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Fünftes Buch
Jasons Fahrt

LXVIII

Rauchgold bei Tag, die gedämpft frohlockenden Heimlichkeiten des Nebels, eine nebelgedämpfte Luft, voll von der ernsten Feierfreude unnennbarer und schwebender Wahrsagung, ein von alters her ergilbtes Licht, der alte Rauch-Ocker des Morgens, der nie zum offnen Erstrahlen kommt, – so war der Oktober jenes Jahres in England. Bei Nacht war manchmal der wilde, der gejagte Mond am stürmischen Himmel, manchmal die nackte, zeitferne Einsamkeit, der vertrauteste, oh, allervertrauteste Glanz der Sterne, die auf immerdar herabscheinen auf die Menschen, auf die namenlose, leidenschaftliche Spannung zwischen starkem Frohsinn und leerer Ödnis, zwischen Hoffnung und Grauen, zwischen Behaustsein und Hunger, auf die bitter waltende, ungeheure Zwillingstyrannei: – Wanderschaft immerdar und die Erde wiederum.

Stillbrennende sind sie, schlichte Seinsteilchen der Nacht, die das hehre, dunkle Zelt erleuchten mit Feuern, deren wir eingedenk sind, wenn wir uns der trauten Heimatberge erinnern, von denen wir sie hätten mit Fingern greifen können, und sie machen, daß den Wanderern die große Erde und die Heimat nah, sehr nah scheinen, und sie machen, daß die türlose, hauslose, zeitlose und unermessene Leere die Wanderer erfüllt.

Und allenthalben in jenem Jahr war etwas Geheimnishaftes, Einsames, Ungeheures, das wartete, das in der Schwebe hing, das still war. Etwas wie ein gedämpftes Gelöbnis, das ungeheuer in der nebelgedämpften Luft raunte, etwas, das sich nie mit offner Schärfe aussprach, und das beinah dem schneidend frostigen Oktober in einem unvergessenen Gebirg glich, – oh, da war etwas unglaublich Nahes, etwas Höchstvertrautes nur ein Wort weit weg, nur einen Schritt weit weg, ein Zimmer, eine Tür weiter weg, – nur eine Tür weiter weg, eine Tür, die sich nie auftat und ungefunden blieb.

Abends knatterten und strahlten fröhliche Feuer in den Kaminen, und dort, in den Gesellschaftsräumen des alten Gasthofs, saßen Leute, die tranken aus kleinen Tassen einen schwarzen, bittren, flüssigen Schlamm, den sie Kaffee nannten. Meistens waren es Familien, die einen Sohn und Bruder, der auf die Universität ging, besuchten. Es waren dies die außergewöhnlichsten, die häßlichsten und die vornehmst aussehenden Leute, die Eugen je zu Gesicht gekriegt hatte. Der Vater sah oft am besten aus: – ein Mann mit einem rötlichen, wetterharten Gesicht, kurzgestutztem weißem Schnurrbart und eisengrauem Haar, – dem offnen, treiberischen, buldoggenhaften Aussehen des Landes, das hier mit ungeheurem Stil vorgetragen wurde. Die Mutter war sehr häßlich mit einem langen Pferdegesicht und grimmig-wetterharten Hagerwangen, die die Zähigkeit von gut durchgegerbtem Leder zu haben schienen. Ein grimmes, bleckendes Lächeln glänzte aus diesem wetterharten Gesicht, es schien rings um das hagere, grinsende Gebiß auf immer angenagelt zu sein. Sie hatte eine wiehernde Stimme, und ihre formlose Figur zeichnete sich durch die knochig-eckige Weite des Hüftbaus aus. Sie war phantastisch unelegant gekleidet, – phantastisch deshalb, weil die Männer so gut angezogen waren, weil alles, was die Männer trugen, mochte es noch so alt und abgetragen sein, so schön und so richtig schien.

Die Tochter glich der Mutter: – ein hochgewachsenes, anmutsloses Wesen mit einem knochigen, wetterharten Gesicht und einem Mund aus lauter Zähnen; sie trug ein schlechtsitzendes Abendkleid von einem unangenehmen Hellblau mit einer großen, sinnlosen Faltenrosette an der Taille. Sie hatte knochige Arme, knochige Beine, große Füße; sie trug Pumps von einem trübseligen Grau und graue Seidenstrümpfe.

Der Sohn war ein kleiner Bursche mit roten Apfelbacken, sprödem blondem Lockenhaar und pludrigweiten grauen Hosen; und außer ihm war noch–gleichen Zuschnitts und gleicher Qualität, ein Studienfreund von ihm – ein andrer junger Mann da, der der Tochter eine pflichtschuldige, aber kalte Aufmerksamkeit entgegenbrachte, die sie ihm in gleicher Münze zurückzahlte, und mit der jedermann vollkommen einverstanden schien.

Man mußte diese Leute gesehen haben, um an ihr So-sein glauben zu können, aber selbst dann noch ging's einem wie dem Mann, der die Giraffe sah und sagte: »Ich glaub's nicht.« Die jungen Männer saßen steif auf den Vorderrändern ihrer Stühle, hielten die kleinen Mokkatassen in der Hand und hatten den Oberkörper ein wenig nach vorn gebeugt, und ihr Gehaben zeigte eine kalte, jedoch respektvolle Aufmerksamkeit. Die am Tisch geführten Gespräche waren unglaublich, und die Manieren dieser Leute waren unerschütterlich; diese Leute verkehrten kalt, fern, förmlich, fast militärisch kurz angebunden miteinander, und dennoch spürte Eugen, daß eine äußerste Vertrautheit der Zuneigung in ihren Beziehungen lag, eine jenseits von Worten und ausgesprochenen Gelübden bestehende sonderbare, geheime Wärme, die wie Eisfeuer in ihnen brannte.

