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C

Die Zeit, bitte, die Zeit ... Welche Zeit ist's denn? ... Zeit, meine Herren, wir schließen! Polizeistunde! Zeit, meine Herren! ... Nimm jene Zeit des Jahres an mir wahr ... In der guten, der alten Sommerzeit ... Ich denk an Dich die ganze Zeit ... die ganze Zeit ... und die ganze Zeit ... Vor langer Zeit war's, daß die Welt begann ... Eben schellt's zum letztenmal; lauf, Junge, lauf; Du hast grad noch Zeit ... Es gibt Zeiten, in denen Du fröh-höh-lich wirst, und gibt Zeiten, die machen Dich trau-u-rig ... Erinnerst Du Dich noch an den Abend, als Du auf die Universität zurückkamst; es war in jener Zeit kurz nach Deines Bruders Tod, ich weiß noch, Du warst grad an jenem Abend zurückgekommen, ich kam über den Kampus, als ich Dich sah; Du kamst mir entgegen auf dem Pfad und hattest noch den Handkoffer bei Dir; es regnete, und wir beide blieben stehn und fingen an zu reden, wir stellten uns unter eine der Eichen dort, weil es so regnete; ich kann mich noch gut an die alte, nasse, glänzende Rinde des Baums erinnern, und zwar deshalb, weil Du Deine Hand ausstrecktest und Dich so gegen den Stamm lehntest, während Du mit mir sprachst, und ich mußte dauernd denken, wie groß Du wärst; aber freilich hast Du das selber sicher gar nicht so gemerkt, aber Dein Kopf war ganz da droben, weißt Du, und ich dachte, das wären sicher acht Fuß über dem Erdboden; und ich kann mich an das ganze Gespräch erinnern, das wir damals führten; es war jene Zeit nach dem Tod Deines Bruders, als Du gerade wieder zurückgekommen warst, ganz bestimmt war es damals, deswegen nämlich erinnere ich mich noch so genau dran ... Nun ist's aber höchste Zeit, daß die kleinen Buben ins Bett gehn ... Nun, hör mal, Sohn, ich werde Dir ganz genau sagen, wann es war: es war in jener Zeit, als Dein Papa jene Reise nach Californien machte; der Grund, weshalb ich das weiß, ist, daß ich gerade an jenem Morgen einen Brief von ihm erhalten hatte, in dem er mir aus Los Angeles schrieb, er hätte John Balch und den alten Professor Truman getroffen, und die beiden wären dort draußen ins Immobiliengeschäft gegangen und würden reich dabei und verdienten Geld wie Heu; das ist genau die Zeit, wann es war, Ende Februar 1906, und ich hatte grad seinen Brief zu Ende gelesen, als – nun, ja, wie ich Dir sage ... Garfield, Arthur Harrison und Hayes ... Zeit von meines Vaters Zeit, Leben von seinem Leben ... »A-h, Gott!« sagte er, »ich habe sie alle gekannt, und nun sind sie alle dahin. Ich bin der einzige, der noch übrig ist. Bei Gott, ich werde alt.« ... Im Jahr, als die Heuschrecken kamen, etwas, was in dem Jahr geschah, als die Heuschrecken kamen, zwei Stimmen, die ich vernahm in jenem Jahr ... Kind! Kind! Es scheint so viel Zeit vergangen seit dem Jahr, als die Heuschrecken kamen und alle Bäume kahl fraßen; seitdem ist so viel geschehn, und es scheint mir so lange her zu sein ...

»Um sich an die Zeit zu halten!« Eugen Gant zu seinem 12. Geburtstag am 3. Oktober 1912 von seinem Bruder Ben. Auf dem Berg droben und im Tal drunten, tief, tief unterm Hügel, Ben, kalt, kalt, kalt.

 

»Ces arbres –«

»Monsieur!« Das dünne, wächserne Gesicht des müden Galliers, berufsmäßig aufmerksam, die Augenbrauen überrascht hochgerückt über alten, müden Augen, die krumplige Kellnerserviette überm Arm.

»– Monsieur –?«

»Ces arbres –«, stammelte er und deutete hilflos auf die Bäume. »J'ai – j'ai – mais je les ai vu – avant – –«

»Monsieur?« Die Stirn wurde noch geduldiger, noch betretener, noch bereitwilliger; die Stimme war von Aufmerksamkeit ganz durchdrungen. »Vous dites, monsieur?«

»J'ai dit, que – ces arbres – je les ai vu – –«, brachte er hilflos hervor und murmelte dann beschämt mit einem Gesicht, das plötzlich mürrisch geworden war: »Ça ne fait rien. – L'addition, s'il vous plaît.«

Mit einem höflichen, leicht schmerzlichen Erstaunen sah der Kellner einen Augenblick den Gast an, lächelte, sich gleichsam entschuldigend, sagte mit einem leichten Achselzucken, einer Bewegung, die anzeigte, daß er sich geschlagen gäbe: »Bien, monsieur«, nahm die Zehnfrancsnote vom Tisch, zählte die aufeinandergestellten Branntweinuntersätze, gab Kleingeld heraus und ging weg. Der Gast blieb eine Weile sitzen und starrte die Bäume an.

Es war im Monat April, es war Nacht, er saß allein auf der Kaffeehausterrasse, und die kühle Luft war durchwoben von einem Gedüft, das weich, geheimnisvoll und erregend war, – einem Hauch wie von Zitronen, einer Süße, wie von unbekannten Blumen, – oder vielleicht war es nicht einmal dies, sondern bloß das Gespenst eines Parfüms, der erschütternde, brache und merkwürdig verführerische Duft der Provence.

