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XXXVIII

Eines Sonntagmorgens, Anfang Mai, waren Starwick und Eugen über die Brücke gegangen, über die die Straße nach dem großen Stadion führt, hatten sich dann nach rechts geschlagen und folgten nun dem Pfad, der am gewundenen Ufer des Charles River entlanggeht. Der Frühling war plötzlich gekommen, mit der heftigen, hellaufberstenden Lieblichkeit, mit der er in Neu-England kommt. Die schlanken Uferbirken mit den schönen weißen Stämmen waren ausgeschlagen ins holde, jungzarte Maiengrün.

Es war dies Eugens dritter und letzter Frühling in Cambridge, – und zu dieser Zeit war Starwick in seiner Haltung und in seinem Auftreten noch stutzerhafter geworden als zuvor. Der auserkorne, mit Gunst und allen professoralen Liebesbeweisen überhäufte Schützling Hatchers, der Eingeweihte, dem es zugedacht war, einmal das »Werk« der Dramatiker-Kurse fortzusetzen, wenn Hatcher selber zu alt dazu wäre, dieser Mann Starwick also hatte zu Professor Hatchers wachsender und kaum noch zu verhehlender Betrübnis im vergangenen Winter angefangen, Gamaschen zu tragen, nie ohne ein Spazierstöckchen auszugehen und sich sogar einen kleinen Hund zu halten. Im Frühling nun freilich hatte Frank die Gamaschen abgelegt. Er ging, lässig-unbekümmert sein dünnes, elegantes Stöcklein in der Luft herumwirbelnd, unterhielt sich mit seinem Freund und unterbrach ab und zu das Gespräch, um seinem kleinen Hund, der ausgelassen herumtollte, in einem strengen, etwas weibischen Ton zu befehlen:

»Bei Fuß, Tang! Bei Fuß!«

Der Stichelhaarterrier – reiche und ergebene Freunde aus dem Beacon-Hill-Viertel hatten ihn Frank geschenkt – hielt alsdann in seinem Stöbern und Schnuppern inne, wandte den Kopf und sah seinen Herrn mit einem verdutzten, altklug fragenden Kinder- und Hundeblick an, als wolle er sagen: »Ei, was ist denn, Herrchen? Gefall' ich Dir, oder hab' ich was Unrechtes getan?« Aber auf Starwicks schärferen und nachdrücklicheren Befehl kam er dann trübselig und ein wenig schuldbeladen herbei und trottete eine Zeitlang demütig hinter den beiden Männern her, bis schließlich die übermütige Frühlingslaune ihn doch wieder zum Tollen verleitete. Nun kamen auf diesem angenehmen Spaziergang von Zeit zu Zeit andre Studenten gegangen; sie kamen zu zweit oder in Gruppen, und wenn sie an Starwick mit seinem Stutzerstöckchen und seinem spielsüchtig-ungehorsamen Hündchen vorüberkamen, sahen sie einander breitgrinsend an und musterten Frank mit neugierigen Augen.

Einmal war Starwick stehengeblieben und hatte sein »Bei Fuß!« befohlen, als der kleine Tang gerade mit erhobnem Beinchen an einem Baum stand. Da hatte der Hund seinen Herrn so wunderlich verdutzt angeguckt, daß ein paar vorübergehende Studenten herzhaft herausplatzten. Starwick, obschon sein rötliches Gesicht einen Ton dunkler wurde, hatte diesen Rauhbeinen nicht mehr Aufmerksamkeit gezollt als dem Abschaum der Gosse. Mit den Fingern schnippend hatte er ein schärferes »Bei Fuß!« befohlen, der kleine Hund hatte gehorsam von seinem Vorhaben abgelassen und war brav getrottet gekommen.

Mitten in einem solchen Zwischenfall hörte Eugen plötzlich eine bekannte Stimme hinter seinem Rücken, er wandte sich schnell um und sah in das freudig bewegte, breite Antlitz von Effie Horton, die in Begleitung ihres Gatten, des Hatcher-Dramatikers Ed Horton, vor ihm stand und ihm in ihrer hellen, vollen, mit allen Akzenten ihres Heimatstaates Iowa behafteten Stimme neckisch zurief:

»Na also! Wer ist's? Diese langen Haxen kamen mir doch schon von weitem so bekannt vor! Muß der Eugen sein, hab' ich gesagt, und ei! ei! ei! der Eugen ist's! Guck ihn an, wie er vor Dir steht ...« Sie wandte sich an ihren Gatten und eine kleine, spöttisch-neidische Gehässigkeit kam in den scherzhaften Ton: »In seinem Sonntag-in-die-Kirch-geh-Anzug spaziert er in dem feinen frischen Morgen herum, damit die hübschen Mädchen etwas anzuschauen haben!«

Eugen errötete. Es fiel ihm keine passende Entgegnung auf diese Spaßerei ein. Er spürte etwas Falsches, bösartig Höhnisches hinter dieser wohlwollenden Freundlichkeit. Er stammelte einen Gruß, und Horton, gutmütig über die Verwirrung Eugens lachend, klopfte ihm auf die Schulter und raunzte: »Na, wie geht's denn, Jung? Wie zum Teufel stehn denn die Dinge?« Sein Ton war von einer nachdrücklichen Rauheit, seine ruppige Mannesherzlichkeit war ebenso falsch und gemacht und innerlich unecht wie das neckisch-leichte Getue seiner Frau.

