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LXXXVI

Als sie fort waren, ging Eugen an Anns Tür und klopfte. Sie zeigte keinerlei Überraschung, als sie ihn sah; sie trat einfach zur Seite, ließ ihn hereinkommen, machte die Tür hinter ihm zu. Dann ging sie zurück zu ihrem Sessel vorm Kamin, setzte sich, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Oberkörper nach vorn gelehnt, und starrte eine geraume Weile stumm und düster in die knatternden Flammen.

»Wo sind die andern«, fragte sie dann. »Ausgegangen?«

»Ja«, sagte er. »'n Spaziergang machen. Wollen in 'ner Stunde zurück sein.«

»So«, sagte sie zynisch, »und da dachten sie wohl, es wär gut für mich, wenn Du und ich 'ne Zeitlang allein wären. Ich bin eine so großartige Person, daß unbedingt etwas für mich getan werden muß. Mein Gott«, erklärte sie bitter, »ich werde es müd, daß mir Leute immer Gutes tun wollen. Ich bin's dicksatt!«

Eugen erwiderte nichts, auch sie schwieg. Den großen Oberkörper aufgestützt, saß sie nach vorn gelehnt da und starrte unentwegt in die Flammen.

Er hatte sich in einen andern Sessel gesetzt, und als ihn schließlich das Schweigen, das Dasitzen und Anns mürrisches Gesicht peinlich-linkisch verlegen machten, stand er unvermittelt auf, holte sich ein Kissen, warf es auf den Fußboden und streckte sich der Länge nach, den Kopf in Richtung der Feuerstelle, neben Anns Stuhl aus. Der Flackertanz der Flammen hinter ihm, das Knistern und Knattern, das sanfte Auszischen und lautlose Zusammensacken der Holzasche, der Duft von Tannenharz und dazu der Geruch von dem alten Holz der Fußbodenplanken, die Stille im Haus und die sturmverhaltne Nacht draußen, irgend etwas Anheimelndes im Zimmer, – diese Dinge zusammen und dazu der große Neuengländerinnenkörper Anns, die Haltung, in der Ann dasaß und ins Feuer starrte, die mürrische, wortlose Ganzheit ihres Wesens, wie sie das großartige und liebliche Gesicht ausdrückte, Anns Geruch, der der Geruch einer großen, gesunden Frau war, die sich an einem offnen Feuer wärmt, – alle diese Dinge wirkten auf Eugens Sinne und erfüllten ihn mit einem ungeheuer starken, angenehmen und vertrauten Gefühl, einer im Blut verborgen schwingenden Empfindung, die er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte, die ihn aber nun wieder mächtig überwallte. Diese Empfindung erfüllte ihm das Herz, das Blut, die Sinne mit Frieden und Sicherheit, mit einer schläfernden, sinnenvollen Freude, erfüllte ihn mit dem mächtigen Wachwerden einer alten Wahrnähme, gleichsam der Wiederentdeckung eines uralten Glaubens, nämlich, daß die sinnliche Hülle des Daseins überall dieselbe wäre, daß das Leben dieser französischen Kleinstädter im Grund dasselbe wäre wie das Leben der Leute in seiner Vaterstadt, dasselbe wäre wie das Leben allenthalben auf Erden. Und nach alldem, was er in den letzten Monaten erlebt hatte – der dunklen und fremden Welt, Paris, dem Nachtbetrieb, dem andern Kontinent – beglückte ihn diese Wiederentdeckung, denn nun spürte er das begrabne Leben wieder, ahnte er wieder das Grundgefüge des Daseins der großen Erdfamilie, der alle Menschen angehören, und das erfüllte ihn mit ruhiger Sicherheit und Freude.

Ann saß regungslos da nach vorn gebeugt, Ellenbogen auf die Knie gestützt, und starrte ins Feuer, und Eugen sah ihr aufblickend in das warme, dunkle, mürrische Gesicht, und dabei schlief er ein und versank in einen Schlaf, der nach all dem Wahnsinnsbetrieb und der Erschöpfung der letzten Wochen so tief und fest war wie der Schlaf eines Betäubten.

