.

»Tut mir leid«, sagte Joel ein wenig außer Atem und in jenem eifrig-begierigen Wisperton, der ihm eigen war, »tut mir leid, daß ich zu spät komme. Wir hatten Besuch im Haus, eine Frau, und ich mußte sie nach Poughkeepsie fahren. Ich wollte Dich dort am Bahnhof abfangen, aber Dein Zug war schon fort. Und da bin ich wie ein Höllenwind hierhergesaust. – Fein, daß Du da bist!« platzte er heraus auf seine eifrig-begierige, wispernde Art, die vornehm, freundlich und spontan in einem war. »Tollschön, daß Du kommen konntest!« wisperte er begeistert. »Also komm, gehn wir! Zu Haus warten sie alle auf Dich.« Er nahm Eugens Handtasche, und sie gingen rasch über den Bahnsteig und die Treppe hinauf.

Obschon Joel Pierce jeden Freund auf diese Weise bewillkommt hätte, obschon er jeden Menschen, für den er ein freundschaftliches, sei es auch nur ein ganz beiläufig freundschaftliches Gefühl empfand, solcher Art begrüßt haben würde, und obschon Eugen wußte, daß Joel so zu vielen Leuten sprach, erfüllten dessen Worte ihn dennoch mit einem Glücksbewußtsein, mit einer triebhaften Wärme und Zuneigung für den anderen jungen Mann. Das eigenartig Unpersönliche, das in Joels Worten und überhaupt in Joels Beziehungen zu andern Menschen lag, verlieh allem, was er tat, einen erhöhten Wert. Jedermann, der Joel kannte, spürte in diesem Gehaben die natürliche Offenbarung des Wesentlichen, – eine ungeheure Wohlanständigkeit des Charakters, einen Glanz der Seele, ein wunderbar freigebig-drängerisches Befreunden von Menschen und Welt – und dieses Wesentliche war feiner und schöner, gerade weil es so unpersönlich war.

Joels warme, natürliche Menschlichkeit bestätigte sich allenthalben, selbst in den beiläufigsten Worten, in den zufälligsten Beziehungen kam sie irgendwie zum Vorschein. Als die beiden jungen Männer nun durch den leeren Wartesaal gingen, trat Joel auf einen Augenblick an den Fahrscheinschalter und sprach zu einem Mann in Hemdsärmeln, der drinnen im Büro stand.

»Joe«, sagte er beiläufig in seiner begierigen, wispernden Art. »Würden Sie Will, falls er herunterkommt, sagen, er möchte nicht warten? Heut abend kommt niemand mehr.«

»Schon recht, Mr. Pierce«, sagte der Mann ruhig. »Wenn Will 'reinkommt, sag ich's ihm.«

 

Joels Auto, ein kleiner, billiger Wagen volkstümlicher Marke, stand mit der Rückseite an den Rinnstein angefahren, vor dem Bahnhof. Joel machte die Tür auf, stellte Eugens Handtasche hinten hin, die beiden stiegen ein und fuhren ab.

Ungefähr zwei Meilen hinter dem Städtchen, auf der Kimme eines Hügels, von dem man einen guten Blick auf den edlen, mondbeglänzten Strom hatte, bog Joel, ohne seine tolle Fahrgeschwindigkeit herabzumindern, nach links auf eine Schotterstraße ein. Sie waren sofort im Herzen der Gegend. Die Fahrt ging durch Felder und kleine Gehölze, träumend und mondbetrauft, durch eine offne, großartige, erlesene Landschaft, die in der weißen, steilen Mondstille schlief. Sie kamen an Maisäckern vorbei; da war das hohe, stumme Dastehen der kühlen Halmschäfte bei Nacht. Dann und wann ragte eine große Scheune im Feld, oder sie sahen mit erhellten Fenstern ein Farmerhaus liegen. Dann wieder war einzig das tiefe, dunkle Geheimnis schlafenden Waldes zu beiden Seiten der Straße. Und einmal auf einer Weide lagerte eine kleine Herde Kühe; sie hatten alle den Kopf nach einer Seite gerichtet; ihr scheckiges Fell war deutlich im hellen Mondlicht zu erkennen.

Als sie so ungefähr eine Meile gefahren waren, bog Joel auf eine rechtwinklig einmündende Seitenstraße ein. Im Winkel der Fahrwege lag ein schöner Landsitz. Gepflegter Rasen, offne Blumenanlagen und Gärten umgaben das Haus, einen Holzbau von vielleicht acht oder zehn Räumen, der weiß und anmutsvoll im Mond leuchtete. Eine freudig vorschnellende Überzeugung sagte Eugen, dies wäre Joels Elternhaus. Als Joel aber mit unverminderter Geschwindigkeit vorbeifuhr, scharf in die Seite nach links einbog und auf dieser vorwärtssauste, fragte Eugen fast empört:

»War das nicht Dein Haus?«

»Was meinst Du?« wisperte Joel schnell, aufgeschreckt aus einer Aufmerksamkeit, die wie Strahlen auf einen Brennpunkt auf die Straße gerichtet war. Er blickte Eugen fragend an, und sagte dann sofort: »Oh, dies Haus da, meinst Du? Nein«, sagte er leis, »das ist nicht unser Haus, – das heißt«, verbesserte er sich schnell, »es ist doch unser Haus. Es gehört uns, aber eine Freundin von uns, Margaret Telfair, wohnt jetzt drin. Du wirst sie übrigens heute abend kennenlernen«, fuhr er beiläufig fort. »Eine großartige, eine unglaubliche Person, sag ich Dir. Sie wird Dir gefallen«, wisperte er begeistert.