Es war nachts auf einer Straße in der kleinen Stadt Arles, es war eine alte, vielbenutzte, ausgefahrene, eigenartig schmutzig wirkende Straße, heimgesucht von den Stämmen unheimlich großer, staubig aussehender Bäume. Er war nie zuvor hier gewesen, das Bild war fremd und heimsucherisch wie ein Traum, und doch war es ihm augenblicklich-inständig und unerträglich vertraut. Es war, dachte er, irgendwie wie das Bild einer Straße in einer Kleinstadt in den Südstaaten, in Süd-Karolina, dort war er einmal im Nachsommer gewesen, nun dachte er daran, und nun war er sicher, er würde den Laut vertrauter, unbekannter Stimmen hören, die Tritte von Vorübergehenden, das leise Rascheln welken Laubs. Und dann sah er wieder, wie fremd doch das Bild war, er sah den müden Kellner, der die Tische und Stühle für die Nacht zusammenstellte, er sah die Müdigkeit aus Licht und Leere im Café, und er sah das weiße, müde Licht auf der alten, staubigen Straße und die hohen, heimsucherischen Schäfte der großen Bäume, und wieder wurde er sich bewußt, daß er noch nie hiergewesen war.

Er stand auf, ging die paar Schritte und legte seine Hand auf die Rinde eines dieser alten Bäume; die Rinde war weiß und fühlte sich glatt an; sie fühlte sich irgendwie so an, wie sich die Rinde der Sykomoren daheim in Amerika anfühlte, – und doch: das war es nicht, was ihn mit dieser verstörenden Erinnerung heimsuchte. Er empfand die unerträgliche Gewißheit, daß er diesen Ort, dieses Bild, diese großen, breitkronigen Bäume zuvor gesehen hatte, sogar von demselben Platz aus gesehen hatte, wo er nun saß – aber wann, wann, wann?

Und plötzlich, mit einem Erkennensschauder, der ihm durchs Hirn zuckte wie ein elektrischer Funke, erkannte er, daß er dieselben Bäume betrachtete, die van Gogh in seinem Bild von den Straßenarbeitern in Arles gemalt hatte, daß die Szene dieselbe war, daß er auf der Stelle saß, wo damals der Maler gesessen hatte. Und er machte nun die Beobachtung, daß die Bäume hohe, gerade, symmetrische Stämme hatten, und er erinnerte sich, daß die Bäume, die Vincent gemalt hatte, große, sehnige Stämme hatten, Stämme, die sich krümmten und verrenkten wie Geschöpfe in einem Qualtraum, – und doch waren Vincents Stämme irgendwie wahrer als die Wahrheit, wirklicher als die Wirklichkeit. Und die großen, wie Rebholz gezwirbelten Stämme dieser irrsinnigen Bäume hatten sich ihm so ins Herz gewunden und dort Wurzel gefaßt, daß er sie nun nicht vergessen und das Bild nicht anders sehen konnte, als van Gogh es gemalt hatte.

 

Als er aufbrach, war der Kellner noch dabei, Tische und Stühle zusammenzurücken, und das weiße, ruhige Licht aus dem Café fiel wie eine müde Stille auf die staubige Straße, auf der er davonging, heimgesucht von unergründlichen Erinnerungen an die Heimat, eine Erregung im Herzen, die er nicht aussagen konnte.

Träume und Visionen überschwärmten nun seinen Schlaf; von diesen Träumen und Visionen läßt sich nur sagen, daß sie vom Zeitsinn verhängnisvoll heimgesucht waren; und in all diesen Träumen und Visionen übte sein Bewußtsein scheinbar die gleiche vollkommene Kontrolle aus, die es bei allen Vorgängen des bewußten Sich-Erinnerns ausübte. Er schlief und wußte, er schliefe, und sah schlafend die Schlafwelt in ihrer ganzen Weiträumigkeit um sich; er träumte und wußte, er träume, und wie ein Traumbeschwörer zog er aus freien Stücken die fremden dunklen Fische seiner Wahrbildekraft aus den dunklen Tiefen und den blauen Unermeßlichkeiten des Schlafs herauf.

Manchmal kamen sie herauf mit dem elfischen Geflock eines Rauhreiflichts, manchmal kamen sie herauf wie Magie und die Verheißung unsterblicher Freude, kamen sie herauf mit Sieg und Gesang und einem Triumphgedröhn in seinem Blut, und wiederum empfand er die seltsame, todlose Lust des Reisens: – wiederum war er Passagier auf großen Schiffen, ging er frohlockend auf breiten, gescheuerten Decks auf und ab, wiederum roch er die heißen, beteerten Dächer mächtiger, häßlicher Piere, wiederum roch er den spermatischen Meeresspülicht im Hafen, die Öllachen auf dem Wasser, den scharfen, herben, erregenden Rauch der geschäftigen kleinen Schleppboote, die alten, abgetretenen, von Sonne getränkten Planken und die Ladegüter auf den Pieren mit ihren tausend seltnen, drängerischen Würzduften. Wiederum empfand er die Gold- und Saphirlieblichkeit eines Samstags im Mai, trank er die Herrlichkeit der Erde in sein Herz, hörte er durch die lichtige, lyrische Luft das schwere scheppernde Sirenengeröhr der Riesendampfer, das glorreich von Frühling, Neulanden und Abreise rief. Wiederum sah er zehntausend Gesichter, zehntausend Menschenmienen, auf denen sich Kummer und Freude seltsam begegneten, zehntausend Leute, die am offnen Pier vorüberdrängten, und wiederum sah er die funkelnden Wasser der meerumgürteten Weltstadt, sah er die Wellen, die sich weiß am Vordersteven von hundert Booten brachen und mit tausendmal tausend Flimmerlichtern blinkten. Wiederum sah er die große, mauergefaßte Klippe, das von Häusern überfüllte Eiland, die fabulösen Zinken und Wälle der Weltstadt, zart wie das getönte Licht, das sie umhuschte, und wiederum sah er dies Bild entgleiten, sah er es Stück für Stück entschwinden am Samstag um die Mittagsstunde, als eines nach dem andern, in einer Reihe, die großen, weißen, stolzbrüstigen Schiffe ausfuhren, die prächtigen Dampfer mit dem scharfzügigen Bug, dem Stockwerkaufbau der Verdecke und ihrer Musik aus Macht und Geschwindigkeit ... und nun fahren sie aus: wie am Zügel zurückgerissene Rosse sind sie, wie königliche Rosse, die tänzeln und sich heißblütig aufbäumen möchten, und nun brechen sie durch den mächtigen Hafen, biegen mit der Nase durch die Engen, fahren langsame Halbbogen und machen einen kurzen Halt am Pilotenboot, und dann, wie Renner, die die Schranke hinter sich haben, preschen sie los, jagen sie entlassen davon, und die Maschinen beben vom mächtigen Schlag, und die Schiffe werden dem Meer übergeben, der Einsamkeit und der ihnen eignen Herrlichkeit wiederum.

