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XCIV

Bis auf welchen, alles überragenden Gipfel sich die Gräfin mit ihren schwärmerisch verdrehten Behauptungen verflogen hatte, das stellte sich heraus, als der junge Mann eines Morgens einen Brief vorfand, der in einer ihm völlig unbekannten, festen Frauenhandschrift an ihn adressiert war. Die Gräfin hatte ihm mehrere Male von einer Dame aus dem hohen Adel gesprochen, die in der Nachbarschaft auf einem glänzenden Schloß wohnte, und dabei war es dem jungen Mann nicht entgangen, daß die Gräfin ihre offenbar nur lockergeknüpfte Verbindung mit jener Schloßherrin recht gern fester schürzen möchte. Nun, als er den Brief aufgemacht hatte, sah er sich staunenden Augs mit folgender Botschaft begrüßt: –

Le Château de Mornaye,
den 23. Februar 1925.

Mein lieber Mr. Gant:

Meine alte Freundin, die Comtesse de Caux, hat mich davon unterrichtet, daß Sie auf kurze Frist in Orléans weilen, um für die ›New York Times‹, das große Journal, dessen Vertreter Sie sind, eine Artikelserie über Orléans und unsre Gegend zu schreiben.

Es wird mir ein großes Vergnügen sein, wenn Sie zusammen mit der Comtesse mir die Ehre geben werden, am Donnerstag, den sechsundzwanzigsten, bei mir in Mornaye zu Mittag zu speisen. Die Comtesse de Caux hat mich davon unterrichtet, daß Sie mit meinem Sohn Paul bekannt wurden, als er als Begleiter des Maréchal Foch im Jahre 1922 in Amerika reiste, und daß Sie sich damals herzlich mit ihm angefreundet haben. Mein Sohn hat mir öfters von jener Reise erzählt und auch von den teuren Freundschaften gesprochen, die er damals geschlossen hat, und ich weiß, wie sehr er bedauern wird, Sie verpaßt zu haben, wenn er von Ihrer Anwesenheit hier hört. Er ist leider zur Zeit in Paris, aber ich habe ihn von Ihrem Hiersein brieflich unterrichtet.

Jedenfalls wird es mir ein großes Vergnügen bereiten, einen amerikanischen Freund meines Sohns auf Mornaye willkommen zu heißen, und ich sehe Ihrem Besuch mit den freudigsten Empfindungen entgegen. Die Comtesse de Caux hat mir bereits in Ihrem Namen auf diese Einladung zugesagt; mein Kraftwagen wird Sie diesen Donnerstag am Mittagszug vor dem Dorfbahnhof abholen.

Bis dahin verbleibe ich aufrichtig immer die Ihre:
Mathilde, Marquise de Mornaye.

Er las den Brief ein zweites Mal, und ihm wurde heiß vor Zorn, weil er die Ungeheuerlichkeit nun ganz und gar durchschaute. Als er dann schließlich die Gräfin fand, war er am Ersticken vor wortloser Wut. Er funkelte sie empört an und hielt ihr in geballter Faust den zerknitterten Brief hin.

»Nun sehn Sie sich das an! Sehn Sie sich das an!« brachte er schließlich brodelnd hervor und fuhr ihr fast mit dem Brief ins Gesicht. »Was soll denn das bedeuten?«

Sie erwiderte sein wütiges Anstieren mit einem reinhin fragenden Blick, nahm ihm den Brief aus der Hand, und sofort, nach einem schnellen, oberflächlichen Drüberhinweglesen erklärte sie hocherfreut:

»O ja! Die Marquise hat Ihnen geschrieben, ganz wie sie mir sagte. Hab' ich Ihnen nicht prophezeit, daß Ihnen eine große Sache bevorstünde?« Ihr Ton war triumphant. »Ah, mein Junge, Sie können wirklich von Glück sagen, daß Sie mich gefunden haben! Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie wenigen Amerikanern je eine solche Gelegenheit geboten wird? Nun werden Sie, ein Junge von vierundzwanzig Jahren, mit offnen Armen in einer der größten Familien Frankreichs empfangen! Ei, es gibt amerikanische Millionäre, die ein Vermögen für so eine Einladung hinlegen würden!«

»Nun sehn Sie sich das an!« würgte er abermals heraus. »Wie kommen Sie dazu, so etwas hinter meinem Rücken anzuzetteln?«

