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VI

Auf der Hospitalveranda im fünften Stock saß in der Morgensonne der alte Mann, ein Gespenst seiner selbst, ein Sterbender, und blickte trübselig hinweg über die breite, dunstüberzogene Stadt, die er in seiner Jugend gekannt hatte. Er war bis auf Haut und Knochen abgezehrt, vermorscht und vermürbt vom Krebs, der fauligen Wucherpflanze, die ihm im Eingeweide wuchs und mit ihren feinen Wurzelfäden das ganze Gewebe des Körpers angegriffen und ausgesogen hatte. Am Gehäuse des reptilienhaften Schädels schrumpfte das eingefallene Gesicht, aus dem scharf wie ein Schnabel, schmal wie eine Klinge, die Nase hervorsprang. Die Gesichtshaut war zartdünn, durchsichtig und von den Krankheitsgiften angegilbt. In den kleinen, kaltgrau-grünen Augen saß das Elend; sie starrten stumpf und gemüdet über den breiten Stadtraum hinaus in den sonnendunstigen Schmelz des Oktobers.

Alles an ihm war vergangen, alles verwirkt. Nur die Hände nicht. Sie waren lebendig geblieben: – große, herrliche Steinmetzenhände mit hochhöckerigen Knöcheln und ungemein langen, kraftvollen Fingern; hartknochige, sehnensträngige Hände, so gediegen beschaffen wie jene, die der Grabsteinhauer oftmals in Marmor gemeißelt hatte, Gebilde, an denen wenig war, das Tod und Krankheit antasten konnten. Die Rechte, die nach einem Rheumatismusanfall vor Jahren steif geblieben war, lag nun mit Anmut und Würde untätig auf der Sessellehne; die ausgestreckte Linke umklammerte den Griff des Krückstocks. Da beide Hände nichts von ihrer alten Lebensmacht und ihrer wohlgeformten Massigkeit eingebüßt hatten, erweckten sie nun den Eindruck eines unheimlichen Mißverhalts; sie wirkten in ihrer Lebendigkeit und Größe wie an eine kümmerliche Vogelscheuche hingehext.

Der alte Mann war verdrossen und schlapp. Mit seinen vom Leiden verdumpften Verstandeskräften versuchte er verzweifelt, in das bittre und fremde Geheimnis des Lebens zu dringen. Er bemühte sich, einen Sinn zu finden in seinem sinnlos-finstern, verworren aus Schmerz, Lust und Qual gewobenen Dasein. Er hatte als Knabe Hoffnung, Lust und Wunder, als junger Mensch Wut, Leidenschaft, Trunkenheit und wilde Begier gekannt ... dann in den Mannesjahren war ihm das reiche Abenteuer der Erfüllung zuteil geworden ... und nun hatte ihn der Weg zu diesem unabwendbaren und entsetzlichen Ende geführt. Nachdenken darüber brachte keinen Sinn in die Sache. Auch Trost brachte es nicht.

Das Land seiner Jugend lag zeitlich zwar weit zurück; kummervoll-fremd aber und einsam, verloren erschien ihm jetzt nur jene Welt im Gebirge, wo er später unter den Leuten seiner Frau gelebt hatte. Das Land seiner Jugend dagegen und Orte, Ereignisse und Menschen aus seiner Jugend traten ihm so klar ins Bewußtsein, als hätte er damals alles in Augenblicken der Ewigkeit erlebt.

O welch ein Land, welch ein Leben, welch eine Zeit! O Welt der Jugend und der Nimmerwiederkehr! Grüngoldne Verzauberung, üppiges Wachstum der Fluren, und was für Städte glänzten darin! Als der Sterbende an dieses entschwundene Leben dachte, war seine Trübsal auf einmal verwichen. Alles, was er je in Büchern über Kriege gelesen hatte, schien verschollen, aber was er als Junge vom Bürgerkrieg miterlebt hatte, das erlebte er nun inständig und mit allen Sinnen wieder.

Er erinnerte sich, wie er und sein nächstältester Bruder, Gil, zwei barfüßige Farmerbuben, dreizehn und fünfzehn Jahre alt, an der staubigen Straße bei Carlisle Pike gestanden hatten, als konföderierte Truppen auf dem Marsch nach Gettysburg angetrampt kamen ... Aufständische, Rebellen, Feinde waren das für die Pennsylvanier, die zur Union gehörten und hielten ... Leute aus den Südstaaten waren das, jenes Volk, zu dem seine spätere Frau gehörte.