Und wiederum ging er auf Deck, stand er allein auf Deck und sah, wie hinterm funkelnden Tanz der Wellen die glitzernde, ins Meer gereckte Stadt verschwand, wie der Sandstreif der Küste unterging, spürte er die unglaubliche Gold- und Saphirherrlichkeit des Tags, roch er die salzige, meeresträchtige Luft, sah er die freudvollen, frohlockenden Gesichter der Passagiere auf Deck, ihre fragend verwunderten, hoffnungsvoll grübelnden Mienen, als sie in die Gesichter von Männern und Frauen blickten, die nun ihre Mitgefangenen waren in der Einsamkeit der Wasser, auf dem herrlichen Inselgefängnis des Schiffes. Und wiederum sah er die Gesichter der schönen Frauen, sah er die Lichter der Liebe und Leidenschaft in ihren Augen, und wiederum spürte er den schwerschwappenden, tiefenlosen Wellengang und jenes unvergeßliche Gefühl von der unergründlichen Gewalt des Meers unter einem Schiff, und ein wilder Schrei entriß sich seiner Kehle, und wie ein todloser Sang, wie eine todlose Sicherheit wallten tausend unaussprechliche Gefühle in ihm auf, und er empfand die Lust der Reise und dachte an weiße Küsten und blinkende Häfen und das unheimlich krächzende Möwengeschrei und an den lieben grünen Wohnort der Erde wiederum und an fremde goldne Städte, starke Weine und köstliches Essen und an Frauen, Liebe und bernsteinfarbne Schenkel in goldnem Heu und an Entdeckungen und Neulande.

Aber gerade so wie diese Visionen der Verzückung und Freude heraufdrangen aus der Meerestiefe des Schlafs, so, auf denselben unbedingten Machtspruch, auf denselben ruhigen Befehl eines herrscherischen Willens kamen auch Visionen von einer tiefenlosen Scham, von einer gesichtslosen, entsetzlichen Scheußlichkeit, von einem unerklärlichen und nirgends zu fassenden Verderben. Sie suchten sein Bewußtsein heim wie Urteilssprüche von untilgbarer Schande und unabwendbarem Verfall. Er lag von einem schlimmen Bann festgehalten in seinem Bett, in einer Trance, in einer gräßlichen Hypnose, in der er alles zulassen mußte, weil seine Widerstandskräfte aufgehoben waren, er lag da wie ein Geschöpf, das eine Schlange mit dumpfen, fesselnden Giftaugen beblickt.

Er ging unverwandt durch eine nackte Verdammnislandschaft unter einem nackten Verdammnishimmel dahin, ein Verbannter mitten in einer planetarischen Leere, die ganz wie seine Scham und Schuld weder in der Ordnung lebendiger, noch in der Ordnung toter Dinge beraumt war, einer Leere, in der es weder den rächenden Blitz noch die Gnade des Begräbnisses gab, in der es weder Schatten noch Schutz, weder Hügel noch Höhle, weder Biegung noch Krümme und auch nicht einen einzigen Baum gab, in der – Erde, Luft, Himmel und grenzenloser Horizont – es überhaupt nur ein ungeheures, nacktes Auge gab, ein unerforschliches Anklägerauge, vor dem kein Entrinnen möglich war, und das die nackte Seele in der unergründlichen Tiefe ihrer Scham völlig umfing.

Und dann verblaßte diese Vision, und plötzlich, mit der brückenlosen Unmittelbarkeit, mit der im Traum eins ins andere übergeht, befand er sich in der steilen Engschlucht einer Großstadtstraße und schritt unverwandt voran auf der endlosen Asphaltbahn, wo es kein Gesicht gab außer seinem eignen, wo kein Tritt hallte, außer seinem eignen, wo kein Auge war und kein Fenster, wo es keine Tür gab, durch die er hätte eintreten können.