»Und da ist ja auch Mister Starwick!« rief Effie beglückt. »Tipptopp angetan mit Spazierstock und Hund, jawohlchen!« Sie musterte Starwicks Anzug mit begeisterten Augen. »Und einen scheenen braunen Tweedanzug hat er an. Just wie aus der Werkstatt eines Londoner Schneiders! Ei, ei, ei! Nun wünscht ich aber, die Leut' daheim könnten uns mal sehen! Nicht jedermann kann von sich sagen, daß er gleich zwei so feine Herren kennt ... Und da stehn sie ... der Eugen mit einem neuen Anzug und der Mister Starwick dazu, und reden mit uns einfach so, als wären wir ihresgleichen.«

Horton lachte rauh. Eugen errötete, eine abgeschmackte Witzantwort fiel ihm ein, und so sagte er steif: »Wir werden alles tun, damit die Herablassung unsererseits nicht als peinlich empfunden wird.«

Horton lachte mit falscher Herzhaftigkeit, klopfte Eugen auf den Rücken und rief: »Laß Dich nur nicht von ihr aufziehen, Jung!«

»Und wie geht's dem Mister Starwick in diesen schönen Tagen?« neckte Effie nun wieder. »Und was macht das große Drama, auf das wir alle nun schon ach so viele Jahre warten müssen? Das muß ich sagen, wenn die Uraufführung am Broadway ist, dann kauf ich mir 'nen Platz im vordersten Sperrsitz, denn ein Schauspiel, das so viele Jahre zum Werden gebraucht hat, das muß ja ein Meisterwerk sein, jedes Wort so gut wie Gold. Und da will man doch auch jedes Wort verstehn!«

»Durchaus!« sagte Starwick eisig. Sein Gesicht wurde dunkelrot. Er wandte sich ab, rief »Bei Fuß, Tang! Bei Fuß!«, schnippte mit den Fingern, und der kleine Hund kam brav getrottet.

Starwicks verächtlich kalter Gleichmut hatte nicht das geringste geändert an dem Ausdruck strahlenden Wohlwollens, der auf Effies robust-freundlichem Gesicht stand. Nur die Augen – Spiegel ihres eifersüchtigen, neidischen, besitzwütigen, maßlos neugierigen Wesens –, die Augen wurden plötzlich hart und häßlich. Und als sie wieder sprach, war der mißgünstige Unterton in ihrer Stimme deutlicher herauszuhören.

»Hör mal«, sagte sie und nahm Horton beim Arm. »Vielleicht ist's das, was uns fehlt!« Sie zog Horton an sich mit der Gebärde der bitter versessenen, auf alle Welt eifersüchtigen Gattin, die zu ihrer Qual gar nicht anders kann als zu glauben, daß gerade ihr Gatte das wahre Menschheitsvorbild ist, um den sie deshalb alle andern Frauen mänadisch tobend, aber vergeblich beneiden. »Hör mal, wirklich«, sagte sie leichthin und kuschelte sich an ihn, »es kann doch sein, daß man das braucht, um ein großes Stück zu schreiben ... Na ja, das ist bestimmt, was Dir fehlt ... ich glaub's!« rief sie lustig. »Ich werde von jetzt an sparen und sparen, bis ich genug hab', um Dir einen scheenen Maßanzug zu kaufen, genauso einen wie dem Mister Starwick seinen ... Wenn's soweit ist, laß ich mir von Mister Starwick die Adresse seines Schneiders geben, und dann kriegst Du einen scheenen Anzug aus englischem Tweed, und dann – vielleicht – verwandelt Dich das in einen so großen Genius wie Mister Starwick und Eugen.«

»Zum Teufel mit so 'nem Anzug!« Horton lachte mit vierschrötig-männlicher Herzhaftigkeit. »Was fehlt denn an dem, den ich da anhabe? Ich hab' ihn jetzt drei Jahre und er tut's mir noch genauso gut wie damals.«

»Aber Lieber! Hör doch!« erklärte sie vorwurfsvoll. »Wenn ich Dir's doch sag! Dein Anzug ist grün – verschossen, und ich will haben, daß Du Dich tipptopp anziehst und ein Genius wirst wie Mister Starwick.«

»Nichts zu machen!« erklärte er mit männlicher Entschiedenheit. »Diese Hosen da trag' ich, bis sie mir in Fetzen abfallen. Ich kann genauso gut mit einem Loch im Hosenboden schreiben wie nicht.« Er gab Eugen einen Schlag auf die Schulter: »Stimmt das nicht, Jung?«

»Aber Lieber, und ich hab' mir so gewünscht, daß Du ein Genius würdest wie Mister Starwick!« Sie lachte.

»Abwarten, eine Minute«, raunzte Horton und hob die Hand, als er sich mit ihr in diese üble Frozzelei einließ. »Du verwechselst da zweierlei Dinge. Starwick ist ein Künstler, und ich bin nichts als ein hundsgemeiner Schriftsteller. Ein Künstler ist eben ein empfindliches Wesen. Er braucht die rechte Atmosphäre, um arbeiten zu können. Alles muß da stimmen, damit die Stimmung da ist, nicht wahr, Starwick?«

»Durchaus«, sagte Starwick eisig.

»Mit mir liegt der Fall anders«, erklärte Horton plump. »Ich bin einer von diesen vierschrötigen Gesellen, die überall schreiben können. Ich steh' morgens auf und schreib', einerlei, ob mir's danach zumut' ist oder nicht. Aber mit einem Künstler ist das nicht so! Ein echter, gottehrlich-schon-in-der-Wolle-eingefärbter Künstler wie Starwick, ei, dessen schöpferische Laune wäre auf einen Monat mindestens dahin, wenn ihm ein paar Hosen nicht recht paßten, oder wenn seine Krawatte den falschen Farbton hätte ... Ist's vielleicht nicht so, Starwick?«

»Durchaus«, sagte Starwick. Er war über und über rot im Gesicht, wandte sich und rief seinen Hund und sagte dann ruhig und mit einem fragenden Blick zu Eugen: »Sind wir soweit?«

»Ah, ich sehe, ich sehe!« rief Effie höchst belustigt. »Deswegen sind Sie so scheen angezogen! Sie wollen spazierengehen zu den Veegelchen und den Bliemchen und den Bienchen. Ei, ei!« Sie wandte sich an ihren Gatten. »Ach Du, da möcht ich aber auch mit! Warum gehst Du eigentlich nie mit mir spazieren: Ich heer die kleinen Veegelchen so-o gern singen, Kommit, Lieber! Ja?«

»Nichts zu machen«, grölte er bündig. »Ich bin mit Dir bis hierher gegangen, über die lange Brücke weg, und heut' morgen, ganz früh schon, hab' ich Dich an den Zeitungsstand an der Ecke begleitet. Das langt mir für heute. Wenn Du Veegelchen heeren willst, dann kauf ich Dir einen Kanarienvogel!«