Nun sah er sie wieder, aber nicht wie Schatten aus versunkner Zeit, nicht wie eingebildete Menschen aus Büchern, sondern deutlich und so, wie sie wirklich waren, ... er sah sie in einer augenblicklich-ewigen Gegenwärtigkeit, er hörte sie, roch sie, spürte sie, atmete sie ein; ... und so also sahen sie aus: zerfetzte Uniformen, statt Schuhen Lumpen um die Füße gebunden, ungewaschen und ungekämmt, und ein paar von den Gesellen hatten neue, hohe, schwarze Zylinderhüte auf, die sie irgendwo in einem Laden geraubt hatten.

»Mein Gott!« dachte der Alte. Er leckte schnell seinen großen Daumen, grinste dünn, schüttelte den Kopf. Nun war er wach. Sein Bewußtsein hatte sich aus dem Halbdämmer gereckt, es hob sich allmählich in den Schwall seiner alten Beredsamkeit. »Mein Gott!« dachte er, »was für eine Versammlung von Vogelscheuchen das war! Mein Lebtag hab' ich so eine Rasselbande nicht wieder vor Augen gekriegt! So eine lausige Verkommenheit gibt's wahrhaftig nicht noch mal! Und dabei ...« – er fing an zu murmeln, die Stimme hob und senkte sich, er begleitete den Redegang mit Handgebärden, die kaltgrauen, rastlosen Augen fieberten –, »... und dabei die Tapfersten unter den Tapferen, die beste Kampftruppe, die es je gab! Jeder von den Kerlen war alter Kämpfer, alle hatten sie die blutigsten Schlachten des Krieges mitgemacht, und was Furcht sei, wußten sie nicht. Auf Befehl ihres Führers wären sie ins Tal des Todes, in den Rachen der Hölle marschiert!«

Alles stand ihm wieder ganz klar vor Augen. Die Truppe hatte gehalten, die Gesellen hatten Späße gemacht, einer hatte seinem Bruder Gil zugerufen:

»He! Du kleiner Yankee da! Lauf schnell und versteck Dich! Jeb Stuart ist hierher unterwegs und sucht Dich!«

Und Gil, älter, mutiger, selbstsicherer als er, ein jähzorniger, energischer Kerl, heftig für die Sache des Nordens begeistert, hatte wie der Blitz geantwortet:

»Nach Dir wird er suchen, Euer General, wenn wir mit Euch fertig sind!«

Die Rebellen hatten gebrüllt vor Lachen und ihrem grinsenden Kameraden zugerufen:

»Hah! Der hat Dir's aber gegeben, was? Gelt, jetzt hältst Du das Maul!«

Und nun, als der Alte das alles inständig wiedererlebte, fiel ihm seine erste Begegnung mit der Pentlandsippe ein, denn damals bei dem zerlumpten Soldatenhaufen hatte er den Propheten Bacchus Pentland, den Onkel seiner späteren Frau, zum erstenmal gesehen. Eine wunderliche Zufallsbegegnung war das gewesen, eine Begegnung, die dann zwanzig Jahre später ihre Fortsetzung hatte finden sollen.

... Ja, da hatte dieser Trupp in der Hitze Marschrast gehalten ... furchtbare Kerle waren es ... Leute aus dem Gebirge ... das konnte man an der dehnig-dröhnigen Mundart merken ... und bei dem Trupp war einer gewesen, dessen Gesicht er nie hatte vergessen können ... es war ein volles, rotes, idiotisch-beseligtes Gesicht gewesen mit ruhig lächelnden Heiligenaugen ... und dieses Gesicht hatte zu diesem Mann gehört, dessen fleischig-feister Körper so bocksmäßig stank, daß die Kameraden den Mann im Scherz mit »Stinkjesus« anredeten ... und dieser Mann war Bacchus Pentland gewesen, der Auserwählte des Herrn. Der Prophet hatte sich hingestellt und seine Botschaft von Armageddon und der Wiederkehr des Herrn auf die Erde verkündigt. Die beiden Farmerbuben hatten ihm hingerissen gelauscht. Und so hatte er seine erste Bekanntschaft mit der Sprechweise der Pentlands gemacht, diesem ölig-gedehnten, vollmundigen Geklön: –

»Es kommt! Es kommt! Es wird über uns kommen! Der große Tag kann nicht mehr weit sein! Christi Königreich auf Erden ist zur Hand! Wir marschieren nach Armageddon!!«

»He! Bacchus!« hatte da einer gerufen. »Als es bei Chancellorsville losging, hast Du das auch geweissagt, und alles, was über mich gekommen ist, war 'ne Kartätschenkugel in den Arsch!«

Die Gesellen hatten gebrüllt vor Lachen und sich auf die Schenkel geklatscht.