Auf drei oder fünf Schritte Entfernung hätte ihm ihre Sprache nicht unverständlicher klingen können, wenn sie chinesisch gesprochen hätten, aber es war faszinierend, bloß den Lauten zu lauschen. Da gab es das lange, ansteigende Rossegewieher, dann Rohrflötentöne, schnittig-kalte Endgültigkeitsäußerungen, halbverschluckte Ausrufe und manchmal auch einen lieblichen, sehr musikalischen Redefluß. Aber das Wiehern und die halbschlucksigen Ausrufe überwogen, und plötzlich verstand Eugen, wie fremd diese Leute auf andere Rassen wirken mußten, warum Franzosen, Deutsche und Italiener, wenn sie sie reden hörten, sie manchmal mit offenem Munde und verdutzt anstarrten und begafften.

Eines Abends, als Eugen an diesen Leuten vorbeiging, saß der Hausvikar oder sonst ein mit der Familie befreundeter Geistlicher bei der Gruppe. Dieser Geistliche war ein Mann wie ein Berg, und auch sein So-sein war kaum zu glauben. Dieses hehre Geschöpf nämlich war zwei Meter groß und wog etwa drei Zentner, und zu seiner Erscheinung gehörte ein flammend roter Mond aus Gesicht und Doppelkinn, ein Antlitz, das gleichzeitig höchst animalisch und höchst delikat war, und in diesem Antlitz standen scharfe, klarlugende, leuchtend rauchgraue Augen hinter einem heckenhaften Wachstum ergrauter Brauen. Dieser Mann trug die Tracht der Geistlichen, und seine schwellenden, grobsinnlichen Waden staken in Knopfgamaschen. Er hielt ein Mokkatäßchen delikat in seiner Riesenpranke, und als Eugen gerade vorbeiging, neigte sich jener leicht nach vorn, und kühnlugend hinter der buschigen Braue erkundigte er sich, und zwar so:

»Haben Sie mal – das heißt, in den letzten Jahren – die Schlußkapitel des ›Vicar of Wakefield‹ gelesen?« fragte er und setzte vorsichtig das Täßchen auf die Untertasse. »Ich las das Buch neulich. Es ist eine ganz außerordentliche Sache.«

Es ist unmöglich, die Lautung dieser schlichten Worte zu schildern, noch auch die Wirkung zu beschreiben, die der Klang des Gesprochenen auf Eugens Sinne ausübte. Der Mann sagte: »Did you ever read – that is, in recent years – the concluding chapters in ›The Vicar of Wakefield‹?« (Die Worte years, chapters, vicar sprach er yöhs, chaptahs, vicah aus.) »I was reading it just the other day. It's an extraordinary thing!«

Die ersten Worte Did you ever wurden in einem sanften, steigenden und sinkenden Wiehern hervorgebracht, das Wort read kam mit einem langen Schalmeienton, die Wortgruppe – that is in recent yöhs – in einer Parenthese süß liebenswürdigen Wohlwollens, das Satzbruchstück the concluding chaptahs in ›The Vicah of Wakefield‹ mit der bedächtig-befriedigten Klangfülle jenes Respekts, mit dem ein Buchtitel genannt wird; der kleine Satz alsdann I was reading it just the other day ward flötentönig, gedankenvoll, mit einer gedämpften, liebenswürdig mürben Reminiszenz vorgebracht und die schlüssig-entschiedene Feststellung endlich It's an extraordinary thing mit einer leidenschaftlich überzeugten Aufrichtigkeit, die in ölig bewundernde Verehrung überging, so sehr, daß die Worte extraordinary thing eigentlich nicht gelautet, sondern vielmehr leidenschaftlich hingehaucht wurden und wie »'strawd'n'ry thing« klangen.

»Ow!« antwortete der junge Mann wie von fernher, in einem etwas überraschten Ton, mit einer Miene kalter, betretener Interessiertheit. »Nein! Kann ich nicht behaupten. Jedenfalls hab' ich sie seit meiner Schulzeit nicht gelesen.« Er lachte metallisch.

»Du solltest sie wirklich wieder lesen«, hauchte der Berg von einem Manne ölig. »A 'strawd'n'ry thing! A 'strawd'n'ry thing!« Er nahm das Täßchen mit der schwarzen Schlammflüssigkeit wieder delikat in die Riesenpranke und führte es zum Mund.

»Aber fürchterlich sentimental, nicht wahr?« wieherte nun das Mädchen scharf. »Wissen Sie, ich meine die Art, daß sich schöne Frauen zu Törinnen erniedrigen ... Schließlich doch ein bißchen viel verlangt, daß Leute heutzutage so etwas glauben sollen«, wieherte sie, »besonders nicht nach all dem, was sich in den letzten zwanzig Jahren geändert hat. Ich nehme an, daß so etwas im achtzehnten Jahrhundert wichtig war, aber schließlich«, wieherte sie ungeduldig verachtungsvoll, »wer bekümmert sich heute drum? Wer bekümmert sich heute drum«, fuhr sie verwegen fort, »was eine schöne Frau tut, wozu sie sich herabläßt? Ich habe nicht bemerkt, daß das irgend jemandem im geringsten etwas ausmacht. Es scheint nicht mehr wichtig genommen zu werden, niemand bekümmert sich drum.«