Er wandte sich an Eugen, klopfte ihm bieder auf die Schulter und sagte: »Du weißt, wie ich bin, Jung ... Bewegung mach ich mir ungern.«

»Nun, wenn wir nicht mitgehn können, um die kleinen Veegelchen dem Mister Starwick und dem Eugen vorsingen zu heeren, dann müssen wir uns wohl verabschieden«, sagte Effie bedauernd. »Wir haben kein Recht, sie länger von den kleinen Veegelchen abzuhalten, nicht wahr, Lieber? Und stell' Dir vor, wie sich die kleinen Veegelchen drieber freuen müssen ... Und Du, Eugen«, rief sie vergnügt, ein wenig vorwurfsvoll, aber diesmal mit wirklicher Wärme in der Stimme, »Du bist ja seit Ewigkeiten nicht bei uns gewesen! Was soll denn das? Laß Dich bald mal blicken, oder ich bin Dir bös.«

»Sicher«, sagte Horton in seinem breiten Iowa-Akzent, »komm wirklich mal 'rauf, Jung.« Er legte seine Hand leise auf Eugens Schulter. »Komm mal 'rauf. Wir kochen uns 'nen Fraß, und dann klönen wir ein bißchen. Du weißt ja, ich komm' nächstes Jahr nicht zurück ...« Für einen Augenblick waren Hortons Augen klar, grau, lichtig, voll von einem tiefen Weh, von Stolz und von Zärtlichkeit. »Wir gehn nach New-Hampshire mit Jim Maden. Also komm' möglichst bald, wir sollten wirklich noch mal richtig zusammen sitzen, eh ich von hier weggeh.«

Eugen, plötzlich gerührt und bewegt, spürte die echte Zuneigung, die wirkliche Freundschaft – eine tierhafte Wärme und Güte, die das Anziehendste an Hortons Persönlichkeit waren. Eugen nickte, er empfand plötzlich wieder eine Zuneigung für das Paar und sagte:

»Schon recht, Ed. Ich komm wirklich bald. Also auf Wiedersehn, Effie! Auf Wiedersehn, Ed!«

»Wiedersehn, Jung. Wiedersehn, Starwick«, sagte Horton gütig. »Aber auf baldiges, Eugen! Und alles Gute bis dahin!«

In dieser freundlichen Weise trennten sie sich, und Eugen und Starwick setzten ihren Spaziergang am Flußufer fort. Starwick ging langsam, sagte nichts. Von Zeit zu Zeit rief er streng nach seinem Hund.

Die beiden jungen Menschen hatten sich seit zwei Monaten gemieden. Sie hatten sich nur in Professor Hatchers Klasse getroffen, und auch dann waren ihre Beziehungen förmlich-kalt und gespannt gewesen. Nun hatte Starwick den Bann gebrochen. Er hatte die Halsstarrigkeit und den Groll Eugens überwunden, indem er den ersten Schritt zur Aussöhnung tat, und hatte ihn damit auch gleich durch die Unendlichkeit an Anmut, Zauber und Verführerischkeit, die ihm zu Gebot stand, völlig zurückgewonnen.

Trotzdem war zu Beginn dieses Flußspaziergangs die Unterhaltung, obzwar durchaus freundschaftlich, beiläufig und gleichgültig gewesen, eben eine Unterhaltung von Leuten, die noch verlegen sind, auf Meinungsverschiedenheiten zunächst sorgsam achtgeben und auf den rechten Augenblick warten, ehe sie wieder von Dingen sprechen, die sie selbst vertraulich angehen.

Die beiden kamen schließlich zu einer Schleife des Flusses, wo ein mit Rasen bestandener Uferdamm war, auf dem sie schon oft gemeinsam redend und rauchend gesessen hatten, während der kleine, liebliche Fluß an ihnen vorüberzog. Sie setzten sich wieder, zündeten sich Zigaretten an, und dann entstand eine Stille, so als warte jeder, daß der andere zu sprechen anfange.

Eugen sah den Freund an. Starwicks angenehmes Gesicht mit der rötlichen Haut und dem gekliebten Kinn war unverwandt-starr auf den Fluß gerichtet. Und plötzlich verzog sich das Gesicht schnell und heftig zu einer Grimasse, die Eugen schon öfter an Starwick beobachtet hatte. Eine Tiergrimasse war es, unsäglich in ihrer bestialischen Wortlosigkeit, im Unerlöstsein von einer geschöpflichen Qual.

Starwick wandte den Blick vom Fluß ab, blickte vor sich hin ins Gras und fragte ruhig:

»Warum hast Du mich in diesen letzten zwei Monaten nie aufgesucht?«

Eugen errötete, fing an, verlegen zu stottern. Dann, wütend über seine Verwirrung, legte er heftig los:

»Schau her, Frank – warum mußt Du eigentlich in allem so verdammt geheimnisvoll tun?«

»Tu ich das denn?« fragte Starwick ruhig.

»Ja, natürlich tust Du das! Schon immer seit ich Dich kenne.«

»Wieso denn?« wollte Starwick wissen.

»Entsinnst Du Dich an meine erste Begegnung mit Dir?« fragte Eugen.

»Ganz genau«, antwortete Starwick. »Es war während Deines ersten Jahres in Cambridge, ein paar Tage nach Deiner Ankunft. Wir aßen zusammen in der Cock Horse Tavern zu Nacht.«

»Stimmt. Stimmt ganz genau«, sagte Eugen erregt. »Du hattest mir einen kleinen Brief geschrieben, in dem Brief stand, wir möchten uns da und dann treffen, Du lüdest mich zum Nachtessen ein. Weißt Du, wie dieser Brief gehalten war?«

»Nein, wie denn?«

»Nun, Du sagtest: – ›Sehr geehrter Herr: es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir zu einem Dinner um halb acht am kommenden Mittwoch in der Cock Horse Tavern an der Brattle Street die Ehre geben wollten. Unterschrift: Francis Starwick.‹«

»Na«, fragte Starwick ruhig, »was ist denn dran auszusetzen?«

»Ei nichts!« schrie Eugen. Das Blut schoß ihm noch mehr in den Kopf; seine Gebärden wurden heftiger und erregter. »Ei nichts, Frank! Bloß: Du hattest da einen Fremden eingeladen, jemand, den Du zuvor nie zu Gesicht gekriegt hattest ... und warum zum Teufel konntest Du dann nicht sagen, wer Du bist und was Dich zu der Einladung veranlaßt hatte?«

»Das war doch eine Selbstverständlichkeit«, erklärte Starwick gleichmütig. »Wir wollten zusammen zu Nacht essen. Hätte ich deswegen lange Erklärungen machen sollen? Nein«, sagte er kalt, »ich kann da nichts Außergewöhnliches erkennen.«

»Natürlich war da nichts Außergewöhnliches dran!« rief Eugen, immer heftiger werdend. »Ei natürlich nicht! Und warum hast dann Du etwas Außergewöhnliches draus zu machen versucht, Frank?«

»Mir scheint, daß Du das tust«, antwortete Starwick.