»Es kommt! Es wird über uns alle kommen!« hatte Bacchus abermals verkündigt. Prophetisch lächelnd. Völlig unberührt vom Spott und Unglauben seiner Kameraden. »Erscheinen wird Er, sag ich Euch, ehe noch eine Woche vergangen ist, und wird sein Königreich aufrichten, und wird voneinander scheiden, wie es geschrieben steht, die Schafe zu seiner rechten, die Böcke aber zu seiner linken Hand!«

»Höh! Auf welche Seite kommst Du denn da, Bacchus?« hatte einer hämisch-unschuldig gefragt. »Schafseite oder Bockseite, was?«

»Oh, Bruder!« hatte Bacchus selig-vorbeglückt gerufen. »Auf die Schafseite, Bruder. Zu den Auserwählten des Herrn!«

»Hei«, hatte der andre geantwortet, »dann gib aber acht, daß Du bis dahin besser riechst! Sonst kommst Du versehentlich unter die Böcke, besonders wenn's ein bißchen dunkel ist!«

Die Männer hatten vor Lachen gebrüllt, – ein Befehl war durchgegeben worden, der Haufen war angetreten und weitermarschiert.

Das Bild zerging wie ein Rauch, und der alte Mann konnte kein Wort finden, weder für diesen Augenblick der Rückschau, den ihm sein schwindendes Gedächtnis erstellt hatte, noch auch für das, was ihn nun bewegte. Er sah sich selber als Buben in der Farmküche sitzen, und auf einmal kam er sich wie der ausgesandte Späher der Schicksalsmächte vor, wie ein Mitwisser des dunklen Waltens, denn er konnte zugleich unter die Dächer von tausendmal tausend kleinen Häusern sehen und über das sternbeglänzte, von Gefallenen bedeckte Schlachtfeld. Er dachte an zwei Verwundete, die auf diesem Schlachtfeld lagen, zwei Menschen, die sein eignes Leben angingen: – seinen eignen ältesten Bruder, der durch die Lunge geschossen dalag, und an den tönenden Propheten Bacchus Pentland, den Onkel seiner Frau, den er an jenem Tag zum erstenmal gesehen hatte.

Auf einmal war es dem alten Mann, als hätte er dieser Leute Leben und Schicksal in sich, und das Leben und Schicksal von Millionen andrer Menschen dazu, und dies ungeheure, zwangsläufige, in den unerforschlichen Tiefen der Zeit gesponnene Lebens- und Schicksalsgewebe war sein eigen, ganz so, wie das Blut seines Vaters sein eigen war. Und deswegen empfand er sich als den reichsten Menschen der Welt: Macht, Größe und Ruhm dieser Erde und aller Menschen waren sein. Auf eine Weile nun vergaß er, der Sterbende, sein elendes Los. Eine stolze Freude überkam ihn, eine schmerzliche Verzücktheit fuhr durch ihn hindurch, ein wortloses Siegeslied schwoll in ihm auf, – ihm war, er müsse auf der Stelle sterben, wenn er nicht sagte, was ihn bewegte, aber er fand keine Worte, um auszudrücken, daß die ganze herrliche Erde und alles große, schöne und geheimnisvolle Menschenschicksal sein sei.

Ein Wolkenschatten kam und verdunkelte das weite Grün der Wildnis! Ein Vogel rief im heimlichen Wald! Und etwas ging und kam und zerlöste sich dort vor der Sonne ... Einsamkeit und Kümmernis kamen, die Stimme seiner Mutter kam, und die Stimmen lang, lang vergangener Menschen kamen, und ein Flüßchen im Monat April ... und das alles, alles war sein!