Die verdutzten Augenbrauen gingen fragend hoch:

»Hinter Ihrem Rücken? Was wollen Sie damit sagen, mein Junge?«

»Was für ein Recht haben Sie, dieser Frau zu sagen, ich hätte ihre Einladung angenommen, nachdem Sie mir gegenüber mit keiner Silbe von der ganzen Sache gesprochen hatten?«

»Aber!« Sie machte einen kleinen, empörten Japplaut. »– Ich war überzeugt, daß Sie sich freuen würden. Es ist mir überhaupt nicht beigefallen, daß das nicht der Fall sein könnte! Ich war sicher, Sie würden springen bei so einer Gelegenheit!«

»Gelegenheit!« höhnte er. »Gelegenheit wozu? Gelegenheit für Sie, daß Sie dieser Frau einen Sack voll Lügen über mich auftischen und ihr mit irgendeinem Schlich oder Winkelzug oder Plänchen zu Leibe rücken können!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wovon Sie da reden«, sagte sie mit stiller Würde.

»Oh, das können Sie schon«, fauchte er. »Sie wissen sehr genau, wovon ich da rede. Seit unsrer Bekanntschaft haben Sie ständig Lügereien und Verdrehtheiten über mich verbreitet, aber diesmal sind Sie zu weit gegangen. Was zum Teufel steckt denn dahinter, wenn Sie dieser Frau erzählen, ich wäre ein guter Freund ihres Sohns und hätte ihn in Amerika kennengelernt?« Er griff nach dem Brief und fuchtelte ihr wieder damit vorm Gesicht herum. »Wie kommen Sie dazu, so eine Lüge zu verbreiten?«

»Lüge!« Mit einem Air peinlichen Erstaunens gingen die Augenbrauen hoch. »Ei, mein Junge, Sie haben mir doch gesagt, daß Sie den Sohn kennen.«

» Ich soll das gesagt haben?« Er schrie es geradezu heraus. »Nichts dergleichen hab ich gesagt! Ich wußte nicht mal, daß diese Frau 'nen Sohn hat, eh ich ihren Brief bekam.«

»Hören Sie mal zu, mein Freund«, sagte die Gräfin sanft und geduldig, so, wie man zu einem unvernünftigen Kind spricht. »Denken Sie mal ein klein wenig zurück, nicht wahr? –«

»Hör'n Sie mir auf mit Zurückdenken«, raunzte er ruppig. »Ich hab' an nichts zurückzudenken! Es ist einfach wieder so eine Lügengeschichte, die Sie glatt aus der Luft gegriffen haben, weiter nichts! Und Sie wissen das ganz genau.«

»Erinnern Sie sich nicht«, fuhr sie in derselben ruhigen und geduldigen Stimme fort, »daß Sie mir erzählten, Sie hätten in Harvard studiert?«

»Ja, das hab' ich allerdings. Und das ist wahr. Was hat es aber damit zu tun, daß ich den Sohn dieser Frau kennen soll?«

»Warten Sie«, sagte die alte Frau ruhig. »Erinnern Sie sich nicht, daß Sie mir erzählten, Sie wären in Harvard gewesen, als der Marschall Foch seine Besuchsreise in Amerika machte?«

»Ja, das stimmt.«

»– Und daß Sie ihn sahen, als er die Universität besichtigte? Wissen Sie, das haben Sie mir erzählt.«

»Freilich hab' ich das! Ich hab' ihn damals gesehn. Genau so, wie jedermann ihn sah. Er stand mit seinen Adjutanten auf der Freitreppe vor der Bibliothek und salutierte, als der Böllerschuß abgefeuert wurde.«

»Ah! – Mit seinen Adjutanten, sagten Sie doch, nicht wahr?« fragte sie eifrig zurück.

»Ja, natürlich. Was ist denn dabei?«

»Nichts ist dabei. Es ist alles genau so, wie ich sagte! – Unter den Adjutanten nämlich ...« erläuterte sie im Ton der guten Zurede, »nun, ist Ihnen da nicht ein junger Mann mit einem Schnurrbärtchen aufgefallen, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, in der Uniform eines Rittmeisters. – – Denken Sie doch mal nach, mein Junge«, sagte sie im Ton eines Menschen, der einem andern nachhelfen, ihn auf etwas bringen will. »– ein junger Mann – – schon deshalb auffallend, weil die andern Offiziere im Stab des Marschalls so viel älter waren?«

»Vielleicht schon«, sagte er ungeduldig. »Wie sollte ich mich gerade jetzt daran erinnern können. Was macht es schon aus?«

»Es macht insofern etwas aus, als dieser junge Mann, den Sie damals unter den Adjutanten des Marschalls sahen, der junge Marquis ist, eben der Sohn jener Frau«, erklärte die Gräfin geduldig.