»Ow!« sagte der junge Mann wieder mit einer Miene kalter, betretener Interessiertheit. »Ich glaub', ich versteh', was Sie meinen, aber ganz einverstanden bin ich da nicht. Wie können wir denn sicher sein, was sentimental ist und was nicht?«

»Mir scheint, da bin ich mißverstanden!« rief das Mädchen aus. Die Worte kamen schnell, voll, fast auf einmal hervorgesprudelt aus ihrem Mund. »Schließlich und endlich«, fuhr sie fort, »ist es doch so, daß sich heut niemand mehr für Törinnen interessiert. Ich meine für diese Geschichten von verführten Maiden und gebrochnen Gelübden. Wenn es einem Mädchen so geht, dann sag ich mir, das hätte sie von vornherein wissen sollen! Da verschwende ich doch mein Mitleid nicht!« erklärte sie grimmig. »Die größte Torheit ist doch, nicht zu wissen, was man will. Worauf es heutzutag ankommt, ist, daß man so gescheit wie möglich lebt. Das ist es, worum sich alles dreht! Wenn man weiß, was man will, und es gescheit anfängt, erledigt sich das übrige von selbst.«

»U-m«, bemerkte die Mutter nun. Das hagere, bleckende Lächeln saß grimmig und beinah schreckhaft auf dem wetterharten Gesicht. »Das verlangt doch wohl einige Anstrengung, nicht wahr?« Als sie diese ruhigen Worte sprach, änderte sich das grimmige Lächeln auch nicht auf eine Sekunde, und in ihrem Ton war eine harte, störrische, beinah wilde Ironie, die jedoch den ganzen Zuhörerkreis völlig gleichgültig ließ.

»Oh, a 'strawd'n'ry thing«, hauchte träumerisch der geistliche Hüne, ganz so, als hätte er die andern gar nicht gehört. Delikat setzte er das Täßchen auf die kleine Untertasse.

Eugens erste Regung, wenn er diese Leute sah und hörte, war stets, mit einem Lachen des Erstaunens loszubrüllen. Und dennoch,– irgendwie – man lachte nie. Diese Menschen hatten eine schreckhaft-unbezwingliche Art, die das Gelächter erstickte: – ihre Art war nämlich so sicher im Sinn ihrer eignen unvermeidlichen Richtigkeit, daß es ihnen unmöglich war, eine Art außer der ihren anzuerkennen, so unbesieglich sicher in der Selbstäußerung, daß sie jeder andern Art der Selbstäußerung gegenüber gleichgültig blieben. Diese Leute konnten ihre Art des So-seins in fremde Lande und unter fremde Gesichter, in die fernsten und wildesten Kolonien des Erdreiches mitnehmen, ohne daß sich eine Geringfügigkeit an ihr änderte oder verwandelte.

Ja, sie hatten eine Art, eine Tür zum Eintreten, einen Raum gefunden, und nun waren Mauern um sie, und die Art war die ihre. Die Zeichen der dunklen Zeit und dessen, was ungezählte Jahrhunderte gebaut hatten, waren an ihnen, die Zeit hatte aus ihnen gemacht, was sie waren, und ändern würden sie sich nicht.

Eugen wußte nicht, ob die Art dieser Menschen eine gute Art war, aber er wußte genau, daß es nicht seine Art war. Ihre Tür war eine, durch die er nicht eintreten konnte. Und so erfüllte plötzlich wieder die leere Ödnis sein Leben, er schritt dahin unterm zeitlosen Himmel und hatte keinen Wall, an dem er seine Kraft erproben konnte, keine Tür zum Eintreten und keine Aufgabe für seine ziellos-wütige, unbeschäftigte Seele. Und nun fraß ihm der Wurm wieder am Herzen. Ringsum spürte er allenthalben das langsame, endlose Zerrinnen der grauen Zeit, und sein Leben verging im Dunkel, und ständig sagte eine Stimme in ihm: »Warum? Warum bin ich nun hier? Und wohin soll ich gehn?«

 

Eugen pflegte nach dem Dinner hinaus auf die High Street zu gehn; die Dunkelheit war durchdröhnt von der Musik großer Glocken, es roch nach Nebel, Rauch und altem Oktober, und allenthalben lagen ahnungsvolle, drohende Erregungen in der Luft, die ihn an unerträgliche, namenlose Freuden gemahnten. Zaubrischerweise war dann manchmal die dicke, graue Decke, die den Himmel am Tag verhängt hatte, weggezogen worden, und droben stand die nackte Nacht und brannte mit grellen, großartigen Sternen.

Die alten Glocken dröhnten durch die Luft, und Studenten – allein, zu zweit, zu dritt – kamen schnell auf der Straße vorüber, und ihre eifrig-eilige Hast sprach von Versammlungen und Verabredungen, zeugte für die Erwartung schicksalsschöner und glücklicher Begegnungen, für Vergnügungen, denen man hurtig entgegenging.

Ein sanfter Lichtschein lag in den alten Fenstern der Kollegiengebäude: gedämpfte Stimmen drangen heraus, Gelächter, manchmal Musik.

Eugen pflegte in verschiedene Wirtschaften zu gehn und zu trinken, bis die Polizeistunde schlug. Manchmal kamen die Proktoren in eine Wirtschaft, in der er grade trank, sie grüßten jedermann freundlich und gingen dann wieder weiter.