Wie lang er da auf dem Fußboden geschlafen hatte, wußte er nicht. Was ihn weckte, war der Klang von Anns Stimme, ein mürrisches Monoton, in dem sein Vorname gesprochen wurde, in dem sein Vorname ruhig und mit einer nachdruckslosen, brütenden Beharrlichkeit gesprochen wurde, so, daß er zuerst glaubte, er habe geträumt. Wieder und wieder wurde der Name wiederholt, ruhig und beharrlich, ohne Wandlung oder Abschattung im Ausdruck, bis Eugen schließlich bestimmt wußte, daß er nicht mehr schlief. Etwas Träges, Fremdes, Taubes hämmerte in ihm wie ein mächtiger Pulsschlag, er machte die Augen auf und blickte Ann ins Gesicht. Sie hatte sich ein wenig weiter nach vorn gebeugt und sah mit einem langsamen, heftig brütenden Blick auf ihn herunter; ihr Gesicht gloste und war schläfrig wie eine Blume. Als Eugen Ann ansah, begegnete sie dem Blick mit diesem schläfrig brütenden Starren und sprach nochmals, tonlos wie zuvor, seinen Namen.

Wie ein Blitz fuhr er auf und schloß sie in seine Arme. Er kniete neben ihr und drückte und preßte sie an sich mit einem wortlosen, unmöglichen Verlangen. Er küßte sie, küßte sie wieder und wieder auf Gesicht und Hals; ihr Gesicht war vom Feuer beglüht, die Haut war weich und glatt wie Sammet; er küßte sie wieder und wieder aufs Gesicht mit diesem wilden, unmöglichen Verlangen und mit einem gräßlichen Gefühl von Schuld und Scham. Er wollte sie auf den Mund küssen und wagte es nicht, und während er sie küßte und in einer plumpen, erdrückenden Umarmung an sich preßte, begehrte er sie heftiger, als er je im Leben eine Frau begehrt hatte, und gleichzeitig empfand er etwas gräßlich Entweihendes in seiner Berührung, ganz so, als unterfinge er sich, eine Vestalin zu notzüchtigen, eine Nonne zu vergewaltigen.

Er wußte nicht, warum er so empfand, kannte den Grund nicht für dieses sinnlose Gefühl von Schuld und Scham und Entweihung. Er hatte sich so viel mit Huren- und andern losen Gelegenheitsweibern herumgetrieben, daß er – wenn er es bedacht hätte – angenommen haben würde, eine Liebschaft mit diesem großen, schwerfälligen, mürrisch dreinschauenden Mädchen anzufangen, wäre eine Leichtigkeit für ihn. Aber alles, wozu er imstand war, war, daß er Ann linkisch-unbeholfen umklammerte und an sich preßte, alberne Worte murmelte und wieder und immer wieder ihr heißes, mürrisches Gesicht küßte.

Er versuchte, ihr die Hand auf die Brust zu legen, aber das Gefühl von Scham und Entweihung überkam ihn, und er nahm die Hand weg. Er legte ihr die Hand aufs Knie, schob die Hand unter ihren Rock, und die Berührung mit dem warmen Fleisch ihres Schenkels traf ihn wie ein elektrischer Schlag, so daß er die Hand schnell wegriß. Und während der ganzen Zeit tat Ann überhaupt nichts. Sie machte keinen Versuch ihm zu widerstehn oder ihn wegzuschieben; sie lag einfach mit einer dumpfen, mürrischen Passivität in seinen Armen, und ihr Gesicht gloste träge in einer Leidenschaftsdüsternis, die Eugen weder ergründen noch erklären konnte. Er wußte nicht, warum Ann ihn aus dem Schlaf geweckt und beim Namen gerufen hatte, er verstand nicht, welche Gemütsregung hinter ihrem brütenden Blick, hinter ihrer mürrisch-dumpfen Passivität war, er konnte sich das alles nicht ausdeuten und merkte nicht einmal, ob sie ihm willig nachgäbe oder nicht.