Er war baff. So etwas hätte er nicht für möglich gehalten. Er starrte die Gräfin wie gebannt an.

»Und nun wollen Sie mir also erzählen, daß Sie«, sagte er nach einer kleinen Weile, »weil ich vielleicht einen beliebigen Herrn in einer französischen Uniform vor drei Jahren unter einer Menge andrer Offiziere stehen sah, während ich selber in einem Gedräng von Zuschauern stand, ... daß Sie daraufhin die Stirn hatten, jener Frau zu erzählen, daß ich ihren Sohn kenne und mit ihm befreundet bin?«

»Nein, nein«, sagte die Gräfin schnell, ausweichend, ein wenig nervös. »Das hab' ich ihr nicht erzählt, mein Lieber, ganz sicher hab' ich ihr das nicht erzählt. Sie muß mich mißverstanden haben. Alles was ich sagte, war, daß Sie ihren Sohn sahen, als er in Amerika war. Und das ist doch wahr, nicht? Gesehen haben Sie ihn doch, nicht wahr?« fragte sie triumphierend.

Vor lauter Staunen sperrte er den Mund auf. Er starrte die Gräfin an. Eine kleine Weile war er außerstand, die ganze Ungeheuerlichkeit einer solchen Täuschung zu erfassen. Dann, mit einem störrischen Zuschnappen, machte er den Mund zu. Und dann sagte er:

»Schon recht. Sie haben sich in diese Sache verstrickt, nun können Sie sehen, wie Sie 'rauskommen. Ich gehe nicht mit.«

Ein Ausdruck heller Angst schoß jäh in die Augen der alten Frau. Sie lehnte sich nach vorn, krallte sich mit der Hand an den Arm des jungen Manns und sagte flehentlich:

»O mein Junge, so etwas werden Sie mir doch nicht antun wollen, so etwas? Stellen Sie sich doch vor, was das für mich bedeuten würde! Die Demütigung für mich, wenn Sie sich weigern, der Einladung Folge zu leisten!«

»Das kann ich nicht ändern. Sie hatten von vornherein kein Recht, mit dieser Frau Verabredungen zu treffen, ohne mich verständigt zu haben. Aber selbst das wäre nicht so schlimm, wenn Sie nicht diese Freundschaft zwischen dem Sohn des Hauses und mir gestiftet hätten. Das ist doch wohl der Grund, weshalb mich diese Frau einlädt. Sie glaubt, ihr Sohn und ich wären Freunde. Und wie kann ich denn so eine Einladung von ihr annehmen, wie den Vorzug ihrer Gastfreundschaft genießen, nachdem Sie ihr eine Geschichte erzählt haben, hinter der keine Wahrheit steckt?«

»Ach, das spielt keine Rolle«, erklärte die Gräfin eifrig und geschwind. »Wenn Sie wollen, werde ich ihr erklären, daß das ein Mißverständnis war, daß Sie in Wirklichkeit den Sohn nicht kennen. Aber das wird keinesfalls einen Unterschied machen, denn sie würde Sie dennoch eingeladen haben und dann nichtsdestoweniger wünschen, daß Sie kämen. – Sehn Sie«, erklärte sie bedächtig, und im Nu glomm in ihren Augen ein heimliches Licht auf, das Licht des geriss'nen Einverständnisses, der Weisheit, mit der der Fuchs den Fuchs anglitzt. »Ich glaube nämlich nicht, daß gerade das der Grund ist, weshalb Sie eingeladen wurden.«

»Was könnte es denn sonst für'n Grund sein? Die Frau kennt mich nicht, was also in aller Welt sollte sie veranlassen, mich zu ihr zu bitten?«

»Nun wohl, mein Junge –« Die Gräfin zögerte, sprach mit Bedacht weiter: »– sehn Sie, es ist so: – mich deucht, die Marquise möchte mit Ihnen –« Wieder hielt sie inne, erwog ihre Worte, ehe sie sprach. »– über eine gewisse Angelegenheit sprechen, eine Sache, an der sie interessiert ist, und als sie hörte, Sie hätten Beziehungen zur ›New York Times‹ –«