Sie fuhren stillschweigend weiter: – mondbetraufte Felder, große Scheuern, kleine Farmhäuser, gelagerte Viehherden, die geheimnisvollen Schatten von großen Bäumen auf der Straße, träumende Geholze, Heimlichkeit, der balsamisch süße Geruch der sich kühl entfaltenden Nacht. Die Straße führte in der Gegenrichtung der anfangs genommenen zum Strom zurück. Schließlich fragte Eugen:

»Wann kommt Euer Grundstück, Joel? Noch weit?«

»Was meinst Du?« fragte Joel schnell. Wieder wandte er dem andern fragend sein strahlendes Gesicht zu. »Unser Grundstück meinst Du? Wir sind nun darauf.«

» Darauf?« meinte Eugen nach einer verdutzten Pause. »Aber – aber seit wann denn?« stammelte er. »Ich hab' ja gar keine Einfahrt gesehn. Wann sind wir denn –?«

»Oh, das meinst Du«, wisperte Joel, dem nun eine Erleuchtung kam. »An der Einfahrt sind wir vorbei.«

»Vorbei? Wo denn?«

»Als wir von der Hauptstraße abbogen. Erinnerst Du Dich?«

»An der Hauptstraße?! Du meinst die große Staatsstraße mit dem Betonbett ganz da hinten.«

»Ja«, wisperte Joel. »Da war die Einfahrt zu unserem Grundstück, eine von den Einfahrten. Es ist nicht viel dran an dieser Einfahrt«, wisperte er, sich gleichsam entschuldigend. »Kein Wunder, daß Du sie nicht bemerkt hast.«

»Und dann – dann – ist all das Land, das wir seitdem durchfahren, ist alles dieses –?«

»Ja, das ist's«, wisperte Joel mit seinem strahlenden, begierigen Gesicht. »Das ist unser Besitz. – Wirklich eine großartige Gegend«, fuhr er sachlich fort. »Ich möcht' sie Dir morgen gern zeigen.«

Sie bogen plötzlich um eine zu beiden Seiten mit duftenden Sträuchern eingefaßte Kurve des Fahrwegs, und vor ihnen lag ein breiter Riesenteppich aus samtnem Rasen, von großen, herrlich und dunkel aufragenden Bäumen beschattet. Der Wagen fegte voran durch die baumbestandene Rasenfläche, die Umrisse eines Hauses kamen in Sicht. Es war ein Traumhaus, ein Haus, wie man es nur in Träumen schaut, – das Mondlicht schlief auf den schwebenden Flügeln und der weißen Reinheit des Baus und verlieh der ganzen, ausgedehnten Struktur die luftig-zartspröde Lieblichkeit des Traumhaften. Und doch, das Haus schien Eugen anders als traumhaft vertraut. Der Wagen bog in die Zufahrt ein und hielt vor der mondbeglänzten Rückseite. Zu ebener Erde lag, von hohen, schlanken, eleganten, vierkantigen Holzsäulen gestützt, eine offene Vorhalle. Eugen blickte nach der einen Seite am Haus vorbei über den mondhellen Sammet hinweg hinunter ins Tal und sah weit drunten den blitzenden, schimmernden Hudson River.

Plötzlich zuckte in das andrängende Gefühl der Vertrautheit der Blitz der Erkenntnis. Dies war das Haus, das er – auf seinen blinden Wut- und Lustreisen zu jener Stadt am Fluß, die Troy, Troja, hieß,– ein dutzendmal nachts im Dunkel gewußt und ein dutzendmal in der Frühe vom fahrenden Zug aus gesehen hatte.

Sie stiegen aus, Joel nahm Eugens Handtasche, und Eugen folgte ihm durch die offne Vorhalle in eine weite, dämmrig erleuchtete Diele. Dort stellte Joel die Handtasche ab, wandte sich um und wisperte:

»Hör' mal, ich zeig Dir Dein Zimmer nachher. Mums und noch ein paar Leute warten auf der Terrasse. Gehn wir erst 'naus und sagen Hallo!«

Eugen, außerstand zu sprechen, nickte nur und folgte Joel durchs Haus. Joel machte eine Tür auf: das Mondlicht lag auf den weiten, sanften Rasen und den schlafenden Gehölzen jenes verwunschenen Bezirks, der Far Field Farm hieß. Der heimsuchende, unirdische Glanz fiel auch auf die weißen Flügel des Hauses und auf eine Gruppe von dessen glücklichen Bewohnern, die auf der Terrasse saßen.

Die beiden jungen Männer traten hinaus; Gestalten erhoben sich, sie zu begrüßen.


 << zurück weiter >>