Zu allem wußte er auch nicht, wie er zu diesem Gefühl der Schuld, Scham und Entweihung kam, wenn er Ann anfaßte. Es mochte von einer wesenswirklichen Adligkeit und inneren Größe ihrer Person und ihres Charakters kommen, daß körperliche Vertraulichkeiten ihr gegenüber fast undenkbar waren, und mochte teilweise auch zu tun haben mit dem Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit, einem Gefühl, das zwar niedrig und schmählich ist, das junge Männer aber heftig empfinden, einem Gefühl, das alle Amerikaner kennen und grausam an sich verspürt haben, selbst jene, die empört abzustreiten pflegen, daß es existiert, und dennoch am meisten dazu beigetragen haben, daß es genährt wird. Gewiß war Eugen zeitweilig sich recht bitter der ›Exklusivität‹ Anns bewußt geworden, – der Tatsache, daß sie der Oberen Klasse, einer ›Alt-Bostoner Familie‹, einer reichen, behüteten, mächtig verschanzten Gruppe angehörte. Er wußte, daß eine schöne, begehrenswerte Frau wie Ann vielfach Gelegenheit habe, unter den wohlhabenden Männern ihres eignen Standes zu wählen und zuzugreifen, während er, Eugen, schlechthin der Sohn eines Handwerkers war.

Darüber hinaus aber wußte er, daß das, was ihm nun Einhalt gebot, das, was ihn stärker als alles andre bezwang, das, was ihn mit seiner Holdheit überwältigte, das, was ihm das Herz mit Sehnsucht und unmöglichem Begehren erfüllte und ihm im selben Augenblick das Besitzen verwehrte, – das leidenschaftliche und bittre Rätsel jenes seltsamen und lieblichen Wesens war, das sich ihm unverlierbar, unvergeßlich und niemals begreiflich ins Leben verwirkt hatte, – ein Inhalt, den er mit »Neu-England« bezeichnete.

Und als er dies nun erkannte, verspürte er die größte je verspürte Liebe und auch den größten Haß auf jenes neuengländische Wesen. Ein wüster Verwünschungsärger, ein würgerischer Drang, seine Verzweiflung und die ganze Vereitelungspein herauszufluchen, packte ihn an. Er riß Ann heftig hoch, so daß sie nun vor ihm stand, und beschimpfte sie bitter. Und sie verblieb dumpf, düster und passiv wie zuvor, ohne ein einziges Zeichen der Hingabewilligkeit oder aber des Widerstands, während er sie schüttelte, an sich preßte und sie wahnsinnig vor Verlangen und von Scham gepeinigt beschimpfte:

»Hör doch!« schnaufte er, dickzüngig. »So schau mich doch an! So sag' doch was! So tu doch was! ... Steh' doch nicht da wie ein gottverdammter Holzindianer! ... Was zum Teufel bildest Du Dir denn ein? ... Glaubst Du, Du wärst was Besseres als andre Leute? ... Ann! Ann! Schau mich doch an! ... So sprich doch! Was ist denn? ... Oh, Gott verdamm' Dich, ich lieb' Dich so!« erklärte er mit einem wilden unbewußten Humor, den freilich weder er noch Ann nun bemerkten. »Oh, Du große, dumme, schöne Bostoner Petze«, stöhnte er verliebt, »ei, schau mich doch an mit Deinem Gesicht, schau mich bloß an und – bei Gott! – ich will ja, ich will Dich doch haben!« murmelte er wild, und nun, gewissermaßen verzweifelt, küßte er sie zum erstenmal auf den Mund. Er sah sich mit grellen Augen um wie ein Irrer und begann damit, sie in Richtung auf das Bett zu zerren und zu schleifen und murmelte: »Bei Gott! Ich tu's mit Dir! O Du süßes, dummes liebliches Mensch Du! Ann!« frohlockte er. »O bei Gott, ich werde Dich auftauen, ich werde Dein Eis zum Schmelzen bringen, mein Mädchen, bei Gott, ich werde Dich schon öffnen! Ist das nicht Dein Arm da?« begann er gierig und biß in reißender Verzücktheit Ann in den Oberarm. »Und Dein Hals da? Und was für ein heißes Gesicht Du hast! Und was für einen Flunsch Du machst mit Deinem mürrischen Mund! Und riechst Du nicht gut, was? Und was für 'n Bauch Du hast, so 'nen weißen, schönen, fruchtbaren Bostoner Bauch«, er weidete sich an dem Gedanken, »gut für 'n ganzes Dutzend Kinderchen, nicht wahr? Und diese schweren Hüften, die großen Schenkel und der lange, schwellende Bug! O, Du fruchtbarer, dummer, ungepflügter Acker von einer Frau! Aber ich werde Dich bestellen!« gellte er frohlockend. »Und die großen, stummen Augen, und die langen Hände und die schlanken Finger! Ei, wo hast Du denn die langen zierlichen Hände her, Du großer zarter Brocken? ... Hier, gib doch die Hand mal her jetzt, ja, ja, alle die feinen langen Damenfingerchen ...« sagte er mit sanfter, mörderischer Besitzgier, und plötzlich spürte er, wie Anns Finger auf seinem Arm zitterten, und er nahm die schlanken, feingliedrigen Finger in seine Hände und drückte sie, aber die Hand zitterte, und er spürte nun, wie der ganze schwere, träge Mädchenleib in seiner Umarmung zitterte, und jäh durchfuhr ihn ein wildes, namenloses Weh von Mitleid und Bedauern.