Ein Mann war vor Jahren in die untergehende Sonne gegangen, – verschwunden. Ein Soldat war eines Abends bergan gestürmt, – fort. Ein Mann lag tot im blutigen Feld. Und alles, alles war sein!

Er hatte an einer staubigen Straße gestanden, ein hagerer barfüßiger Bub; Soldaten waren vorbeigezogen in die Schlacht, sie hatten Marschrast gehalten in der Hitze und hatten gespaßt; die Grillen hatten geschrillt, die Wälder hatten gedampft, und ringsum gebreitet im schläfrigen Mittag waren die fruchtbaren Fluren Pennsylvaniens gelegen – und das alles, alles war sein!

Ein Prophet war vorübergekommen, er hatte mit der Stimme einer merkwürdigen, einer ihm damals noch unbekannten Sippe gesprochen, und in der Nacht dann war der Prophet verwundet unterm Sternenhimmel gelegen, hatte das Lob Gottes gesungen, den ewigen Frieden geweissagt, von Armageddon geredet ... und neben dem Propheten war aus der Lunge blutend der Bruder des Farmerbuben gelegen, der den Propheten gesehen hatte ... und der Farmerbub hatte daheim mit den Seinen auf den Bruder gewartet im Vaterhaus, das keine vierzehn Meilen vom Schlachtfeld entfernt war ... und das alles, alles war sein!

Über die wilde, einsame, geheimnishafte Erde, über die immerdar dauernde und wandellose Erde, unterm Riesenzelt der allverschlingenden Nacht, durch die Wut hindurch, durch das Chaos hindurch, über die blinde Verwirrung von hundert Millionen Leben hinweg, durch die Geschlechterfolgen hindurch hatte sich etwas Wildes, Geheimnishaftes dunkel und furchtbar fort-und-fortgewebt mit den Fäden der Zeit und des Schicksals, – und –

Dahin war es gekommen: Ein alter Mann, der auf einer Hospitalveranda saß und dahinstarb und hinausstarrte in die sonnendunstige Gegend, das Land der verlorenen Jugend.

Und dies also war das Ende des Mannes, Ende des Lebens, der Wut, der Hoffnung, der Leidenschaft, der Herrlichkeit, Ende des wundersambittern Schicksalsgeheimnisses, das selbst ein Steinmetzenleben in sich einschloß. Dies also war das Ende: Ein alter, elender, verfaulter, von der Kränke verzehrter Mann, der von der Hochveranda eines Hospitals über die Stadt seiner Jugend hinwegblickte. Scheußliches und verruchtes Ende des Fleisches, das das Andenken an die Frühe, die Jugend, die Verzauberung mit dem Todesgestank der Krebsfäule ansteckte und Zweifel weckte, ob der Mann überhaupt gelebt, einen Vater gehabt, Freude gekannt habe; – so also war es: ein entsetzlich-häßliches, ein ungutes Ende.

 

An dem Morgen, als seine Söhne Lukas und Eugen ihn zum letztenmal gemeinsam besuchten, saß Gant auf der Hochveranda, wo außer ihm noch mehrere alte Männer saßen. Sie sahen sehr matt, sehr verhutzelt, sehr abgezehrt aus, alle diese Alten, und an ihnen allen fiel die klarfeine Durchsichtigkeit der Gesichtshaut auf, die vom Hospitalaufenthalt kommt. Und im überwältigenden Licht des Oktobermorgens wirkten alle diese Alten verloren.

Einige von ihnen blickten auf die sonnendunstige Stadt hinaus, dumpf und mit den gleichgültigen Augen derer, die des Leidens überdrüssig sind und den Tod herbeiwünschen. Andre wieder, die sich gerad von Operationen erholten und auf dem Weg der Genesung fühlten, freuten sich matt in der Sonne, führten mit noch kraftloser Hand die nun ungewohnt gewordene Zigarre zum Mund und sahen in die Gesichter ihrer Verwandten mit jenem ungewissen Lächeln, das gern bestätigt hätte, was es selbst noch nicht ganz zu glauben scheint, nämlich, daß Wiederherstellung und volle Gesundung Tatsache sein sollen.