»Ja, aber verdammt noch mal, Mann«, fragte Eugen ärgerlich. »Siehst Du denn überhaupt nicht, worauf ich hinaus will? So bist Du mit allen Sachen. Das Einfachste umgibst Du mit wer-weiß-was für Geheimnissen!« erklärte er erbittert. »Mich zum Nachtessen einladen war schon recht, es war – fein!« rief er aus. »Ich war ein grüner Junge von Zwanzig, kannte keine Menschenseele hier und hatte einen verdammten Bammel vor allem. Es war wunderbar, daß dann jemand erschien, um mich zum Dinner einzuladen. Aber als Du die Einladung schriebst, hättest Du doch genausogut ein oder zwei erklärende Wörtchen anfügen können, bloß um mir den Grund Deiner Einladung klarzumachen!«

»Zum Beispiel was?« fragte Starwick.

»Ei, Frank, doch ganz einfach das, daß Du Professor Hatchers Assistent wärst, und daß Ihr, Professor Hatcher und Du, die Gepflogenheit hättet, die neuen Kursteilnehmer mal zum Nachtessen einzuladen, um so mit den Leuten bekannt zu werden und Fühlung mit ihnen zu nehmen. Schließlich kriegt man doch nicht so einen Einladungsbrief von einem Unbekannten, ohne daß man sich fragt: ›Warum lädt Dich der Mensch eigentlich ein?‹«

»Aber Du bist doch gekommen!« sagte Starwick.

»Ja, freilich bin ich gekommen! Ich wär auch gekommen, glaub' ich, wenn ich zuvor nichts über Dich hätte ausfinden können. Ich war so berattert und verdattert von dem neuen Leben hier, so glatt umgeschmissen vom ersten Zusammenstoß mit der Großstadt, daß ich jede Art von Einladung angenommen hätte, die Gelegenheit, überhaupt jemanden kennenzulernen, beim Schopf gepackt hätte! Aber ich fand ja schnell heraus, von wem die Einladung kam. Ich hörte, ein Mann namens Starwick sei Professor Hatchers Assistent, und dann reimte ich mir den Rest zusammen: ich sagte mir, da bist du also eingeladen worden, damit du dich hier mehr zu Hause fühlst, damit freundschaftliche Beziehungen angeknüpft werden, damit du von dem Mann namens Starwick ein paar Richtlinien und Fingerzeige und Auskünfte über die Arbeit im Kurs empfängst. Und was geschah dann?« fragte Eugen empört. »Kein Wort über den Kurs, kein Wort über Professor Hatcher, nicht einmal eine Erwähnung der Tatsache, daß Du Hatchers Assistent wärst. Statt dessen hast Du mich mit Fragen ausgepumpt, als wärst Du ein Staatsanwalt und ich ein Untersuchungshäftling. Du hast mir rein nichts von Dir gesagt, und mich tausend Dinge über mich gefragt. Und dann hast Du mir zum Abschied kühl die Hand geschüttelt. Immer diese merkwürdige Geheimnistuerei! Natürlich macht einen das stutzig. So benimmst Du Dich immer, in allen Dingen, und dann wundert's Dich, daß sich die Leute drüber wundern! Wochenlang seh ich Dich Tag für Tag. Wir sitzen in Deiner Wohnung zusammen, reden und unterhalten uns über alle möglichen Dinge auf Erden. Du kommst mitternachts, stehst draußen vor meinem Fenster, rufst mich, und dann gehn wir los und wandern stundenlang in Cambridge herum. Wir gehn 'nüber nach Boston, zum Posillipo oder Masilippo, wir essen, trinken und besaufen uns zusammen, und wenn Du dann mal nicht mehr fest auf den Beinen bist, dann schleif ich Dich heim, schlepp' Dich die Treppe 'nauf und bring' Dich zu Bett. Am nächsten Tag komm ich dann, um nach Dir zu gucken – na, und was geschieht? Ich schelle, Deine Stimme kommt mit Eiseskälte durch die Tür: ›Wer ist da?‹ fragst Du. ›Ei ich!‹ sag' ich, ›Dein alter Freund und Saufkumpan Eugen Gant, der Dich gestern nacht heimgebracht hat.‹ – ›Tut mir leid‹, sagst Du in einem Ton, daß einem Polarbär das Mark in den Knochen erfrieren könnte, ›ich bin nicht zu sprechen. Ich hab' zu tun.‹ Und damit machst Du mir die Tür vor der Nase zu. Denn, mein lieber Frank, die Zeit Deiner großen Mysterien hat dann begonnen! Der Hohepriester sitzt im Allerheiligen und tut – was? Ja, was tut er? Er sitzt nicht etwa da und kritzelt oder tippt Schreibmaschine wie ein gewöhnlicher Sterblicher, nein, mit einer in Gold getauchten, aus dem Flügel eines brasilianischen Kondors gerissenen Feder setzt er da Wort für Wort. Und somit: Raus mit Dir, Gant! Du makelhaftes Wesen! – scher Dich fort, Du Laie; enthebe Dich, Du Bummelant! – der große Maestro Signor Francesco Starwick befindet sich in einer erhabenen Purpurwolke und tauscht mit seiner Leibmuse Amaryllis ein paar unsterbliche Gedanken aus!«

»Eugen! Eugen!« sagte Starwick lachend. Eine Spur von seinem alten, manierierten Akzent erschien wieder. »Du bist höchst ungerecht! Und Du weißt auch, daß Du's bist!«