Irgendwie hoffte Eugen immer, sie würden ihn für einen Studenten halten. Er konnte sich genau vorstellen, wie sie an ihn, der gerade an der Bar stand und trank, herantraten und zwar höflich, jedoch ernst und streng fragten:

»Ihren Namen und Ihr College, Sir?«

Er konnte sich lebhaft den Ausdruck erstaunten Unglaubens vorstellen, der auf die grimmen, roten Gesichter der Proktoren käme, wenn er ihnen erklärte, er sei gar kein Student, konnte schließlich, nachdem er die Beamten überzeugt hätte, die beschämte, gemurmelte Entschuldigung vernehmen und sich selbst, der das Versehen anmutig verzeihen würde.

Aber die Proktoren sprachen Eugen nie an, und als er ihnen eines Abends, als sie wieder hinausgingen, nachsah, sagte der Barkeeper, der diesen Blick mißverstand, vergnügt und zutraulich lachend:

»Wegen denen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Sir. Sie werden Sie nicht belästigen. Es sind nur die Gentlemen von der Universität, hinter denen sie her sind.«

»Aber wie wissen sie denn, daß ich nicht zur Universität gehöre?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir«, antwortete der Mann vergnügt. »Aber sie haben so eine Art sich auszukennen. Ah, ja«, sagte er befriedigt und schlappte einen feuchten Lumpen auf den Schanktisch. »Sie haben so eine Art, sich genau auszukennen. Sind gescheite Kerle das, Sir, sehr gescheite Kerle, und sie merken immer, wenn jemand nicht zur Universität gehört.« Er fuhr noch einmal in großem Bogen wischend über die hölzerne Tischplatte, lächelte vergnügt und tat den nassen Lumpen auf seinen Platz unter der Theke.

Eugens Glas war fast leer, er sah sich das Restchen an und fragte sich, ob er sich noch ein Glas genehmigen solle. Er fand nämlich die Gläser in diesem Lande sehr klein. Aber die Wirtschaft gefiel ihm; das war ein feiner, offner, warmer Ausschank; gerade hinter ihm in der großen offnen Feuerstelle knackte und knatterte ein zischend-grelles Kohlenfeuer auf dem Rost, und er konnte die wohlige Wärme auf seinem Rücken spüren. Draußen in der nebelgedämpften Luft gingen einsamen, schnellen Schritts Leute vorbei und waren dann wieder in der nebelgedämpften Luft verloren.

In diesem Augenblick wandte sich die Barmaid, die bronzerotes Haar und ein gescheites, witziges Papageiengesicht hatte, ins Lokal und verkündete in einem vergnügten, spröden, jeden Einwand niederschlagenden Ton: »Polizeistunde! Bitte, meine Herren, wir schließen!«

Eugen stellte das wieder geleerte Glas auf den Schanktisch zurück. Er wunderte sich, wieso sich die Proktoren auskannten.

Es war Oktober, ungefähr um die Monatsmitte, und der Michaelmas term hatte gerade angefangen. Allenthalben war das frohlockend-erregende Getriebe der Rückkehr, von neuem Leben, neuem Abenteuer, das nun wieder begann, in dem alten, schönen Städtchen, das schon an sich reich war von all dem unaufzählbaren Leben und Geschehen aus Hunderten von Jahren, die gekommen und gegangen waren. Mit dem Morgen kam das rauchige, altgoldne Gelb der Sonne, das beklemmend Erregende der Nebelluft, es roch nach gutem Tabak, Bier, auf dem Grill gebratenen Nieren, Schinken und Wurst und gedünsteten Tomaten, und da kam auch ein feiner, heimwehhafter Duft von Tee und – irgendwie unglaublich in diesem nebligen, altgoldnen Licht – ein Duft von Kaffee, ein unerträglicher, rasendmachender, falscher, trügerischer Duft, denn wenn man ihm nachging, gab's keinen Kaffee: – was da Kaffee hieß, war ein schwarzer, flüssiger Schlamm, bitter, leblos, untrinkbar.

Alles war sehr teuer, aber man kam sich reich vor, wenn man es bloß anguckte. Da waren die kleinen Geschäfte, die Weingeschäfte mit den Erkerfenstern aus kleinen Butzenscheiben, die angekrustete Üppigkeit der alten Port- und Sherry- und Burgunderflaschen, die mürbe, anheimelnde Wärme und Ruhe drinnen im Geschäft, da waren die Schneiderläden, die Tabakgeschäfte mit den alten Krügen, in denen die verschiedenen feinen Tabaksorten aufbewahrt wurden; – die kleine Ladenglocke klingelte dünn, wenn man von der Straße eintrat; hinter der Theke stand der würdig-höfliche, liebenswürdig wohlwollende Ladenbesitzer, der die roten Backen, den weichen, braunen Schnurrbart und den Stehkragen mit Flügelecken hatte, wie es sich für einen »Geschäftsinhaber von solider Substanz« gehört, – der einem, ehe man kaufte, den Tonkrug unter die Nase hielt und einen den feuchten, duftigen, auserlesenen Tabak riechen ließ, und der einem, ehe man den Laden verließ, eine von seinen besten Zigaretten anbot, – und all das verlieh den einfachsten geschäftlichen Erledigungen irgendwie eine ritualistische Wärme und Heiligkeit und machte, daß man sich wohlhabend und gesichert vorkam.

Und überall ringsum spürte Eugen morgens die unmittelbar nahe Gegenwart einer Genesung; ihm war dann, als könne er ein Leben wieder erlangen, das immer sein eigen gewesen sei. Ihm schien, die Gebäude hätten ihr Dasein in einer wesentlichen Wirklichkeit, die er von je gekannt, aber nie gesehen habe, an die er selbst nun, wenn er seine Hand auf die verwitterte Oberfläche des Bausteins legte, kaum zu glauben vermochte.