Er dachte dann, er ginge durch die harsche, unaufhörliche Fortsetzung einer New-Yorker ›Braunsteinstraße‹. Diese Straßen nämlich – es sind Straßen aus den achtziger Jahren, von denen große, von Neubauten unterbrochne Stücke heute noch stehn und daran erinnern, daß damals der weitaus größte Teil der Stadt so aussah, – diese Straßen mit ihren aus rötelbraunem Sandstein, dem ›brownstone‹, gebauten Häuserfassaden können ein starrsüchtiges Entsetzen auslösen, sie können visionär unwirklich wirken selbst auf einen Menschen, der sie wacher Sinne betrachtete, einen Ortsfremden etwa, der, gesund an Körper und Geist, sie im vollen, ratsamen Lichte des Mittags sähe, besonders aber auf einen sinnlos Betrunkenen, der um eine leere, verlassene Nachtstunde dorthin verschlagen würde. Diese Straßen machen einem den Eindruck, als hätte ein großer Maniak der Architektur sich das erste Braunsteinhaus ausgedacht, es als ein häßliches, harschkantiges Muster hingestellt, und dann wäre mit verrückter, maßloser Versessenheit, in idiotischer Monotonie und ohne jegliche Abwandlung das Muster in einer Unendlichkeit grenzenloser Wiederholungen nachgebaut worden.

Und immerdar ging er diese Straße entlang, ging er unter dem braunen, schicksäligen Licht, das auf ihn fiel. Er ging diese Straße entlang und suchte dort ein Haus, das sein eignes Haus wäre, suchte eine Tür, die er kenne, durch die er eintreten müsse, suchte einen Menschen, der in einem Haus auf ihn wartete, suchte die erbarmensvolle dunkle Mauer, die erbarmensvolle dunkle Tür, die ihn bergen und schützen sollten vor dem unermeßlichen und nackten Auge der Scham, das ihn dauernd beblickte. Immerdar ging er diese Straße entlang und suchte die schnöden, nichts verratenden Häuserfronten ab nach dem Haus, das er kannte und vergessen hatte, immerdar strich er an den endlosen, sich nie verwandelnden Häuserfronten entlang, und nie fand er das Haus, und schließlich wurde er ein ungeheures Gezisch und Getuschel gewahr, eine unheimliche, gegen ihn gerichtete Verschwörung, ein unterdrücktes, unzüchtiges Gelächter und den Hohn von tausend bösen Augen, die ihn stumm aus diesen öden Häuserfronten ansahen, die er selber aber weder finden noch sehen konnte; und immerdar ging er allein auf dieser Straße und hörte das ungeheure Gewisper und Gelächter und war umfangen von einer bodenlos tiefen, wortlosen Scham und konnte nie das Haus finden, das er verloren, nie die Tür, die er vergessen hatte.

 

Er saß an einem Tisch auf der Terrasse vor einem Café auf der Cannebière in Marseilles, als er die anderen sah. Plötzlich hatte er über dem lebhaft-schnellen Stimmengeschwirr der Kaffeehausgäste Starwicks eigenartig timbrierte Stimme gehört, er hatte sich umgedreht und – da sah er die anderen, die keine vier Meter weit weg an einem Tisch saßen. Starwick hatte sich gerade an Elinor gewandt und ihr etwas gesagt in jenem Ton des gewichtigen, aber ganz beiläufigen Ernsts, mit dem er öfters drollige Bemerkungen einzuleiten pflegte. Dann konnte er sehn, wie Starwicks rötliches Gesicht im Anschwall des Ergötzens dunkelrot ward, und dann sah er, wie Elinors schwere Schultern zu beben begannen, hörte er, wie sie mit einem schrillen, erstaunten, aufbegehrenden Kreischlaut lachte. Ann, dunkel, schweigsam und mürrisch bedächtig, saß dabei und hörte zu; der große Hund hockte neben ihr am Boden, sie hatte ihm die lange, schlanke Hand aufs Halsband gelegt; und plötzlich hellte sich ihr dunkles mürrisches Gesicht auf, sie lächelte das seltene, strahlende Lächeln, das ihren Zügen die augenblicklich-inständige Gestalt seiner adligen Schönheit verlieh.

Vor ihm begann die Welt zu wanken und zu bersten, als würde sie in Stücke gesprengt; ihm war, als wäre alles Leben jäh aus ihm herausgeblasen worden, und er saß da und starrte die andern an, starrte sie an und war blind, taub, hohl, leer wie eine Hülse seiner selbst und ward sich nur einer einzigen Regung bewußt, einer grauenhaften Angst, eins von den andern könne sich umdrehn und ihn bemerken, und einer ebenso grauenhaften Angst, daß das nicht eintreten könne. Sie drehten sich nicht um, sie bemerkten ihn nicht. Sie waren vollkommen voneinander in Anspruch genommen, ihm schien, sie hätten ihn so ganz und gar vergessen, als ob sie ihn nie gekannt hätten, und plötzlich verspürte er etwas wie gräßliche Dolchstöße: – der Anblick ihrer freimütigen Heiterkeit kränkte ihn, und weil sie so sieghaft sorglos lachten, litt er eine bitter verzweifelte Seelennot. Und dann wurde er sich eines einzigen, blinden, überwältigenden Drangs bewußt: – eines Drangs, zu entkommen, unbemerkt von den andern zu entkommen, irgendwohin, ganz gleich wohin zu entkommen, sofern es nur möglich wäre, vor der Sterbensqual einer Begegnung, vor der nackten Scham der Offenbarung zu fliehn. Er gab einem Kellner ein Zeichen, zahlte und machte sich schnell zwischen den Tischen hindurch davon in die lärmende Menge, die ständig vor der Terrasse auf dem Bürgersteig vorbeiströmte. Er blickte blindlings weg von den andern und schob mit großen Schritten davon; ihm schien, er könne Starwicks Stimme, Starwicks Erkennungsruf über dem tausendfach durcheinanderschwirrenden Lärm der Menge hören, und wie ein von Teufeln Verfolgter blickte er blindlings unter sich und floh.