»Oh, Ann, zittre doch nicht«, sagte er und griff wieder nach ihrer Hand und hielt sie bittend in der seinen. »Guck mich doch nicht so an! Hab' doch keine Angst! Oh, so hör' doch!« sagte er verzweifelt und legte seine Arme um ihre bebenden Schultern und begann sie tröstlich zu tätscheln. »Bitte, stell' Dich doch nicht so an! Zittre doch nicht so! Hab' doch keine Angst vor mir! Oh, Ann, bitte, guck mich doch nicht so an! Ann, ich hab' es ja gar nicht so gemeint, es tut mir so gottverdammt leid, Ann! Ah-h! Es wird ja schon wieder gut! Es wird ja schon wieder recht! Ich schwör Dir's, Ann, es wird ja schon wieder gut und recht!« stammelte er albern und nahm ihre Hand und sprach flehentlich auf sie ein, ohne zu wissen, was er sagte, und ganz krank vor Schuld und Scham und Grauen über seine verrückte Tat.

Sie atmete verwirrt, unbeholfen, in kurzen, schnellen Stößen, ganz wie ein Kind, dem die Angst den Atem verschlägt. Und dies und ihr Zittern, das Zittern der langen, schönen, für eine so große Frau merkwürdig zarten Hände, die er nun ansehen mußte, – das erfüllte ihn mit einer unsäglich peinigenden Reue. Und nun begann Ann zu sprechen, außer Atem und verzweifelt zu sprechen, und Eugen fand, daß er zu allem, was sie hervorbrachte, verzweifelt »Ja, ja«, sagte, obwohl er die Hälfte davon in seiner Betretenheit weder hörte noch verstand.

»Nicht hierbleiben«, schnaufte sie mühsam. »Laß uns weggehn ... irgendwohin ... ganz gleich wohin ... Ich muß mit Dir sprechen ... Ich hab' Dir was zu sagen!« stieß sie verzweifelt hervor. »... Du hast das falsch verstanden ... furchtbar ... grauenhaftes Mißverständnis«, murmelte sie. »Nun muß ich Dir's erklären! ... Komm! Gehn wir!«

»O ja ... sicher ... wohin Du willst, Ann. Ganz wie Du sagst«, pflichtete er bei. In zitternder Hast zogen sie sich Hut und Mantel an und waren gerade am Weggehen, als Elinor und Starwick zurückkamen.

Starwick fragte die beiden, wo sie hingingen. Sie sagten, sie wollten spazierengehn. Starwick sagte darauf ein unverbindliches »Oh!«. Sowohl Starwick wie Elinor bemerkten das erregte Wesen, die zitternde Hast und die erröteten Gesichter der beiden andern, aber obschon sie merkwürdig verwunderte Mienen darüber machten, sprachen sie weiter nicht davon. Ann und Eugen gingen weg.