Diese Wesens Wirklichkeit war auch im Aussehen der Menschen; sie leuchtete ihm ständig aus Gesichtern entgegen. Manchmal waren es Studentengesichter, aber häufiger fand er sie in den Gesichtern der Leute aus dem Städtchen, in den Gesichtern der Händler und Geschäftsleute, der Menschen in den Metzgereien, den Weingeschäften, den Kleiderläden, – und manchmal in Gesichtern, die gleichviel gewöhnlich, fein, vertraut, seltsam zart und hell waren, Gesichtern von Frauen, die im nebligen, alt-bronzenen Vormittagslicht zum Markt gingen, Gesichtern von Männern, die steife, runde, schwarze Hüte und Stehkragen mit Flügelecken trugen. Sie war auch in den Gesichtern zweier Schankwirte, – Vater und Sohn, gutmütiger, kleiner Kerle mit roten Bullengesichtern, – die einen Ausschank in der Cowley Road hatten, ganz in der Nähe des Hauses, in dem Eugen später wohnte.

Es war dies ein Aussehen, das rund, voll, rot vor Gesundheit, heiter in seiner gelassenen Gutmütigkeit war, ein Wesensausdruck, der – so fand Eugen –, verglichen mit dem, den er auf den Gesichtern der Neu-Engländer gefunden hatte, offener war und mehr milden Humor enthielt. Er glich im ganzen mehr dem Aussehen, dem Wesensausdruck der Leute, die auf dem Land und in Kleinstädten der Südstaaten leben. So fühlte sich Eugen oftmals an seinen Onkel Crockett Pentland erinnert, an dessen offnes, rötliches, ruhiges Gesicht, an dessen ochsenhafte, selbstgenügsame Gutgelauntheit, – und oft auch an den Polizisten Mr. Bailey, den ein Neger totschlug in einer Winternacht, als Schnee gefallen war und alle Glocken zu läuten begannen, – und oft auch an den Mr. Ernest Pegram, einen Installateur in Eugens Vaterstadt, einen Mann mit einem vollen, herzhaften Gesicht, der im Haus neben Eugens Vaterhaus wohnte, – und oft auch an das dicke, gewöhnliche, gütige, unüberwindlich provinziale, unwissende Hausfrauengesicht der Mrs. Higginson, die im Haus wohnte, das Eugens Vaterhaus gegenüberlag, die selber in England geboren war, acht Kinder hatte, dreimal in der Woche buk, betend, singend und fanatisch dem Glauben der Baptisten anhing, und die dennoch auf ihrem gewöhnlichen, gütigen Gesicht – besonders um den Mund herum – diesen selben Ausdruck hatte, eine tierhafte, sanfte, rauch- und hauchflüchtige Zartheit, die hier mehreren Männern und Frauen zu eigen war.

Es war dies ein Leben, das Eugen so nahe schien, daß er glaubte, er könne es jeden Augenblick mit Händen fassen und zu seinem eignen machen. Ihm war, als stünde er vor einem ihm von je bekannten Zimmer, als wäre er gerade zurückgekehrt und hielte nun noch einen Augenblick inne vor der Tür, ohne Zweifel und ohne Unruhe in der Seele.

Aber dann fand er die Tür nicht, konnte er keine Klinke fassen, konnte er nicht eintreten. Wenn es soweit schien, konnte er die Tür nicht finden. Die Klinke war ihm nah wie seine andre Hand, und doch konnte er sie nicht fassen, sie war bloß so hoch wie sein Herz, und trotzdem konnte er sie nicht ergreifen, sie wäre bloß eine Handbreit weiter weggewesen, wenn er die Hand hätte ausstrecken können, bloß ein Wörtchen weiter weggewesen, wenn er das Wörtchen hätte sagen können. Bloß einen Schritt, eine Bewegung, einen Tapfen weit weg war all der Frieden, war all die Sicherheit, war all die Freude, nach der sein ganzes Wesen verlangte, und er ertrank in der Finsternis.

Er fand die Tür nie. Das alte Rauchgold des Morgens war voll von Hoffnung und Freude und der unmittelbar nahen Gegenwart der Entdeckung, aber der Nachmittag kam, und die weichen, grauen, feuchten Himmel drückten auf ihn herab mit der sinnlosen Wucht und dem Gewicht und der Langwierigkeit der unerträglichen Zeit, und die leere, nackte Ödnis füllte ihm die Eingeweide.

Er ging jene legendäre Straße entlang, an all jenen sichtbaren, magisch verhafteten Gestalten der Zeit vorbei, er sah Studenten durch die Torgatter der Kollegienhäuser gehen, sah das unglaubliche Samtgrün der Rasenvierecke, um die die Kollegienhäuser stehen, erkannte das ungeheure, dunkle Zimmer aus Friede und Freude, das die Zeit erschaffen hatte, und es war ihm keine Möglichkeit gegeben, in dieses Zimmer einzutreten.

Alltäglich ging er in der Stadt spazieren und atmete die verfluchte, sehnsüchtige, weiche, graue, fremdländische Luft, diese Luft, die so ohne bissige Frische und ohne Gesprüh war, er ging an all den fabelhaften, altersverkrusteten Mauern aus gotischer Zeit vorbei, und er fragte sich verwundert, was ihn all diese Mauerwerke und Türme angingen, oder wie er seinen Hunger an den Bildnissen des spanischen Königs zu stillen vermöchte, und warum er, Eugen, hier weile, weshalb er hergekommen sei.