 

Er hatte in einer inneren Verfassung gelebt, die sich vom Zustand vollkommener Geistesgestörtheit hauptsächlich dadurch unterschied, daß er gewissermaßen stumm verstehend aus der ohnmächtigen Entrücktheit eines Zuschauers in einem Traum den Gang der Zeit und sein eignes Tun und Lassen überblickte. Nun, nach dieser Begegnung mit seinen drei verlorenen Freunden, war ihm auch dieser Bewertungssinn genommen. In den Folgewochen war er in einem Zauberbann von der Zeit gefangen, in dem sein Leben gleichsam in einem bösen Traum geschah, und später war er nicht mehr imstande, sich zurückzurufen, was er in jener Spanne getan hatte, wie er gelebt hatte, wo er hingegangen war; es war, als wäre er einer starken Hypnose vollkommen unterlegen. Er ward sich der Geschehnisse nur ganz verschwommen und unklar bewußt, er verspürte ein taubes Ahnen von einer gräßlichen Katastrophe, empfand etwa, wie ein Ertrinkender empfinden mag oder ein Patient in der Anästhesie, der sich unterm Messer des Chirurgen zu Tode blutet. Er ward sich blind bewußt, daß ihm die zentrale Führung und Herrschaft über sein Leben und seinen Verstand zerborsten war, daß er in Kreiswirbeln wie ein Flugzeug, bei dem die Steuerung zerschmettert ist, abstürze, – und daß er nichts zu seiner Rettung tun, daß er die Kontrolle nicht wiedererlangen, daß er nicht wieder »in Ordnung« kommen könne.

Er hatte den Zeitsinn restlos verloren, und die Bewußtwerdung dieser Tatsache war es, die ihn mit taubem Entsetzen erfüllte. Er kam abends auf sein Zimmer zurück, sagte sich, daß er nun arbeiten, dann schlafen, dann morgens aufstehn und weiterarbeiten müsse, und plötzlich war es hell in seinem Zimmer, die Straße unter seinem Fenster war laut von der lärmenden Geschäftigkeit der Mittagsstunde, und er saß an seinem Tisch und hatte keine Kenntnis davon, wie die Zeit vergangen war.

Ständig suchte ihn nun das Gefühl heim, daß seine drei verlorenen Freunde ihm nah, ihm überwältigend nahe wären. Dieses Gefühl wurde in der Tat so mächtig, daß ihm manchmal schien, Starwick, Elinor und Ann wären in lebendiger Gegenwart unsichtbar mit ihm, neben ihm. Diese Überzeugung wurde zur Besessenheit, er glaubte unerschütterlich fest, daß sie da wären, und dies Wissen um ihre Gegenwart schien seinem seltsamen, finsterlichen Leben in der bösen, mysteriösen Stadt einen unnennbaren Zauber zu verleihen, schien die Luft, die er atmete, mit unerträglichem Schmerz, unerträglicher Lust zu durchdringen. Sein ganzes Leben – Herz, Gemüt und Geist, jeder Nerv, jeder Sinn, jede Sehne seines Körpers – war nun eine leidenschaftliche und unermüdliche Suche nach den andern. Wenn er schlief, brachte ihm der Schlaf nur eine unglaubliche Verzückung, einen unerträglichen Schmerz.

Wenn er auf den Straßen ging, ging er nun bloß mit dem Gedanken, die andern zu finden. Ihm schien, jeder Schritt brächte ihn den andern näher, ihm schien, an jeder Straßenecke, um die er bog, würde er den andern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehn, – und dieses Wissen lähmte ihn am ganzen Leibe vor Erregung, Freude und Schrecken.

 

Die zwei Priester hatten fertiggegessen, sie hatten Täßchen mit schwarzem Mokka und Gläschen mit grüner Chartreuse vor sich stehn und genossen wohlig-behaglich zurückgelehnt den unbegreiflichen Frieden. Die Priester, beide Franziskaner, waren unterwegs nach Rom zur Feier des Heiligen Jahres und hatten sich augenscheinlich gut vorgesehen für die Reise. Aus einem beschlagenen Silberkübel neben ihrem Tisch ragten schwimmend die Goldhälse zweier leerer Champagnerflaschen und bezeugten, daß beim Mahl nichts gefehlt hatte. Ein Kellner kam mit einem Corona-Kistchen und bot allerergebenst an; schläfrig zufrieden griffen die Priester zu, jeder wählte sich eine Zigarre, biß das eine Ende ab und brachte mit einem leisen Grunzlaut das andre Ende an die Flamme, die ihm der Kellner reichte; dann ließen sich die beiden wieder langsam ins Wandpolster zurücksinken und starrten ein paar Minuten lang schweigsam-versonnen durch die blaue, duftige, traumerfüllte Gemächlichkeit des Rauchs die Decke an.

Es war ein schöner Abend gegen Ende Mai, und die zwei Priester hatten beste Gelegenheit, das festzustellen; sie hatten den ersten Tisch rechter Hand vom Eingang, und da um diese Jahreszeit die Schauseite des Cafés türlos und offen war, konnten sie – über die leere Terrasse mit den fröhlich-bunt gestrichnen Tischchen und Stühlen hinaus – auf die Avenue de la Victoire sehen, die Hauptverkehrsader von Nizza. Auf der Terrasse saß niemand, und die Straße war sehr still; dann und wann glitt blitzend ein Auto vorbei, oder eine alte Mähre kam angeklappert vor einer abgerissen aussehenden Droschke, deren Kutscher auf Fahrkunden Jagd machte. Die Straßenbäume standen schon in grüner Laubesfülle, die Luft roch süß nach Bäumen, Erde, Gärten und unbekannten Blumen. Von Zeit zu Zeit kamen Leute vorüber, sie gingen langsam, lasch, mit der selig-verträumten Schlendrigkeit, zu der so ein schöner Abend alle Welt zu verleiten scheint, und manchmal waren es Liebesleute, und die Pärchen hielten sich eng umschlungen, und die Frauen gingen mit den Bewegungen des wollustschlaffen Befriedigtseins, so, als ob sie gerade von der Begattung kämen, aber vermutlich war es bloß, daß sie das Sinnenmysterium, die Schönheit und den Duft dieses Abends verspürten und empfanden, den Geruch von Bäumen, Erde und Blumen, der den ganzen Kontinent der Dunkelheit durchdrang mit Schauern und Ahnungen von fast fühlbarer Lust, von unbekannten, nah bevorstehenden Freuden.