»Nein, gar nicht!« sagte Eugen. »Genau so benimmst Du Dich! Wochenlang kannst Du nicht genug von einem sehn, und dann schmeißt Du einem die Tür vor der Nase zu! Du pumpst Deine Freunde mit Fragen trocken, und dann sagst Du ihnen kein Wort von Dir selbst! Du umgibst alles mit einer romantischen Geheimnisluft, mit dieser Da-ist-mehr-dran-als-scheint-Manier. Ei Frank! Für wen zum Teufel hältst Du Dich denn mit diesem Getue? Kommt's daher, daß Du nicht genauso wie andre Leute bist? Bist Du aus anderm Zeug gemacht als aus diesem verdammten und gemeinen Lehm der Blutlust und der Todesqual, aus dem wir übrigen geformt sind?«

»Was hab' ich nur je getan«, fragte Starwick errötend, »um Dir einen Anlaß zu geben, so von mir zu denken?«

»Zunächst einmal, Frank: Du gehabst Dich manchmal so, als wäre die ganze Welt weiter nichts als eine Auster für die Perle Frank Starwick. Du gehabst Dich manchmal so, als ob Freundschaft, die Zuneigung Deiner Freunde, lediglich zu Deinem Vergnügen und Belieben bestünde, so, als ob man das an- und abstellen könne wie den Warmwasserhahn im Badezimmer. Da können dann die Leute ihre Zeit, ihre Liebe, ihr Interesse aufwenden, solang es Dir Spaß macht und Dich ergötzt. Und dann, wenn's Dich langweilt, wenn Du gleichgültig aufgelegt oder ermüdet bist oder etwas zu tun hast, was Dir im Augenblick besser paßt, dann kannst Du sie wegschicken wie geprügelte Hunde.«

»Es ist mir nicht bewußt, daß ich das je getan hätte«, erklärte Starwick in aller Ruhe. »Und es tut mir leid, daß Du denkst, ich hätte mich so benommen.«

»Aber nein, Frank! Sag' mal, was sollen denn, Deiner Annahme nach, Deine Freunde von Dir denken? Ich zum Beispiel habe Dir alles von meinem Leben gesagt, alles von meiner Familie, alles über die Leute, von denen ich stamme, und über den Ort, wo ich her bin. Und Du hast mir rein nichts von Dir gesagt! Du bist der beste Freund, den ich hier in Cambridge habe ... ich glaube wenigstens ...« Eugen errötete und setzte langsam, mit einiger Schwierigkeit hinzu: »Einer von den besten Freunden, die ich je gehabt habe. Ich habe ja nicht viele gehabt. Ich habe ja nie einen Menschen gekannt wie Dich ... niemand Gleichaltrigen, mit dem ich reden konnte, wie ich mit Dir reden kann. Ich glaube, ich genieß das Redenkönnen mit Dir mehr als das Sprechen mit irgend sonst jemandem, den ich je gekannt habe. Diese Freundschaft, die ich für Dich empfinde, ist nun ein Stück meines Lebens geworden und hat teil an allem, was ich tu. Und deswegen stehe ich manchmal da wie der Ochs vorm Scheuertor. Ich nämlich könnte meine Freundschaft für Dich sowenig von den andern Begebenheiten und Geschehnissen meines Lebens sondern, wie ich die Anteile mütterlichen und väterlichen Bluts in meinen Adern voneinander trennen kann. Bei Dir ist das anders. Du scheinst Deine Freunde alle für sich in besonderen Gefächern zu haben. Ich weiß mittlerweile, daß Du drei oder vier verschiedene Verkehrsgruppen hast, die Du nie miteinander in Berührung bringst. Du führst Dein Leben in diesen verschiedenen Gruppen mit ganz derselben Geheimnistuerei, die Deine sämtlichen Handlungen charakterisiert. Da hast Du hier in Cambridge Deine Tanten und Kusinen, die Du jede Woche einmal aufsuchst, und die, wie jedermann, der mit Dir in Berührung kommt, alles tun, um Dir das Leben so angenehm und behaglich wie nur möglich zu machen. Dann kennst Du diese schwerreichen Leute drüben in Boston am Beacon Hill, und mit denen hast Du dann wiederum so eine großartige Daseinsgemeinschaft. Und dann hast Du eine Gruppe hier auf der Universität, Leute wie Egan, Hugh Dodd und mich. Und nun frage ich Dich, was steckt eigentlich für eine Absicht in dieser ganzen geheimnishaften Voneinanderhaltung, in dieser Scheidung und Trennung Deiner Lebenskreise? Da ist so etwas verdammt Anmaßendes und Kaltes und Berechnendes dran ... weiß der Teufel! es sieht bald so aus, als wärst Du einer von diesen verfluchten, kläglichen, egozentrischen Narren, die ihr klein-bißchen Zeit und Raum für alles und jedes haben – ein Stündchen für nette Geselligkeit, ein Stündchen für nützliche Lektüre, ein Stündchen für gesunde Leibesübungen, vier Stündchen fürs Geschäft, ein Stündchen fürs Konzert, ein Stündchen für Spiel, ein Stündchen für geschäftlich wichtigen Gesellschaftsverkehr und ein Stündchen für Freundschaft ... O um Gottes willen! Frank! Du, von allen Leuten auf der Welt kannst doch nicht zu dieser verrotteten eitlen, selbstgefälligen Spießerbande gehören ... Guter Himmel! zu diesen traurigen Hanswursten, die sich einbilden, sie könnten die Erde wie eine Milchkuh nach ihrem Gutdünken melken und dabei gedeihen, und die am Ende trotz aller selbstsüchtigen und auf Gewinn versessenen Betriebigkeit nichts sind und bleiben wie eine Gesellschaft von gottverworfnen, schnöden, mißgebornen, sterilen und impotenten Lebenshassern! ... Um Gottes willen, von allen Leuten in der Welt kannst Du doch nicht gerade zu denen gehören!« Eugen hatte diese letzten Worte geradezu herausgegellt, nun hielt er schwerschnaufend inne, erschöpft von dem heftigen Redeschwall, und sah Starwick mit grollend wilden Augen an.