In der kindlichen Vertrauensseligkeit des Hoffenwollens und des verwunderten Nichtglaubenkönnens war das Lächeln dieser Männer rührend, aber es war auch peinlich, weil die Selbstgefälligkeit der Impotenz darin lag. Es war einem, als wären diese Männer auf irgendeine geschickte Weise im Hospital kastriert worden; wenn man sie ansah, verspürte man einen heimlichen Ärger auf jene Macht im Leben, die einen Mann der Mannheit beraubt. Und der Ärger auf diese unbekannte Macht entlud sich in einem unverständlichen Groll auf Ärzte, Schwestern, Praktikanten und die ganze finsterlich-glatte Vollkommenheit des Hospitalapparats, der scheinbar imstande war, unter zynisch-falschen Vorspiegelungen einen Mann schmerzlos-geschickt zum Eunuchen zu verstümmeln.

Dieser große, maschinenmäßige Hospitalbetrieb mit seiner unheimlich verstohlenen, eigentlich nicht mehr menschlichen Vollkommenheit, mit seinen sauberen, sterilen Gerüchen, die den Gestank der Verwesung ringsum lautlos wegzusaugen schienen, gab einem eine hassenswerte Vorstellung vom Ende des Menschenloses. Zwanghaft drängte sich einem auf, daß man einst in einem solchen Betrieb sterben müsse, und da sah man plötzlich, was heutzutage aus dem Tod geworden ist. Man erlebte einen Tod, der des uralten Schreckens und der strengen Würde des Sterbens bar ward, einen verschämt-lautlosen, narkotisch-dumpfen Übergang in die Vergessenheit mit dem Geschmack von Chemikalien im letzten Atemzug. Und die Vorstellung eines solchen Todes erfüllte einen mit Haß.

So, wie Gant nun dasaß – die große Gestalt eingeschrumpft und auf die Knochen abgemagert, die Haut gelb und durchsichtig, das Kinn lose herabhängend, die öden, leblosen Augen dumpf und ohne etwas im Blick festzuhalten über die Stadt seiner Jugend hinausstarrend – so schien sein Leben bereits völlig vergangen und der Leere des grausamen, außermenschlichen Raums anheimgegeben. An ein Dasein der Wut, der Kraft und Leidenschaft erinnerte an dieser Erscheinung nichts mehr außer den Händen. Sie waren dieselben großen Steinmetzenhände geblieben, waren noch kraftvoll, sehnig und behaart wie immer, und nun wirkten sie in einem bestürzenden Mißverhalt wie an eine Vogelscheuche angeheftet.

Als er so dasaß im Sessel, die großen Hände ruhig neben sich, ging die Tür, und seine Söhne erschienen auf der Veranda.

»N-n-nun, Papa!« stammelte Lukas volltönig, »ich da-da-dachte, wir wollten Dich mal auf 'nen Au-au-augenblick b-b-besuchen, da-da-damit der Eugen Dir Lebewohl sagen kann.« Für den Bruder fügt er leis hinzu: »Kurz und b-b-bündig! N-ni-nichts was ihn aufregt!«

»Hallo, Sohn!« sagte Gant ruhig und dumpf. Er blickte zu dem jungen Menschen auf, legte seine große Hand auf die Hand des Sohns und fragte: »Wo gehst Du hin?«

»Ei, er geht 'nauf in den N-n-norden, na-nach Harvard, Papa!«

»Sei ein guter Bub!« sagte Gant sanft. Und dann, bereits ermüdet, setzte er hinzu: »Tu Dein Bestes! Wenn Du was brauchst, laß es Mutter wissen.« Er wandte den toten Blick wieder über die Stadt hin.

»Ei, er mö-mö-mö-möchte Dir noch sagen ...«

»O Jesus! Ich will's nicht hören!« greinte Gant. »Muß denn alles mir aufgeladen werden? Alt und krank wie ich bin! ... Wenn er was braucht, soll er's seine Mutter wissen lassen! Es ist furchtbar, es ist grausam, es ist entsetzlich, daß Ihr einem siechen Menschen zur Last fallen wollt.« Er schnüffelte, als wolle er weinen. Sein Kinn, an dem drahthaarige Bartstoppeln wuchsen, zitterte wie das Kinn eines flennenden Kindes.

»Ma-ma-machs kurz jetzt, Eugen, er ist nicht b-b-bei Laune!«

»Leb wohl, Papa«, sagte der Junge, beugte sich herab und nahm die große Rechte seines Vaters.