Es war also ein wunderbar verführerisches Bild da draußen vor dem Café und das Bild wurde erregender, anheimelnder und inniger, weil ihm so ein schmaler Rahmen gestellt war, durch den das Leben flüchtig hindurchging: – muntrer Hufklang, die plötzliche, beiläufige Nähe und Lautheit der Stimmen von Vorübergehenden, ... dann das Matterwerden und einsame Verhallen dieser trauten Laute, im Dunkeln strudelnd ein leises, lüsternes Frauenlachen, das Ersterben des Hufklangs in der Ferne, ... dann wieder Stille.

Den zwei Priestern entging nichts an dieser ruhigen Szene; sie tranken sie in sich hinein, so wie Männer, die glänzend gespeist haben, eine solche Szene in sich hineintrinken, so wie Männer, die vollauf gesättigt beim Rauch guten Tabaks und dem Duft eines alten Likörs ein ungeheures Wohlgefallen am Leben finden.

Sie waren ein sonderbares Paar, unvergeßlich für jeden, der sie einmal zusammen gesehen hatte. Der eine war ein mächtiger Baum und Bauch von einem Mann, ein Mammutgeschöpf aus dem Rabelais; der große Mond seines Angesichts glühte von übermäßigem Essen und Trinken; sein fetter Nacken und das dreischichtige Kinn quollen über den Halsbund der Kutte, und man hatte den Eindruck, das ganze Gewand wäre von der schmalzigen Schweißfeiste seines Trägers befleckt und getränkt. Alles an diesem Mann war von schreiender, krasser Offenheit, sein Wesen schien restlos durchdrungen von Frohlaune und Heiterkeit, von einem nicht zu überbietenden, alles umfassenden, gutartigen Humor, den keine Macht der Welt unterdrücken könne. Das große rote Gesicht schwoll an und wurde dunkelblaurot von würgenden Lachschwällen, der ganze große Torso – Schultern, Arme, Brust und der gewaltig gewölbte Schmerbauch – bebte und bubberte wie ein Schweinskopf in Gelee. Der Mann scherte sich so wenig um das Urteil der sittenrichterlich tadelnden Welt, daß der Anblick eines mißbilligenden oder unbeifälligen Gesichts genügte, ihn in einen neuen, vulkanischen Lachanfall zu versetzen. Es war kein Hehl an ihm, es war sogar eine gewisse, berghaft erhabene, gutmütige Verachtung vor der Meinung der Welt in seinem Gehaben, und gerade aus diesem Grund wirkte sein ohnehin grotesk-komisches Zusammensein mit dem andern Priester noch grotesker und komischer, und zwar war das eine Komik, für die dieses große, zeitgenössische Ebenbild des Friar John of the Funnels nicht blind war, eine Komik, die vielmehr ganz und gar von ihm ausgekostet wurde. Hätte man versucht, als Gegensatz zu diesem großen, vor Lachen brüllenden Berg von einem Menschen, zu diesem glühenden Vollmondgesicht sich Gestalt und Miene eines vorsichtig-umsichtigen Heuchlers vorzustellen, man hätte die Wirklichkeit bestimmt nicht erreicht. Der zweite Priester nämlich war ein Männchen mit einem grauen, öden, mägerlichen und unglaublich durchtriebenen Gesicht, und auf seinen Mienen führten die angeborene Behutsamkeit und die Angst vor der Bloßstellung dauernd einen offenen Krieg gegen die geriss'ne Gier und die sinnliche Lüsternheit seines Wesens, die ihm ebenfalls mit unzüchtiger Deutlichkeit in den Zügen geschrieben stand. Dieser quälende Kampf zwischen Gelüst und Vorsicht war gerade nun komisch offenbar; das Gesicht des Burschen verzog sich vor grotesker Geilheit, während die verstohlenen Mausaugen huschend hin und her gingen, um festzustellen, ob die nackte Schaustellung seiner Leidenschaft bemerkt würde oder nicht. Die Ursache für diesen Seelenkampf, dessen Anblick den großen Priester in ein dröhnendes, baucherschütterndes Lachen versetzte, war nicht schwer zu entdecken. Am Nebentisch nämlich saßen zwei hübsche junge Huren, die den beiden heiligen Männern schon den ganzen Abend Augen gemacht und zugelächelt hatten; die berstenden Lachschwälle des großen Priesters hatten die Dämchen ermutigt, und nun war das betörend-verführerische Getu nackt, offen und herausfordernd geworden. Dem kleinen Burschen stand der kalte graue Schweiß der Angst und der Begierde auf der Stirn; er fürchtete sich, die beiden Weiber anzugucken, und konnte doch kaum die Augen von ihnen lassen, und trotz seiner entsetzlichen Angst, seine Führung könne bemerkt werden, war er außerstand, die Fiebergier der Geilheit, die ihn geradezu berückte, zu verhehlen.