Das Haus war still, denn es war wohl jedermann schon zu Bett gegangen. Als die beiden auf die Straße hinaustraten, war ringsum die stille, frostkalte Nacht, war ringsum die seltsame, lebendige Gegenwart der Stille und des Schlafs. Die Fensterläden an den Häusern waren zu, und die Häuser hatten die verschlossene, aufmerksame Heimlichkeit, die Häuser in französischen Kleinstädten nachts haben. Niemand schien unterwegs zu sein außer den beiden. Sie gingen schnell in der Richtung auf den Bahnhof; eine Zeitlang sagten sie nichts; ihre Tritte hallten hart auf dem hartgefrornen Boden.

Schließlich blieb Ann unter einer der wenigen, dürftigen Laternen stehen und begann schnell, erregt und in einem Ton, der sich von ihrer gewohnten, mürrisch kurzangebundnen Sprechweise sehr unterschied:

»Hör' mal!« sagte sie. »Wir müssen alles, was heut abend vorgefallen ist, vergessen! Wir müssen das alles vergessen! ... Es war meine Schuld«, murmelte sie, von dumpfen, altjüngferlichen Gewissensbissen gepeinigt, was bei einer Person ihrer Art, bei einem Menschen von ihrer Gradheit, Unschuld und Ganzheit irgendwie mitleiderregend wirkte. »Ich wollte Dir das wirklich nicht antun«, erklärte sie naiv. »Ich hätte es unbedingt vermeiden müssen.«

»Oh, Ann«, sagte Eugen, »Du hast ja gar nichts getan! Es war ja nicht Deine Schuld. Du konntest es einfach nicht ändern. Ich war es doch, der angefangen hat.«

»Nein, nein«, murmelte sie düster, störrisch, angeelendet. »Es war ganz meine Schuld ... Ich hätte es vermeiden können.« Sie drehte sich unvermittelt um und schritt schnell weiter.

»Aber Ann!« begann er, als er sie eingeholt hatte. »Hör doch!« redete er verzweifelt auf sie ein. »Nimm es nicht so furchtbar zu Herzen! ... Mach Dir doch keine Gedanken! ... Wir haben ja nichts Schlimmes getan, wahrhaftig nicht!«

»Oh!« murmelte sie, ohne den Kopf zu wenden. »Es war gräßlich – gräßlich, Dir so was anzutun! ... Ich schäme mich so! Einfach schlimm, so was.«

»Aber Du hast ja gar nichts getan!« begehrte er auf. » Ich war's doch!«

»Nein, nein«, erwiderte sie, »ich war es, die angefangen hat ... Ich weiß gar nicht, wie es kam ... aber ich hatte doch keinen Gedanken – – ach! da ist eben etwas, was Du nicht verstehst.«

»Aber was ist es denn, Ann, was?« Er wußte nicht, ob er lachen oder vor Schmerz aufschreien sollte über diese dumpfe, altjüngferliche Unversehrtheit ihres Neuengländerinnengewissens, das, wie ihm schien, den Vorfall so bitterernst nahm.

Ann, die mit langen Schritten weitergegangen war, blieb nun – wieder unter einer Laterne – stehen, sie drehte sich um und sprach wie eine Verzweifelte:

»Hörst Du«, sagte sie streng. »Du mußt unbedingt alles vergessen, was heut abend vorgefallen ist! ... Ich wußte nicht das geringste davon, daß Du so für mich empfindest, und nun mußt Du mich ganz und gar vergessen, mußt Du nie wieder so an mich denken!«

»Warum?« fragte er.

»Weil es unrecht ist«, murmelte sie »... unrecht ...«

»Warum unrecht?«

Sie schwieg eine Weile. Dann sah sie ihm fest ins Auge und sagte ruhig und barsch:

»Weil nichts draus werden kann ... Weil ich nicht so für Dich empfinde.«

Eugen blieb stumm; ihm war, als wäre plötzlich eine dünne Eisschicht um sein Herz gezogen.

»Oh«, sagte er dann. Und einen Augenblick später setzte er hinzu: »Und glaubst Du nicht, daß Du je so für mich empfinden könntest?«

Sie antwortete nicht, sondern begann schnell davonzugehn. Er holte sie ein, packte sie am Arm, riß sie herum, so, daß sie ihn ansah, und fragte scharf:

»Antworte mir! Glaubst Du nicht, daß Du es je könntest?«

Das stumpfe, dumpfe Elend stand in ihrem Gesicht. Sie murmelte:

»Es ist etwas, was Du nicht verstehst – etwas, wovon Du nichts weißt.«

»Das hab' ich Dich nicht gefragt. Antworte mir!«

»Nein«, murmelte sie. »Ich kann nicht so für Dich empfinden ... werde es nie können.« Sie machte ein jammervolles Gesicht, wandte sich um, ging weiter. Der Eisring um Eugens Herz wurde dicker und härter. Er holte Ann wieder ein und hielt sie an.