»Eugen!« rief Starwick scharf, und eine Zornesglut färbte sein rötliches Gesicht tief dunkelrot. »Du bist äußerst ungerecht! Was Du sagst, ist einfach nicht wahr!« Er schwieg eine Weile. Er wandte sein zorniges Gesicht ab und starrte über den Fluß. Dann sagte er ganz ruhig: »Wenn ich je geahnt hätte, daß Du so von mir denken könntest, dann hätte ich Dich längst einfach überall bei meinen andern Freunden eingeführt, hätte ich Dich längst mit diesen verschiedenen Verkehrsgruppen, wie Du sie nennst, in Berührung gebracht. Ich will das jederzeit nachholen. Es ist mir einfach nicht beigefallen, daß sie Dich interessieren könnten.«

»O Frank!« schrie Eugen ungeduldig. »Sie interessieren mich ja gar nicht! Nicht im geringsten!!!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will sie gar nicht kennenlernen! Was schert es mich, wer sie sind, wie reich oder modisch oder kunstsinnig sie sein mögen. Weswegen ich aufmucke, das ist doch nur diese – wie mir scheint – fast absichtlich berechnende, geheimnisvolle Art, mit der Du Deine Verkehrskreise und somit – wie mir scheint – einen Teil Deines Lebens vom andern sonderst und auseinanderhältst, und so den Leuten, die Dich am meisten mögen, zwangsläufig den Zutritt zu diesem Teil von Dir verwehrst.«

Starwick antwortete zunächst nichts. Er setzte sich auf und sah über den Fluß hin. Und für einen Augenblick wieder erschien die alte Grimasse tierischen Schmerzes, bestialischer, entsetzlicher Qual auf seinem Gesicht. Dann sagte er ruhig und in einem gemüdeten Ton:

»Vielleicht hast Du recht. Ich habe die Sache nie von außen betrachtet. Ja, ich kann jetzt sehr gut sehen, daß Du mir alles von Deinem Leben erzählt hast, und ich Dir nichts von meinem. Es ist mir nie beigefallen, daß das mysteriös oder sonstwie verheimlichend oder geheimnishaft wäre. Ich glaube, es kommt einfach daher, daß Dir das Reden von diesen Dingen soviel leichter fällt als mir. In Dir ist ein großer Kraftstrom, er quillt auf und bricht los, und Du könntest ihn, selbst wenn Du wolltest, nicht zurückhalten und eindämmen. Ich habe diesen großen Lebens- und Kraftquell nicht; ich könnte nicht so reden wie Du, selbst wenn ich es zwingen wollte. Und doch, Eugen, wenn Du zum Beispiel irgend etwas aus meinem Leben wissen möchtest, etwas darüber, wie ich gelebt habe, eh ich hierher kam, oder etwas über die Leute, von denen ich abstamme, dann will ich Dir's wirklich gern sagen.«

»Ich habe wirklich immer mehr von Dir wissen wollen, Frank«, sagte Eugen. »Alles was ich von Deinem Leben weiß aus der Zeit, ehe Du nach Cambridge kamst, ist, daß Du irgendwoher aus den Mittelweststaaten stammst; und dennoch bist Du vollkommen verschieden von allen andern Leuten aus dem Mittelwesten, die ich kenne.«

»Ja«, sagte Starwick ganz still. »... zum Beispiel von Horton, nicht wahr?« Ein ganz leiser Anflug von Ironie war in seiner Stimme.

»Meinetwegen«, sagte Eugen, errötete, fuhr aber hartnäckig fort. »Also von Horton. Horton ist aus Iowa. Du hörst, siehst, riechst, schmeckst, liesest Iowa in allem, was er sagt und tut ...«

»Ja«, sagte Starwick. Er ahmte Hortons Sprechweise nach: » 'n vadahmt guhtes Gahrn ...« Als er sich bemühte, die schwerfällig-volltönige, herzhaft-robuste Note, die Horton seinem Lieblingsurteil über literarische Stoffe verlieh, zu treffen, platzten ihm die dunklen Lachbläschen in der Kehle.

»Ja«, sagte Eugen, über die Nachahmung lachend. »Genau so sagt er: ›'n vadahmt guhtes Gahrn‹. Also, Frank, Du könntest nicht verschiedener von Horton sein, wenn Du vom Planeten Mars wärst ... aber Ihr stammt doch beide ungefähr aus derselben Gegend, und im großen ganzen dürften wohl auch die Lebensumstände, unter denen Ihr beide aufgewachsen seid, gar nicht so sehr verschieden voneinander sein.«

»Sie sind es auch nicht«, sagte Starwick ruhig. »Ich weiß sogar, wo er herkommt. Die Stadt ist keine fünfzig Meilen von meinem Heimatsort, der in Illinois liegt. Und diesseits und jenseits der Staatsgrenze ist in diesem Fall das Leben ziemlich genau das gleiche.«

Er schwieg wieder eine Weile, blickte über den Fluß. Dann, als er wieder sprach, sprach er mit dem gelassen-ruhigen, etwas gemüdeten, beinah schlaffen Gleichmut des Sichgebens, den er Eugen gegenüber immer an den Tag legte, und seine Sprechweise war fast völlig frei von Manierismen: »Was die Leute, von denen wir beide stammen, anbetrifft, nun ...«, sagte er in diesem sachlichen, die Distanz zum Gesprächsgegenstand mit aller Selbstverständlichkeit wahrenden Ton: »... nun, da kann ich freilich nicht sagen, wie verschieden sie immerhin sein mögen, aber ich nehme an, daß Hortons Leute und meine ungefähr zur selben Menschenart gehören ...«

»Sein Vater, hat er mir gesagt, ist ein methodistischer Geistlicher«, warf Eugen schnell ein.

»Ja«, sagte Starwick ruhig und tonlos. »Und Horton ist der Rebell in der Familie.« Im Klang seiner Stimme hatte sich anscheinend nichts geändert, und doch war eine ruhige, bittre Ironie herauszuhören.