Manchmal war es bloß ein Wort, die Betonung, mit der ein Satz ausgesprochen wurde, – die Art, wie die Leute Worte wie »very« oder »American« lauteten, die ihn frösteln machte und seinen ganzen Herzenseifer lähmte, – oder es war die Art wie sie »Thank you!« sagten, wenn man etwas bezahlte, spröd, höflich, und dennoch mit einer schnellen, vorsichtigen, störrischen Endgültigkeit, ganz so, als schlügen sie einem die Tür vor der Nase zu. Wenn Eugen die Leute sprechen hörte, dann hörte er alle die Worte, vernahm er all die Lebenstöne, die Stimmungen und Launen, die ihm von Kind auf bekannt waren, und das so sehr, daß ihn dünkte, er könne den Verlauf einer Geschichte, die erzählt wurde, vorabsehen, genau die Situation, die beschrieben werden sollte, voraussagen, und dann war im Nu alles ihm Vertraute auf einmal wieder weg, und Worte und Lautung hätten ihm nicht fremder sein können, wenn die Leute in einer welschen Zunge geredet hätten.

Eugen sah den Studenten zu, die auf dem Sportplatz vorm Haus spielten; – die Rufe und Schreie, die jungenhafte Rauheit des Spiels, die starken, schrundigen Knie und das Geschnauf, das alles war ihm als Lebensbild so vertraut, daß er das Gefühl hatte, er brauche bloß, um in dieses Leben einzutreten, über den samtnen Rasenstreifen hinüberzugehn, der ihn vom Sportplatz trennte. Wenn er dieselben jungen Leute dann zwei Stunden später auf der High Street traf, dann war ihm deren Wesen, waren ihm deren Worte fremder als Dinge im Traum, – oder aber: diese jungen Menschen schienen ihm erdichtete, daseins-unechte Eigenschaften an sich zu haben, so daß ihm alles, was sie sagten oder taten, falsch, manieriert und affektiert vorkam und er grollend und verächtlich empfand, sie sprächen und gebärdeten sich mit der handgreiflichen Falschheit von Schauspielern auf der Bühne.

Einmal sah Eugen zwei Studenten vor dem Torgatter eines Kollegienhauses. Der eine war ein schlanker Bursche mit einem kleinen, schmalen Kopf, einer Garbe blonden Strähnenhaars und einem feinzügigen, sensitiven, aber doch scharfen, markanten Gesicht; er stand flott da, die Hände in den Taschen der pludrigweiten grauen Hosen, und die Schöße des eleganten, abgetragnen, weiten Rocks fielen ihm in lockeren, flotten, burschikos-smarten Falten über die Hände. Er sprach in einem spröden schnellen, die Laute scharf ineinanderziehenden Ton, den Mund schien er dabei kaum zu bewegen.

»Sag' mal!« sagte er zu dem andern, »wo warst Du denn gestern abend? Weißt Du, bei dem Budenzauber beim alten Lambert haben wir dich schwer vermißt. Jedermann dort erkundigte sich nach Dir.«

»Oh!« sagte der andere (aber für Eugen klang es wie ›Ow!‹). »Wirklich? Tut mir fürchterlich leid, konnte aber einfach nicht komm'n. War zum Dinner eingeladen von einem aus dem Magdalen College, dessen Schwester auf 'nen Tag oder so hier ist, und nachher konnt ich nich' abhau'n. – Wie war denn der Zauber?«

»Ow!« rief der erste und warf mit einem kräftigen, geschwinden Ruck den Kopf zurück, kurz und frohlockend auflachend. »Toll! Einfach toll! Jammerschade, daß Du nicht dabei warst! Der alte Fenton war ganz bedudelt so gegen zehn«, fuhr er aufgelaunt mit seinem kleinen, frohlockenden Lachen fort, »und wirklich, es war unbezahlbar! Er war nich' davon abzubringen und wollte durchaus die Queen Victoria zum besten geben, wie sie sich mit der Times aufs W. C. begab damals, als die moderne Installation aufkam! Ow!« jubelte er und warf scharf den Kopf zurück. »Das war einfach zum Lachkrämpfe kriegen! Wie sich der alte Fenton niederließ!« rief er. »Wie er sich voller Verdacht umblickte!« flüsterte er dramatisch und sah sich selber mit einer veranschaulichenden Gebärde um. »Wie er unbehaglich der Dinge wartete, die da kommen sollten, – und dann! wie sich dieser Ausdruck wonnevoller Befriedigung auf seine Miene herein stahl!« flüsterte er hingerissen. »Und dann! wie er sich in Ruhe zurücklehnte, um die Times zu lesen! – Ow!« rief er wieder und warf frohlockend lachend den kleinen, schmalen Kopf zurück. »Das Ganze war einfach zu süperb! wirklich, ganz wirklich! Der alte Lambert kriegte solche Lachkrämpfe ... lag am Boden und war am Ersticken ... wir mußten ihn aufheben und aufs Bett legen, daß er wieder schnaufen konnte.«

In solchen Unterhaltungen war es die Wahl der Worte und deren Betonung, die sprödscharfe Artikulierung und das dennoch gleichsam hingeschlurrte Lautbild, war es auch die lässige Eleganz, mit der man die Hände in die Taschen steckte, mit der der Rockschoß die burschikos-schicken Falten schlug, war es ferner das frohlockende, kleine Lachen und die Art, wie ein kleiner, schmaler Kopf scharf und jäh zurückgeschnickt wurde, die für Eugen etwas Fremdländisches, Anmutiges, Altes hatte. Eugen glaubte hier einen Lebensstil zu erkennen, der älter, anmutiger, reifer, wissender, geschliffener war als jede andre, ihm bekannte Gebärdung, und so kam es, daß ihm diese jungen Burschen, die ihm zuvor auf dem Sportplatz wie große, wirrhaarige Schulbuben vorgekommen waren, ihn nun viel weltsicherer und lebensgewandter dünkten, als er es je sein könne.