»WAS?!« Er starrte sie wieder an und plötzlich mußte er kurz und ärgerlich und resigniert auflachen. Es war ein Lachen, mit dem er sich geschlagen gab. »Sind Sie sich denn alle gleich? Ist niemand in Ihrer ganzen Gesellschaft, der sich kein Plänchen ausgeheckt hat, der nicht 'n bißchen mehr Wasser auf seine Mühle braucht? Irgendjemand, der mal nichts aus den Amerikanern 'rausschlagen möchte–?«

»Sie werden also mitkommen??« fragte die Gräfin begierig.

»Ja, ich komm mit!« rief er laut. »Erzählen Sie der Frau, was Sie wollen! Es geschieht Ihnen beiden recht, wenn sie auf den Leim geht! Ich geh' bloß mit, um auszufinden, was für neue Kniffe und Winkelzüge Sie und diese andre Frau ausgeklügelt haben. Schon recht, ich komm mit!«

»Gut!« Ein kurzes, zufriedenes Nicken. »Ich wußte ja, daß Sie mitkämen, mein Junge. Die Marquise wird Ihnen schon alles erklären, wenn sie Sie sieht.«

 

Dieser letzte, groteske Vorfall hatte den jungen Mann plötzlich zu dem Entschluß gebracht, von Orléans abzureisen. Er hatte es schon längst vorgehabt, aber seine Zufallsbegegnung mit der sonderbaren alten Frau und die Tatsache, daß sie ihn sofort in ihre eigenartigen Pläne, Absichten und Kriegslisten hineingezogen hatte, das hatte mit all dem, was es an Befremdung und Vertrautheit aufrief, mit dem heimsuchenden Einblick in das millionenfach verzwirnte Geweb und Wesen des waltenden Geschicks, den es gewährte, die grellen Funken des Interesses in sein Bewußtsein geschleudert und ihn so gefesselt, daß ihm eine kurze Spanne der Selbstvergessenheit und des Sichwunderns gegönnt war.

Und nun war diese Verwunderung, genauso plötzlich wie sie gekommen war, gestorben, und Leben und Leute in der Stadt, die alte Gräfin und ihre Freunde verdrossen ihn und schienen ihm schal. Plötzlich fand er dieses Provinzialendasein leer und langweilig, er war es dicksatt, und er verspürte eine alte Abneigung, nämlich die, daß ihm Menschen, die von Blut und Art dunkel sind, nicht zusagten, ihn samt ihren weichen, dumpfen Grauhimmeln gräßlich anödeten und in ihm ein wildes, drängerisches Verlangen weckten nach einem hellen, scharfen, nördlichen, jähen und wilden Leben, eine Sehnsucht nach Gold und Bläue und Glanz, nach dem üppigen Fleisch großer blonder Weiber, dem Schwall unbändiger Betrunkenheit, der schicksäligen Verzweiflung starker Freuden. Diese dunklen, fremden Franzosengesichter ringsum, dieses so ausländische und dabei so trübselig vertraute Leben mit seiner festgefahrenen Vollkommenheit, diese unermüdliche Betriebsamkeit um kleinlicher Zwecke willen in einem kleinlich wohleingerichteten Universum, das, dumpf und dumm wie es war, von der Welt nichts wußte oder wissen wollte und sich selbstsicher um sich selber drehte, das alles erfüllte ihn mit Widerwillen und Gereiztheit. Er war dieser Menschen plötzlich müd, war ihrer müd, weil sie so dunkel, klein und hart, so katzenhaft nervös, so unaufhörlich überschwenglich, so unverdrossen und doch freudlos lebhaft waren, und die trübselige, nüchterne Eintönigkeit ihrer zeitlosen Habsucht müdete ihn am meisten.

Er war Orléans müd, war der Vatels müd, war vor allem mit einem aus Verdruß, Widerwillen und Ekel gemischten Gefühl der alten Gräfin müd, all ihrer kleinen Trügereien und der Pläne, an denen sie schmiedete.