»Hör' mich an, Ann. Du mußt mir sagen warum. Ich muß es wissen.«

Sie schüttelte jammervoll den Kopf, wollte sich abwenden und weitergehn. Er aber packte sie, riß sie herum und herrschte sie noch schärfer und dringlicher an:

»Nein! Nun muß ich es wissen! Sag mir, ist es einfach deshalb, weil Du nie so für so einen Kerl wie mich empfinden kannst, weil Du nie so an mich denken könntest?«

Sie antwortete zunächst nicht. Sie stand bloß da und sah ihn dumpf und geelendet an. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Das ist es nicht.«

Der Eisring um Eugens Herz wurde ständig dicker. Ihm war, als könne er nicht mehr sprechen. Aber einen Augenblick später fragte er wieder:

»Nun – dann also – ist es – Ist es ein andrer?«

Sie machte eine gequälte, verzweifelte Gebärde, wandte sich ab, wollte weggehn. Und wieder packte er sie, riß er sie zurück. Er sagte:

»Antworte mir doch, gottverdammt! Ist das der Grund?«

Ihm schien eine geraume Weile vergangen, als sie ihm antwortete. Sie murmelte so leis, daß er sie kaum verstehen konnte.

»Ja«, sagte sie. Sie riß ihren Arm aus seiner umklammernden Hand. »Laß mich los!«

Er packte sie wieder und riß sie zurück. Der Eisring, schien ihm, war zu einem festen Eisblock erstarrt, und in diesem Eisblock konnte er sein Herz hören, das wie ein schwerer Schwinghammer ging.

»Wer ist es?« fragte er.

Sie gab ihm keine Antwort. Er schüttelte sie rauh.

»Antworte mir! ... Ist es jemand in Boston?«

»Laß mich los!« murmelte sie. »Ich werd's Dir nicht sagen.«

»Bei Gott, Du wirst mir's sagen!« behauptete er trotzig und hielt sie fest. »Wer ist es? Jemand in Boston ... jemand, den Du dort kennst ... oder nicht?«

»Nein!« schrie sie auf. Sie riß sich mit einem unterdrückten Seufzer los und ging schnell davon. »Laß mich in Ruh! Ich werd's Dir nicht sagen!«

Ein jäher Einsichtsblitz, ein augenblickliches Aufblitzen der Erkenntnis und des Entsetzens ging durch Eugen hindurch wie ein Messer. Das Herz war ihm wie erfroren, ihm war, als könne er nicht mehr atmen, und doch sprang er ihr mit ein paar Sätzen nach, und riß sie herum.

»Schau mich an, Ann!« Er packte ihr Gesicht unterm Kinn, riß es hoch und fragte: »Bist Du in Starwick verliebt?«

Sie stieß einen langen Klageschrei aus, einen Schrei der dumpfen Herzensnot und der Verzweiflung. Sie versuchte sich von Eugen loszumachen und rief in einer mitleiderregenden, erschrockenen Stimme:

»Laß mich in Ruh! Laß mich in Ruh!«

»Antworte mir!« fauchte er. »Ist es Starwick?«

Sie riß sich mit einer letzten, wahnsinnigen Anstrengung los und schrie wie ein verwundetes Tier:

»Ja!! Ja!! ... Nun weißt Du's! Bist Du zufrieden? Willst Du mich jetzt in Ruhe lassen?« Sie rannte blindlings davon. Ihr Atem ging in Seufzerstößen.