Gleichzeitig aber war da etwas im Klang und in der Lautung der Aussprache, etwas in der Art und Weise des Wortgebrauchs und der Worthervorbringung, ein Sprechstil, eine Ausdrucksgepflogenheit der Art, daß man mit Worten wie ›süperb, unbezahlbar, fürchterlich, wunderbar‹ und so weiter aufs selbstsicherste umzugehen wußte, – und dieser Stil, die Gepflogenheiten kamen Eugen unecht vor, erdichtet, gekünstelt und theatralisch.

Eugen empfand dies hauptsächlich aus dem Grund, weil er sein Leben lang von Leuten, die so sprachen, in Büchern gelesen hatte und diese Sprechweise von der Bühne her kannte, wo sie in smarten Schauspielen üblich war. Wenn er diese jungen Engländer reden hörte, mußte er zwangsläufig immer an Schauspieler auf der Bühne denken, und er bezichtigte jene grollend der billigen, affektierten Schauspielerei; erbittert hielt er es gegen sie, daß sie ›mit englischem Akzent zu reden versuchten‹, – eine Anschuldigung, die ganz offenbar sinnlos war, denn diese jungen Leute befleißigten sich ja nicht etwa feintuerisch eines fremden Akzents, sondern sprachen ihre eigne Sprache auf die ihnen anerzogne Art.

Aber dann zur Teestunde sah Eugen diese jungen Männer wieder in Buol's, wo sie mit der plumpen Einfalt unordentlicher Schulbuben mit einem dürren, scheelen Weibsbild von einer Kellnerin herumflirteten und offensichtlich von dem vielversprechenden Grinsen, mit dem diese ausgezuckelte Schlumpe sie durch ihre falschen Zähne anglänzte, aufs allerhöchste beglückt waren. Oft auch, wenn Eugen nachts heimging, kam er wieder an ihnen vorbei: – da standen sie mit einem Dienstmädchen im dunklen Schatten sturmbewegter Bäume und umklammerten plump das Hinterteil der Auserwählten, und dann erschienen ihm diese Burschen wieder unglaublich jung, nackt und unschuldig.

 

Rings um Eugen war ein verzaubertes Dasein mit all seinen Bauten, ein heimsucherisch vertrautes Leben, von dem er von je gewußt hatte, daß es so wäre, – und nun war er da, und es gab keine Möglichkeit für ihn, in dieses Leben hineinzukommen. Der Gasthof war alt, schön, elfenhaft, er war ganz so, wie die englischen Gasthöfe, von denen er gelesen hatte, und doch: – all das Heitere und Warme, das Frohe und die Bequemlichkeit, wie er sie in einer ›Inn‹ zu finden geträumt hatte, fehlte.

Durch die Korridore der Obergeschosse ging man auf verschieden hohem Fußboden, es war verrückt und verzwickt, man mußte Stufen nehmen, wieder heruntersteigen, man verlor den Weg und mußte zurückgehen, so verwirrend war die Anlage in diesem oftmals an- und umgebauten Haus ... und dies war ganz so, wie Eugen immer gewußt hatte, daß es wäre. Aber die Zimmer waren kalt, dunkel, trübselig, die Lichter brannten matt und düster; soviel wie möglich blieb man seinem Zimmer fern, und wenn man nachts zu Bett ging, kroch man schaudernd zwischen die nebelfeuchten Laken und kauerte sich zusammen, bis das Bett warm war. Morgens nach dem Aufstehen fand man ein Krüglein warmen Wassers zum Rasieren vor seiner Tür, aber es war wirklich zu wenig, man goß es in die Waschschüssel, rasierte sich, goß kaltes Wasser aus dem Waschtischkrug hinzu, um wenigstens genug zum Gesicht- und Händewaschen zu haben. Und dann verließ man so schnell wie möglich sein Zimmer und ging hinunter ins Erdgeschoß.

Drunten war es fein. Da knatterten muntre Feuer in den Kaminen, da war das alte Rauchgold des Morgens, war der Nebelduft, waren die spröden, vergnügten Stimmen und die gesundroten, sachverständig-aussehenden Vormittagsgesichter der Leute, waren die erfreulichen Wohlgerüche eines Frühstücks, das stets großzügig und gut und die beste Mahlzeit war, die einem der Gasthof bot: – Nieren, Schinken und Eier, Würstchen, Toast, Marmelade, Tee.

Aber abends dann kam ein Dinner aus hohem Glanz und gargekochtem Flanell, ein Dinner, das einem der Kellner so andächtig und prunkvoll-großartig und mit einer so hingegebenen Anmut von silbernen Platten servierte, daß man dachte, das Essen müsse bestimmt so gut sein, wie es aussah. Das war jedoch nie der Fall.

Eugen saß da an dem großen Tisch in der Mitte des Speisesaals, an dem die wohlgesinnte Betriebsleitung für alleinstehende Knäblein und irre Streuner seiner Art decken ließ. Das Essen sah sehr schön aus und schmeckte, dem Genius der Nation entsprechend, nach nichts. Wie die Kochkunst das zuwege brachte, konnte Eugen nie verstehen; die Speisen an sich und die Zutaten waren von allerbester Qualität, und dann kaute man traurig und verdrossen herum und schluckte die Bissen mit der Trübsalsgeduld eines Menschen, der auf lebenslänglich zu einer Diät verurteilt worden ist, die ausschließlich aus gekochtem, ungewürztem Spinat besteht. Es mußte eine Art schlimmer Zauberei sein, und es war und blieb ein schnödes, unergründliches Geheimnis, wieso man in diesem Land imstande war, die ausgesuchtesten Stücke Fleisch und bestes Gemüse zu nehmen, ihnen alsdann jedes bißchen Wohlgeschmack, Saft und Würze zu entziehen und sie schließlich prächtig aufzutragen in einem reduzierten Zustand, in dem alles den Charakter von ausgesottenem Heu und gargekochtem Flanell hatte.