Und so nahm denn die unzüchtige Komödie ihren Verlauf. Die beiden Frauen, kühngemacht durch das Lachen des großen Priesters, gingen vom neckischen Flirt zu Vorschlägen ernsterer Natur über, und schließlich kam zwischen ihnen und dem großen fetten Priester schnell, verbindlich und zuverlässig eine Verabredung zustande. Eine von ihnen sprach ihn mit leiser, heiserer Stimme an; ohne sie anzublicken, neigte er das große Vollmondgesicht ein wenig und antwortete. Ein paar Augenblicke später standen die beiden Frauen mit einer sorgfältig ausgearbeiteten Zufälligkeit auf, die Priester zahlten, die Frauen schlenderten hinaus, bogen nach links ab, gingen hinüber auf die andre Straßenseite, bogen in eine stille Nebenstraße, wo sie nach ein paar Schritten schon im Schatten eines Baums stehenblieben und warteten.

Der große Priester hatte bereits die Rechnung verlangt; nun zahlte er, zahlte auch für die Zehr der beiden Frauen; er gab dem Kellner ein stattliches Trinkgeld. Dann stand er mit einem mächtigen Grunzen auf, bewegte sich in erhabener Dickleibigkeit bedächtig schlenkernd auf die Straße hinaus, und der schlaue, verängstigte Kleine kam dicht hinter ihm drein. Vor dem Café blieb der Große bedächtig stehn und sah sich nach beiden Seiten mit einem großmächtigen und gewissermaßen umrundenden Wohlwollen um; dann ging er nach links, in der Richtung, die die beiden Frauen eingeschlagen hatten; er ging ihnen gemächlich und gelassen nach. Der Kleine trottete neben ihm her wie ein furchtsames Hündlein neben einem Elefanten; auf Schritt und Tritt und in jeder Bewegung ward die unterschiedliche Wesensart der beiden grotesk und mächtig offenbar. Mit gemächlicher Majestät setzte der Koloß Fuß für Fuß und schwang dabei den großen Bauch ein wenig nach rechts, ein wenig nach links, ganz so, wie ein Elefant beim Gehn den Rüssel schwingt, und diesem großartigen Kerl, das sah jeder, war es vollkommen gleichgültig, was die Welt sagte oder dächte. Das Männchen trottete neben ihm her in einer Verfassung, die vom Zustand des Terrors nicht sehr verschieden war; das Wesen gab sich verzweifelte Müh, gelassen und ungespannt auszusehn, aber die verstohlenen Aufpasseraugen huschten nach rechts und links, und unterm Saum der Kutte schlapperten die Füße in den Sandalen und wurden so komisch listig aufgesetzt, daß sie die ganze Wesensart und Gemütsstimmung des Männchens preisgaben. An der Ecke blieb der Große wieder bedächtig stehen, drehte sich nach rechts, sah in die Seitenstraße, erspähte die hellen Frauenkleider im Schatten der Bäume und ging gemächlich weiter, auf die Mädchen zu. Der kleine Schlaue trottete nebenher, gesenkten Hauptes, verstohlen nach rechts und links sichernd; auf und ab gingen die in den Sandalen schlappernden Füße. Die beiden traten zu den Mädchen, und dort, vom Schatten verdunkelt, standen sie eine kleine Weile und sprachen leis. Dann nahm jedes der Mädchen einen der Priester am Arm, und die vier gingen zusammen fort, die Straße hinunter, und waren bald in der laubigen Dunkelheit und im Geheimnis der Nacht verloren.

Der Kellner, der die Priester bedient hatte, stand am Pfosten der ausgehängten Tür. Er hatte das Stelldichein beobachtet. Nun drehte er sich um, warf dem jungen Mann einen grellen Blick zu und bemerkte ruhig: »C'est très joli, eh? ... Moi«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu, »je n'ai pas le sentiment religieux.« Und nachdem er – ohne Groll oder Überraschung – diese vernichtende Feststellung gemacht hatte, war die ganze Angelegenheit für ihn erledigt; er ging an den Tisch, an dem die Priester gesessen hatten, stellte das Geschirr zusammen und wischte die Platte ab.

In der Nachbarschaft strudelte plötzlich ein leises, üppiges, lüsternes Frauenlachen auf; Huf schlage verhallten, dann war Stille in der Runde – der überwältigende Duft der Erde, der erhabene Geheimnisschauer der Nacht und das Gefühl eines unerträglichen Verlangens, nah und fühlbar und schön und niemals doch zu fassen oder zu finden; – und alle diese Dinge brachten mit ihrer ungeheuren, heimsuchenden Vertrautheit im Bewußtsein tausend an- und abklingende, unausgesprochene Erinnerungen ans Zeitliche herauf, ein Empfinden von bitterem Verlust, von wilder Freude und von Schmerz – das Andenken an eine Tür, die zuging, einen Wolkenschatten, der auf immer vergangen war. Er dachte heim.

 

Unter den Träumen, die seinen Wachschlaf immer wieder heimsuchten in jenen Wochen, als er das fremde, lebendige Gesicht des grünen Frühlings schaute, als er herzinnig am Pulsschlag der Zeit lag, war einer, der ihm später stets im Gedächtnis blieb.

Er schritt eine lange, sandige Küste entlang neben einer beschwichtigten, stillflutenden See. Die Wogen brachen sich ruhig-gleichmäßig am Ufer, sie rollten flach und lang ans Gestade und verzischten auf dem Sand mit kleinen hurtigen Strudeln aus Wasser und Schaum. Brauner, zopfiger Seetang lag regelrecht wie Bänder auf dem Strand, der feste braune Sand federte lebhaft unterm Tritt, ein warmer, kräftiger Wind blies. Und er schritt tiefatmend aus und zog frohlockend den Geruch des Meers und des warmen, feuchten, duftenden Strands in seine Lungen.