Und mit dieser plötzlichen Müdigkeit, mit diesem schalen Geschmack, mit dem jähen Verlust jeglichen Interesses an einem Leben, das anderthalb Wochen lang sein ganzes Interesse in Anspruch genommen hatte, war die alte Qual und Unrast des Wesens wieder aufgekommen. Und wiederum drängte sich ihm die alte Frage mit ihrer ganzen unverhohlnen Schnödheit auf: »Warum hier? Und wo soll ich nun hingehen? Was anfangen?« Und auch die alte unverhohlene Scham kam wieder, und er sah in blitzhaft grellem Erkennen, wie ziel- und zwecklos seine Wanderschaft war. Und er sah, daß es keinen bestimmten Grund, keinen gültigen Sinn gehabt hatte, daß er nach Orléans gefahren war, und gleichzeitig mit dieser brutalen Einsicht verspürte er das Entsetzen eines Ertrinkenden, und ihm war, als wäre die Phiole seines Geists wie eine Ätherflasche zerschellt und sein ganzer Lebensinhalt wäre in den formlos-leeren, planetarischen Raum verspritzt. Und nun empfand er, es gäbe überhaupt keinen Grund dafür, daß er irgendwohin ginge.

Und doch, die Furien der Unrast und des quälenden Wandertriebs stellten sich mit all ihrer Wut wieder ein. Er wußte, daß er weiterreisen, daß er an irgendeinen andern Ort ziehen müsse, aber wohin er gehen solle, das wußte er nicht. Und wie ein Ertrinkender sich an jeden Strohhalm klammert, so suchte er nach irgendeinem Sinn für sein Dasein, einer Rechtfertigung für seine Wanderschaft, einem Ziel für sein heftiges Begehren. Tausend Pläne fielen ihm ein, und jeder Plan schien vergeblicher, hoffnungsloser und unfruchtbarer als der andre. Er erwog eine Rückkehr nach Paris, um sich dort ›mal richtig hinzusetzen und zu schaffen‹, – er dachte daran, wieder nach England zurückzufahren, sich in London eine Bude zu nehmen, nach Oxford, in den Lake District, nach Cornwall, nach Devon zu gehn, – in den Gedankenfluchten der Erinnerung standen tausend Städte und Orte auf, die er sich als vernünftige, zweckvolle Ziele seiner Wanderschaft vorstellen konnte, – er konnte ja auch in Südfrankreich oder in der Schweiz ›so ein stilles Nest‹ finden, oder in Deutschland oder in Österreich oder in Italien oder in Spanien oder auf den Balearen – immer ›um sich mal richtig und in Ruhe hinzusetzen, um‹ ... was, was, was zu tun? Ei freilich, immer um ›zu schreiben‹, ›zu schreiben‹! – Großer Gott! ›Zu schreiben‹! – Und sobald er den Gedanken bloß dachte, da überfiel ihn wieder die alte dumpfe Scham und machte ihm sein eignes Wesen verhaßt und all diese nichtigen und eitlen Vorgeblichkeiten. ›Zu schreiben‹ – hieß das: immer nach den zaubrischen Himmeln, den goldnen Klimaten, den weisen, liebenswerten Menschen suchen, die einen verwandeln würden? ›Zu schreiben‹ – hieß das, im Narrenwahn, in Wunschfernen und Traumweiten nach der Kraft und Gewißheit fahnden, die einer nicht in sich selber hatte? ›Zu schreiben‹ – hieß das, zum törichtsten, eitelsten, aller Mannesmacht baren Hochstapler werden, hieß das ein Mensch sein, der auf der ganzen Erde herumreist ›auf der Suche nach einem Ort, wo man was schaffen kann‹, wenn man obendrein mit aller Nacktheit, Rohheit und Eindringlichkeit weiß, jener ›Ort, wo man was schaffen kann‹, ist Brooklyn, Boston, Hammersmith, Kansas, ist – – überall auf Erden, solang das Herz, die Kraft, der Glaube, die Verzweiflung, die bittre und unerträgliche Notwendigkeit und der nackte Mut die ganze Zeit in einem sind?

Nun also, nachdem der junge Mensch sich einverstanden erklärt hatte, die Gräfin nach Mornaye zu begleiten, faßte er plötzlich den Entschluß, nach dem Besuch bei der Marquise nicht nach Orléans zurückzufahren, sondern in Blois zu übernachten und dann am folgenden Tag nach Tours weiterzureisen. Sein Plan stand fest, er packte sein Bündel, beglich seine Hotelrechnung, und am verabredeten Donnerstag brach er auf, zusammen mit der alten Frau, die sich vor nun vierzehn Tagen zu seiner Führerin und Wärterin selber eingesetzt hatte.


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