Zuerst gab es eine dicke, schwere, mahagoni-dunkle Suppe, dann ein Stück gekochten Fischs, bedeckt mit einer namen- und geschmacklosen Tunke aus weißem Kleister, dann ein vermutlich in Spülwasser bis zur Kraftertötung ausgelaugtes Roastbeef und dazu Rosenkohl, die zwar fest waren, vollkommen waren und einladend aussahen, für deren Geschmack aber sich keine Worte finden ließen. So mochte der Geschmack von gekochter, feuchter Asche, mochte der Geschmack gedämpften Grases oder Laubs sein, dem man alle Bitterkeit entzogen, alle Säfte ausgepreßt hat; vielleicht aber war es einfach bloß der Geschmack von Wolken, Regen und Nebel in gekochtem Zustand. Zum Nachtisch erschien ein wunderschön geformter Pudding aus einer bibbernden Gelbmasse, der in einer dünnen, pappigen, süßlichen, rosa Soße schwamm. Den Abschluß bildete eine Tasse schwarzen, bittren, flüssigen Schlamms.

Eugen hatte ein Gefühl, als könne er diese trübseligen Gespenster von Speisen ins Leben zurückrufen, wenn er bloß irgend etwas Einfaches zu tun wisse, – eine Beschwörungsgebärde machen, ein Gebet aufsagen, ein magisches Wort sprechen, das ihm fast auf der Zunge lag, an das er sich aber doch nicht mehr ganz erinnern konnte.

Das Essen plagte seine Seele, es ward ihm elend deswegen, und er war bitter enttäuscht und bestürzt, denn er aß gern, und gerade die Engländer hatten von allen Völkern am schönsten vom Essen geschrieben. Aus der Kindheit noch brannten in Eugens Gedächtnis die Erinnerungen an Mähler, die von Engländern beschrieben worden waren. Es waren dies Erinnerungen, die aus tausend Büchern stammten, deren seltsamerweise ›Quentin Durward‹ eines war; die Hauptquelle jedoch war jene ungeheure Schilderung in ›Tom Brown at Rugby‹, in der beschrieben wird, wie Tom mit seinem Vater in einer englischen Postkutsche durch die frostige, dunkle Frühe fährt, wie dann zum Frühstück gehalten wird vor einer Schenke und wie der Wirt, ein lustiger, gastfreier Mann mit einem roten Gesicht, herauskommt, um die Reisenden zu begrüßen.

Mit wahrer Freßlust konnte Eugen sich des Frühstücks entsinnen, über das der hungrige Tom dann herfällt. Es war dies eine Erinnerung, die berührt war von dem magischen Hauch des Frosts und der Dunkelheit, dampfender Pferde, dem erregenden Reiz des Reisens und der Begeisterung eines großen Abenteuers, der Fröhlichkeit, der Wärme, dem Betrieb in der Schenke und der Fülle köstlicher Zehr, die dem jungen Tom vorgesetzt ward, und nun war es so, daß das ganze Bild mit greller Lebendigkeit in Eugens Gemüt wiedererstand und ihn vor Hunger rasend machte, wenn er bloß daran dachte.

Nun schien ihm, die Engländer hätten gutes Essen so vortrefflich geschildert, nicht weil sie es gehabt, sondern weil sie es nur selten bekommen und sich deswegen in großen Träumen und Phantasien darüber ergangen hätten, und ihm schien überhaupt, ein Zustand des Mangels statt eines Zustands des Besitzens, des Begehrens statt der Erfüllung habe sie in allen Stücken angetrieben, habe sie zu Taten befeuert, habe sie große Träume träumen und heldisch handeln lassen und habe ihr Dasein unermeßlich bereichert.

Sie waren die größten Dichter der Welt geworden, weil Liebe und der Gehalt großer Dichtung bei ihnen zu Hause so selten war. Ihre Gedichte waren so voll vom Wesen des Sonnenscheins, weil ihr Dasein so wenig Sonnenschein gekannt hatte, waren so durchschossen mit dem massigen Gehalt goldnen Wesens (– einem Triumph von Licht, Farbe und Stoff so unvergleichlich, daß sie hierin nach jedem Maßstab die ganze Welt geschlagen haben –), weil sie so viel Nebel und Regen und so wenig Gold erlebt hatten. Und sie hatten am schönsten den April gesagt, weil ihre Aprile so kurz sind.

So hatten sie aus dem grimmen Grau ihrer Himmel auf Alchimistenweise Gold gewonnen, hatten sie, weil sie Hunger danach litten, von herrlichen Speisen erzählt, hatten sie, aus der Rauheit und der Ödnis ihres Daseins und des Wetters in ihrem Land Magie gezogen. Und alles, was da gut und schön war, war dem Häßlichen, Dumpfen und Schmerzlichen im Dasein streng und in bittrer Müh und Stück für Stück abgerungen worden, und dann, wenn es gut und schön geworden war, war es seltner und holder als jegliches andre auf Erden.

Aber auch es gehörte ihnen; da war eine andre Tür, durch die Eugen nicht eintreten konnte.


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