»Wie wußtest Du denn das?« fragte Eugen überrascht. »Es stimmt nämlich genau. Effie Horton sagte mir, Ed und sein Vater sprächen kaum ein Wort miteinander. Der Alte betet dreimal täglich für die Errettung von Eds Seele, weil der Ed nämlich Stücke schreibt und ans Theater will. Effie sagte mir, daß der Vater dem Ed noch immer Briefe schreibt, in denen er ihn anfleht, zu bereuen und sein Leben zu ändern, ehe seine Seele auf immerdar verdammt würde. Sie hat mir auch gesagt, daß der Alte das Theater die ›Teufelswerkstatt‹ nennt.«

»Ja«, sagte Starwick ganz leis und gleichgültig, »und Horton ist nun hingegangen und hat sich in die Höhle des Löwen gewagt und hat alles um der Kunst willen aufgegeben und hat es den Spießern gezeigt, nicht?« So leis und gleichgültig er auch sprach, sein Ton hatte die Messerschneide des Sarkasmus.

»Bist Du da nicht ein bißchen ungerecht, Frank? Ich weiß, Du hältst nicht viel von Ed Hortons Fähigkeiten, aber – schieben wir das mal beiseite. Immerhin muß der Mann doch ein echtes Verlangen in sich spüren, ein Verlangen, etwas Schöpferisches zu leisten ... eine wirkliche Liebe zum Theater, sonst hätte er sich doch nicht mit seiner Familie verkracht und wär' hierhergekommen.«

»Ja, ich nehme an, daß man ihm das zugestehen muß. Dieses Verlangen haben viele Leute«, sagte Starwick verdrossen. »Glaubst Du, daß das genügt?«

»Nein. Aber dennoch denke ich, daß ein Mann, der es hat, besser dran ist im Leben ... daß er anständiger dasteht ... vielleicht sogar irgendwie besser lebt als irgendeiner, der diesen Drang überhaupt nicht hat.«

»Denkst Du das wirklich?« fragte Starwick in einem vollkommen toten Ton. »Ich wollte, ich könnte Dir hierin recht geben.«

»Aber kannst Du das wirklich nicht, Frank? Es ist doch sicher besser, irgendein, wenn auch noch so kleines Talent zu haben als überhaupt keins.«

»Würdest Du denn«, antwortete Starwick, »etwa behaupten, es wäre besser, auf jeden Fall ein Kind zu haben, wie es auch immer sei, lebensunfähig, schwächlich, häßlich, verkümmert, unheilbar krank, oder, wie König Richard von sich sagt: ›zur Welt gekommen und kaum halb dazu instand gesetzt‹? Das wäre Deiner Ansicht nach besser, als überhaupt kein Kind zu haben, nicht?«

»Das möchte ich nicht sagen. Nein.«

»Hast Du je die Möglichkeit bedacht, daß der große Feind des Lebens nicht der Tod, sondern das Leben selber sein könnte?« frug Starwick. »Ist Dir nie aufgefallen, daß die wirklich üblen Leute, die man trifft – die Leute, die mit Haß und Furcht und Neid und Bosheit leben – die den Künstler und sein Werk am liebsten zerstören möchten – ist Dir nie aufgefallen, daß diese Leute nicht etwa satanische Finsterlinge sind, mit einem giftigen Lebenshaß geboren, sondern vielmehr Leute, die die lebendige Saat in sich trugen und von ihr zerstört wurden? Ich meine die Leute, die gerade genug mitbekamen, um eine Schau vom Gelobten Land gehabt zu haben, wie kurz und brüchig das Bild auch gewesen sein mag ...«

»... Und nicht die Kraft hatten, dahin zu gelangen? Das ist's, was Du meinst, nicht?«

»Ganz genau«, sagte Starwick. »Sie bleiben zurück in der Wüste. Die Fata Morgana von Brunnen, die sie nie erreichen können, macht sie rasend, und dann werden alle Lebenssäfte gallenbitter, und sie leben in Neid und schwärendem Haß. Das sind dann die alten Weiber in den Kleinstädten und Dörfern mit den sauertöpfischen Augen und dem giftdurchsetzten Fleisch, die die ganze Lebensluft dort verpestet haben mit ihrem Makel, so daß das Junge und Schöne und Freudige, das dort aufkommt, anfällig und siech wird und schließlich eingeht, weil es diese Seuchenluft atmen muß. Das sind denn auch diese lüsternen, impotenten Greise in der Welt, diese angefaulten Gichtbrüchigen mit den kleinen verschwommenen Augen, die den Liebhaber und seine Geliebte mit dem Höllenhaß ihres Eunuchentums hassen – die die Liebe mit der üblen Nachrede ihrer gehässigen Giftzungen zerstören möchten. Und schließlich gehören die Kunstkastraten in diese Kategorie: – die Männer, die zwar das Gelüst, aber nicht die Mannesmacht zur Zeugung haben, und deren Leben verrottet und zerfault und abstirbt im Haß auf den lebendigen Künstler und den lebendigen Mann.«

»Und Du glaubst, daß Horton zu diesen zählen wird?«

Starwick schwieg wiederum eine Weile und blickte über den Fluß hinweg. Als er wieder sprach, beantwortete er Eugens Frage nicht unmittelbar, sondern er sagte in einem ruhigen, gleichgültigen Ton, in Worten, deren messerscharfe Ironie kaum zu spüren war:

»Mein Gott, Eugen ...«, seine Stimme war so leis, daß Eugen den leidenschaftlichen Ekel, den verdrossenen Widerwillen im Ton gerade noch hören konnte. »... wenn es Dir einmal gehen sollte, wie mir's meiner Lebtag geht, so daß Du das alles kennst ... die Falschheit in einem herzlichen Lachen, den Neid und das Übelwollen in einem Scherzwort, den nackten Haß in einem spöttischen Blick ... und all die verworfene, giftige, krüppelige Krampfigkeit des Herzens, das ganze Unmaß an Furcht, Feigheit und Grausamkeit, die Scham, die Heuchelei und die Vorspiegelung, die sich hinter den vollen Herztönen und der robusten Männlichkeit der Hortons dieser Welt wie hinter einer Maske verbirgt ...« Er vollendete den Satz nicht. Er schwieg. Als er nach einer Weile fortfuhr, war seine Stimme wieder ganz ruhig und sein Ton sachlich. Er erzählte:

»Ich war das jüngste von neun Kindern. Eine Familie, wie Du sie überall finden kannst. Ich war die einzige zarte Blüte aus diesem Blut ...« Er sagte das mit einer kalten, gleichgültigen Ironie. »Wir waren nicht reich ... Eine große Familie und ein kleines Einkommen.« Er sprach wieder ernst, ruhig, ganz ohne Ironie. »Lauter gute, anständige Menschen. Mein Vater war Betriebsleiter in einer kleinen Fabrik, die landwirtschaftliche Geräte und Maschinen herstellte. Meine Großeltern und Vorfahren sind Farmersleute gewesen. Die Eltern schickten mich auf die höhere Schule, dann auf die Universität. Weißt Du ...« Die Ironie kam wieder zum Vorschein. »... ich war der ›helle Junge im Städtchen‹, so eine Art ›Wunderkind aus dem Mittelwesten‹, so ein ›kleiner Lehrers-Liebling‹ ... Und vielleicht ist mein Schicksal dieses: nämlich –«, er wurde wieder ernst, »also dieses von einem Künstler zu haben: das Herz, die Seele, das Verständnis, die Wahrnehmung ... und nie die Kraft, nie die Hand, die formt, die Zunge, die aussagt, dazu! O mein Gott! Eugen! Soll das, muß das mein Leben sein?! Daß alles, was ich weiß und spüre und erschaffen könnte, totgeboren in meinem Geist verwest! Eine Woge zu sein, die sich mitten im Meer bricht; die Schulter einer Kraft zu sein, und keine Wand zu haben, an der die Kraft sich beweist, ... mein Gott! mein Gott! Zur Welt gekommen sein, kaum halb dazu instand gesetzt: mit dem Geist eines Künstlers, aber ohne das Fell, das ein Künstler braucht. Die unsägliche und unerträgliche Schönheit, das Mysterium, die Lieblichkeit und das Furchtbare dieses unsterblichen Landes – dieses großen Amerika – spüren, und ein zu zartes, zu feines, zu dünnes Fell zu haben ...« Seine Stimme wurde schrill und bitter vor Leidenschaft. »... um die Grausamkeit, das Abscheuliche, das Unechte, die Gier, die gemeine und verkorkste Selbstvereitelung des Daseins hier zu ertragen und anzuprangern ... gleichsam ohne Haut geboren sein, ... das Fell und die zähe Fiber nicht haben, um eine Wehr aufzubauen, eine lehrbare Lebenshaltung aufzustellen, eine Schranke aufzurichten gegen die Hortons dieses Landes!«

»Und das ist warum –?« Eugen errötete und hielt an sich.

»Das ist warum – was?« sagte Starwick, wandte sich um und blickte Eugen an. Dann, als Eugen schwieg und abermals errötete, lachte Starwick und sagte: »Freilich ist es das, warum ich eine affektierte Person bin. Ein Poseur. Das, was Horton einen ›verdammten, kleinen Ästheten‹ nennt. Das, warum ich so spreche und mich so benehme und so anziehe, wie ich es tu.«

Eugen errötete sehr, es war ihm kläglich zumute, er murmelte:

»Nein, weißt Du, ich habe das nicht von Dir gesagt ...«

Starwick lachte plötzlich, sein ansteckendes, spontanes Lachen.

»Aber warum nicht? Warum solltest Du's nicht sagen? Es ist ja die Wahrheit. Wirklich die Wahrheit, weißt Du.« Und wie um sich selbst zu verspotten, nahm er seinen manierierten Akzent an. Dann erklärte er ganz gelassen: »Jeder Mensch hat seine Manier, und bei jedem hat sie einen eignen Grund. Bei Horton ist es so, daß seine herzhafte Stimme und seine robuste Art den Haß in seinen Augen, den Schreck in seinem Herzen, die Falschheit und Vorspiegelei in seiner kleinen, kläglichen schiefen Seele verhehlen sollen. Er hat seine Manier, ich hab meine. Er hat seine zum Verhehlen, ich hab meine an Panzers Statt. Ich ward mit einem zu zarten Fell, mit einer zu empfindlichen Haut geboren, um den Hortons dieser Erde begegnen zu können. Und irgendwo jenseits unsrer Manieren steht der nackte Mensch.« Er schwieg wieder. Nach einer Weile erzählte er ruhig.

»Mein Vater war ein feiner Mann, und wir haben einander nie sehr gut kennengelernt. Am Abend vor dem Tag, als ich auf die Universität fuhr, hat er mich ein Weilchen auf die Seite genommen und mir ein paar Sachen gesagt. Er sagte mir, daß meine Eltern ihr Herz auf mich setzten, und er sagte mir, ich solle ein guter Mensch werden, ein Mensch, der zu was taugt, – ein guter Amerikaner.«

»Und was hast Du gesagt, Frank?«

»Nichts. Da war nichts, was ich dazu hätte sagen können ...« Nach einer Weile fuhr er ruhig fort. »Unser Haus steht auf einer kleinen Anhöhe über dem Strom. Als mein Vater gesagt hatte, was er mir sagen wollte, ging ich hinaus und stand da und sah den Strom an.«

»Was für einen, Frank?«

»Da ist ja nur einer«, antwortete er. »Der große langsame Strom, der dunkle und geheime Strom – der immerdar Flutende – der unaufhörliche Mississippi ... Ein Strom, den ich mit all meinem Leben so gut kenne, daß ich nie davon reden werde. Vielleicht wirst Du's eines Tages tun – vielleicht hast Du die Kraft in Dir – Und wenn Du's tust ...« Er hielt inne.

»Und wenn ich es tu?«

»Dann sag' auch ein Wort von einem Buben, der nicht gegen die Hortons in diesem Land aufkommen konnte, der aber einst über einem Strom stand ... und der Amerika kannte, so wie jeder andre Bub es gekannt hat.« Er wandte sich ab, lächelte: »›Wenn Du mich je in Deinem Herzen hieltst / laß ab von Deiner Glücksal eine Weil' / schöpf Atem weh in dieser herben Welt / und gib Bericht von mir ...‹«

Einen Augenblick später stand er auf, lachte sein ansteckendes Lachen und sagte:

»Komm, gehn wir!«

Sie gingen zusammen weg.


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