»Leb wohl, Sohn«, sagte Gant, nun wieder ganz so ruhig wie zuvor. Er blickte auf und hielt dem Sohn sein Gesicht hin. Der Sohn küßte ihn. Er spürte die Stachelbürste des Schnurrbarts auf der Wange. Wie immer.

»Gib gut auf Dich acht, Sohn«, sagte Gant gütig. »Tu Dein Bestes!« Er legte eine große Hand auf die Hand des Jungen. Mit der anderen deutete er kurz über die Stadt hin. »Da war ich als junger Mensch«, sagte er leis. »Über fünfzig Jahre her ... Old Jeff Streeters Hotel, wo ich wohnte, stand dort ...«, er deutete mit dem großen Zeigefinger in der Richtung. »... Ich stand allein in dieser großen Stadt, ganz so, wie's Dir jetzt gehen wird ... Ein armer Farmerbub, der in der ganzen Stadt keinen Freund hatte und als Steinmetzlehrling arbeitete ... Und dorther bin ich gekommen! Dorther!!« Als er diese letzten Worte sprach, zuckte auf eine Sekunde die alte Lebenskraft in Gants Stimme auf. Sein großer Zeigefinger, in die sonnendunstige Ferne deutend, beschrieb einen Bogen von Norden nach Westen hin.

»Dorther!« wiederholte er laut. Sein Blick, der dem Finger folgte, wurde hell und glänzend. »Kannst Du sehn, Sohn? ... Pennsylvanien ... Gettysburg ... Brant's Mill ... das Land, wo ich her bin, liegt dort ... werd's nicht mehr sehn ... alt und am Sterben ... große Farmen ... Baumgärten ... Scheunen, größer als die Häuser ... Du mußt mal hin, Sohn, Dir ansehn, wo Dein Vater her ist ...« Seine Stimme wurde matt, er murmelte nur noch. »Dort bin ich aufgewachsen ... war'n kleiner Bub ... und jetzt bin ich alt und werd' nicht wiederkommen ... nie mehr ... sonderbar, wenn man's bedenkt ...«

»Ei, Papa!« meinte Lukas nervös. »Ich glaub', wenn der Eu-eu-eugen seinen Zug erreichen will, d-d-d-dann ...«

»Leb wohl, Sohn«, sagte Gant, wieder ganz leise. Er drückte die Hand des Jungen mit seiner großen versteiften Rechten. »Sei ein guter Bub, gelt!?«

Das Lebensfeuer, das bei der Erinnerung an Vergangnes aufgeflackert war, war erloschen. Er war wieder ein kranker Greis. Er wandte den Blick von dem Sohn und starrte stumpf über die Stadt hinaus.

»Leb wohl, Papa«, sagte der Junge und hielt zögernd inne. Er wußte nicht, was er sonst noch sagen könne. Von dem Alten ging plötzlich ein totfauliger Verwesungsgestank aus, der junge Mensch wandte sich schnell ab und erinnerte sich entsetzten Herzens zurück an die Kindheit, an den guten Mannesgeruch, den der Vater damals gehabt hatte, an das alte, abgenutzte Ledersofa, die Stühle, das Wohnzimmer, das prasselnde Feuer im offenen Kamin, den Riegel Kautabak auf dem Kaminsims. An der Tür hielt er inne. Er blickte zurück. Dort unter den andern Alten saß sein Vater, noch so, wie er ihn verlassen hatte. Das Kinn hing ihm herab. Der Mund stand halb offen. Die toten, dumpfen Augen waren über die Stadt seiner Jugend hinweg ins Leere gerichtet. Die große Hand der Kraft lag ruhig auf dem Stockgriff.

Drunten, im dichten Straßengesträhn der Stadtmitte, konnte der junge Mensch den Bahnhof erkennen, ein Stück blinkender Gleisstrecke, Lokomotivenrauch. Als er hinunterblickte, hörte er ganz fern die heimsuchenden, prophetischen Laute der Jugend und des Lebens: die Schelle, den Rädergang, den langklagenden Pfiff des Zugs.

Er wandte sich schnell um und ging dem Zug entgegen, zu all den neuen Landen, in den Morgen, nach der glänzenden Stadt. Sein Vater auf dem Söller hatte sich nicht geregt noch gerührt. Er wußte, er würde ihn nicht wiedersehn.


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