Er rannte ihr nach, holte sie ein, nahm sie in seine Arme, aber nicht etwa, weil er sie umarmen wollte, sondern weil er sie anhalten, sie festhalten, sie, falls er es vermöchte, beruhigen wollte, denn die wilde, dumpfe Qual dieses großen Geschöpfs ging ihm durchs Herz wie ein Messer. Dabei war er selber krank vor Entsetzen, von einem letzten, lähmenden Schreck, den er nie zuvor im Leben empfunden hatte. Er wußte kaum, was er tat, was er sagte, aber die Seelennot dieses großen, dumpfen Geschöpfs, diese verschlossene, wortlose, tödliche Herzensqual mitansehen zu müssen, das war mehr, als er ertragen konnte. Und kalt vor Entsetzen mummelte er mit dicker Zunge: »Oh Ann, Ann, aber Ann! Starwick, Starwick, das ist doch unsinnig, das ist doch unsinnig! Guter Gott! Was für eine Schande das ist, was für eine Schande!« – Ganz plötzlich nämlich wußte Eugen, was Starwick war, wußte Eugen, der es sich zuvor nie einzugestehen erlaubt hatte, was aus Starwick geworden war. – »Guter Gott! Guter Gott! Was für ein Elend! Was für eine Schande!« mummelte Eugen dickzüngig in einem fort, ohne jedoch zu wissen, was er sagte, und krank vor Entsetzen, sich nur einzig des üblen Mißgeschicks bewußt, das mit solch grausamer, sinnloser Tücke Anns Leben verkehrt zu seinem Leben eingestellt hatte, und der grauenhaften Tatsache, daß das Leben dieses großen, herrlichen, fruchtbaren Geschöpfs verkorkst und vergeudet und verloren war, weil diese Frau sich mit all ihrer Kraft, all ihrer Liebe und all der adligen Ganzheit ihres Wesens einem schnöden, brachen Nichts darbringen mußte.

In diesem Augenblick verspürte Eugen überwältigend und unerträglich nur einen Drang: – nämlich Ann zu beruhigen, diese gräßliche Wunde des Kummers und der Liebe zu stillen und zu heilen, irgendwie und in jeder Weise sein Leben dafür einzusetzen, daß dieses gequälte Geschöpf Frieden und Trost fände.

Er hielt sie umschlungen, er tätschelte sie auf die Schulter und sagte in einem fort, ohne doch zu wissen, was er sagte:

»Oh, es ist ja schon recht, Ann! ... Es ist ja schon recht! ... Du mußt nicht so verzweifeln, Ann! ... Du mußt Dich nicht so aufregen, Ann! ... Es wird ja schon wieder recht werden!« Und zu seinem Elend und Entsetzen wußte er doch, daß es nicht ›schon recht‹ wäre, daß ›es‹ verkehrt und verkorkst und hoffnungslos wäre, daß es sich da um eine Wunde handelte, die zu tief war, um je zu heilen, um ein schicksäliges Unrecht handelte, das zu grausam und unsinnig war, als daß es je wiedergutgemacht werden könnte.

Ann stand da in seiner Umarmung, sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, sie legte ihre Hände, diese schlanken, kräftigen, liebenswerten Hände, auf seinen Arm, sie klammerte sich verzweifelt an ihn, und dann und dort, in der frostigen Schlafstille jener französischen Kleinstadtstraße, weinte sie heiser und bitter und furchtbar, weinte sie, wie eine große, gräßlich verwundete Kreatur weint. Und alles, was Eugen tun konnte, war, daß er dastand und sie in seinen Armen hielt, bis sich der letzte, zerriss'ne Schmerzensschrei in ihr losgerungen hatte.

Als sie sich ausgeweint hatte und ruhig geworden war, trocknete sie ihre Augen, sah ihn mit einem flehentlichen Ausdruck an und flüsterte jammervoll:

»Du wirst den andern nichts sagen? Du wirst dem Frank nichts davon sagen, nicht wahr? Du wirst es ihn nie wissen lassen?«

Und Eugen – krank vor Entsetzen über ihre schreckliche Verstörtheit, wiederum vom Dolch des wilden, zerreißenden Mitleids getroffen – versprach es ihr.

Stillschweigend gingen sie den Weg zurück auf der frostigen, schlafenden Straße. Es war nach Mitternacht, als sie in die Pension kamen. Das ganze Haus war längst schlafen gegangen. Als die beiden die Treppe hinaufstiegen, schlug eine Uhr.


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