Er sah dieses Gestade nicht mit den Augen des Wiedererkennens, das war kein Ort, den er je besucht hatte, aber trotzdem verspürte er eine augenblickliche, vollkommne Vertrautheit, so, als wäre ihm alles hier dennoch von jeher bekannt. Hinter sich hörte er den wütigen Hufrhythmus angespannter Rosse auf dem festen, beschwingenden Sand, ein gleichmäßiges Getrappel, das zusammen mit dem harten Gerassel hölzerner Räder in der Ferne verhallte. Er wußte, er habe soeben ein Schiff verlassen und lebe in der Frühantike, und er wußte es freudig und verwundert und unüberrascht und mit einem Erregungsschauer, so, als hätte er ein Stets-Gekanntes und Auf-immer-Verlornes wiederentdeckt.

Es war eine klassische Landschaft; sie war aber ganz verschieden von jedem Vorstellungsbild, das er sich je von klassischen Landschaften gemacht hatte. In der Schau und beim Lesen war ihm jene Erde stets in wenigen scharfen und strahlenden Farben erschienen als ein Lebensgefüge, das glühend und Wohlgestalt in seinen fehllosen Verhältnissen dastand wie ein antiker Tempel, und jene klassische Welt samt ihren Fabeln, Mythen und Legenden war von der Welt, in der er lebte, abgelöst, war ihm völlig entrückt gewesen. Die Erde aber, die er nun beging, war völlig durchdrungen, getränkt und erfüllt von den lebendigen Tönungen und Wettern des Daseins.

Die Welt des Homer war die Welt des ersten Lichts, des Sonnenlichts und des Morgens; weindunkel war das Meer, in Gold- und Saphirklarheit fiel das Licht auf die Mauern Trojas, in klarer, tiefenloser Reinheit strahlte das Licht aus den Augen der Helena, die so falsch, so verhängnisvoll und so unschuldig verderbt war wie nur je eine Frau, die Verwirrung auf Erden stiftete. Das Licht, das auf Nausikaa und ihre Mägde fiel, war golden und kristallen wie der Fluß und klar und rein wie die Glieder der badenden Mädchen und strahlend wie die Freude und der Morgen auf Erden. Und selbst die Lichter der Rache und die Flackerschatten des Wahns, die auf den von den Furien getriebenen Orest fielen, waren schicksalhaft wie das Blut, unerbittlich wie der Gang einer antiken Tragödie, unabgetönt wie das Verhängnis.

Und wenn er sich ein Bild von der späteren Epoche gemacht hatte – Bilder von dem Athen der geschichtlichen Laufte, dem Athen des Perikles und des Platon und der Zeit der Kriege mit Sparta – immer erstanden ihm die geschichtlichen Orte und Auftritte gebadet in diesem strahlenden Licht, in diesem Wetter der Vollkommenheit. Er wußte zwar, daß diese Athener aus lebendigem, atmendem Fleisch gemacht waren, daß sie geirrt hatten und unvollkommen gewesen waren wie andere Sterbliche, aber wenn er versuchte, sich ein Elendsviertel in Athen vorzustellen, – Leute mit faulen Zähnen, schlechter Haut und trüber, fleckiger Gesichtsfarbe, Krankheit, Dreck und Gräßlichkeiten, ja, auch nur einen einzigen von den tausendmal tausend gemeinen Augenblicken aus Schweiß und Staub, aus Verdruß und Niedergeschlagenheit – dann vermochte er es nicht, denn selbst Kummer, Schmerz und die Leidigkeiten des Daseins nahmen die Farbe klassischer Vollkommenheit an, und das peinigend qualhafte Allerweltsweben samt all dem, was darin häßlich, nichtig und abstoßend war, rückte ein in die logische Bezogenheit planhaften Fugs, ordnenden Geschicks.

Das Licht also, das auf diese klassische Welt fiel, war ein Licht von Gold und Saphir und Gesang, oder es war das Licht des unentrinnbaren Verhängnisses, ... nun aber beging er diesen Strand in klassischer Zeit, und nichts an dieser Erde war so, wie er es sich in Bildern vorgestellt hatte, und doch war ihm alles so vertraut, als hätte er es schon immer gekannt.

Da war kein Gold und kein Saphir in der Luft; die Luft war warm und schwül, war geladen mit dem Omen einer beunruhigenden, unbeständigen und frohlockenden Drohung, war befrachtet von schwefelgelber Sturmahnung, war schwanger von Geheimnis und Entdeckung, war bewegt von hundert Elementen und Wettern, Verstörtheiten und Stimmungen der Menschenseele, war trächtig mit tausend brutwarmen, sämigen Gerüchen von Land und Meer, die einem wonnevoll und prophetisch in die Eingeweide drangen.

Und auch das Meer war nicht lyrisch von Gold und Bläue oder weindunkel in einmütiger Harmonie; das Meer war düster und schwül wie der darüberhängende Himmel, das Meer war trübgrün und milchig-dick, wo es sich anwogend am Ufer brach, das Meer trug dieselben unbegreiflichen Wahrsagungen wie die Erde und die Luft.

Er wußte keinen Grund für sein Hiersein, und dennoch wußte er jenseits allen Zweifels, daß sein Hiersein sinnvoll wäre, daß jemand ihn hier erwarte und daß die größte Freude, der höchste, je gekannte Triumph ihm bei dieser Begegnung bevorstünde.


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