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XXI

Eines Nachmittags, Anfang Mai, traf Helene den Doktor McGuire auf der Straße. Er hatte gerade seinen Wagen am Rinnstein geparkt – es war an der Academy Street, ein kleines Stück vor dem Eingang in die Apotheker-Abteilung von Woods großer Drogerie –, als sie ihn stellte. Er stieg schwerfällig grunzend aus seinem staubigen Roadster, schmiß die Wagentür zu und fummelte in den Taschen seines faltigen Rocks nach einer Zigarette. Als sie ihn ansprach, drehte er sich herum und grunzte: »Hallo, Helene!« Er pappte sich die Zigarette auf die dicke Unterlippe, zündete sie an, musterte Helene mit einem brutalen, fast dummen und dennoch irgendwie gutmütigen Blick und bellte sie an: »Was hast Du für Sorgen?«

»Wegen Papa«, antwortete sie leise mit rauher, fast geborstener Stimme. »Ich muß einfach wissen, ob dieser letzte Anfall bedeutet, daß das Ende nahe ist. Sie müssen es mir unbedingt sagen. Wir haben ein Recht, es zu wissen.«

Der Ausdruck von Überspanntheit und Hysterie auf ihrem grobknochigen Gesicht, der krankhaft starre Blick ihrer dumpfen Augen, der Ekzemflecken an ihrem großen, grübigen Kinn, vor allem aber die brütende Inständigkeit in ihrer Stimme, ihre Art, ihn Dinge zu fragen, die er Zehntausende von Malen schon gefragt worden war, dies alles zerrte an seinen zerfransten Nerven. Er verlor einen Augenblick die Geduld; das abgehärtete und abgestumpfte Berufsgesicht des Mediziners schien vor Ärger zu platzen.

»Also was willst Du wissen? Worauf hast Du ein Recht? Um Gottes willen, reiß Dich doch zusammen und benimm Dich nicht, als wärst Du noch ein kleines Kind!« Sein Ton war brutal, ruppig, höhnisch; aber dann sagte er plötzlich ruhiger, in seiner kurzangebundenen, rauhbauzigen Art: »Schon recht! Also, was willst Du wissen?«

»Ich möchte wissen, wie lange er noch mitmachen kann«, sagte sie mit derselben krankhaften Inständigkeit in der Stimme. »Sie sind doch Doktor!« sie nickte und machte eine herausfordernde Miene, die ihn wiederum aufbrachte. »Sie müssen es sagen können. Wir müssen es wissen.«

»Ich soll es sagen können! Ihr müßt es wissen!« rief er. »Wovon zum Teufel redest Du denn da?! Und was erwartest Du für Auskünfte?«

»Ei, wie lang Papa noch zu leben hat!« bestand sie unentwegt.

»Aber das hast Du mich doch schon tausendmal gefragt. Und ich hab Dir gesagt, daß ich es nicht weiß. Er mag noch einen Monat zu leben haben, und es kann auch sein, daß er übers Jahr noch hier ist. Wir haben keine Möglichkeit, es zu wissen«, erklärte er aufgebracht. »Besonders nicht in so einem Fall. Vor drei oder vier Jahren hätte ich mich getraut, eine solche Voraussage zu machen, Helene, und ich habe sie sogar gemacht, denn damals sah ich, daß Dein Vater kaum länger als sechs Monate mitmachen würde. Aber er hat uns allen ein Schnippchen geschlagen, Dir und mir und den Ärzten in John Hopkins Institut und überhaupt jedem, der mit dem Fall zu tun gehabt hat. Der Mann stirbt an bösartigen Karzinomen, er stirbt nun seit Jahren daran, sein Leben hängt an einem Zwirnsfaden, der Zwirnsfaden kann jeden Augenblick reißen, aber wann er reißen wird, das zu sagen, habe ich keine Möglichkeit.«

»Ah-hah«, sagte sie nachdenklich. In ihre Augen war ein Ausdruck dumpfer Beruhigung gekommen, als er zu ihr gesprochen hatte. Nun fing sie an, ihr großes, grübiges Kinn zu petzen. »Sie glauben also ...«, begann sie.

»Ich glaube nichts«, rief er. »Um Gottes willen, hör auf an Deinem Kinn herumzukratzen!« Er blickte sie zornig an, mit einem plötzlichen heftigen Ärger; er hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt wie ein eigensinniges Kind. Statt dessen ließ er seine Wut in Worten aus und raunzte:

»Schau her, Helene! ... Du mußt Dich zusammenreißen. Hörst Du mich?! Du entwickelst Dich zu einem Fall für die Psychiater. Du läufst herum wie im Traum, fragst Fragen, die kein Mensch beantworten kann, bestehst auf Antworten, die kein Mensch geben kann, Du steigerst Dich in hysterische Anfälle hinein, dann kommt der Kollaps, und Du päppelst und putschst Dich dann auf mit Drogen und Patentmedizinen und Maislikör, mit irgendeinem alkoholhaltigen Zeug. Und das tust Du tagelang. Und nachts, wenn Du im Bett liegst, hörst Du Stimmen, die zu Dir reden, Gespenster, die die Treppe heraufkommen, und wer weiß was für einen Spuk am Telephon. Und in Wirklichkeit hörst Du nichts, weil nichts da ist. Weißt Du, was mit Dir los ist?« fragte er barsch. »Nun, das sind die ersten Symptome von Wahnsinn. Dein Verstand gerät aus dem Gleichgewicht, und wenn das so weitergeht, dann mußt Du eines Tags ins Narrenhaus zur Kur.«

»Ah-hah! Uh-huh!« machte sie. Sie war in Nachdenken verfallen, sie pickte zerstreut an ihrem Kinn, in ihre Miene war ein Ausdruck dumpfer Ruhe gekommen, so als wären ihr seine unverblümten Worte wirklich ein Trost gewesen. Plötzlich besann sie sich, sah ihn mit klaren Augen an, und um die Winkel ihres großen, liebenswürdigen Munds spielte ganz leicht ein Abglanz ihres erdhaften Humors. Sie kicherte heiser und stocherte ihn mit steifem Zeigefinger in die festgepolsterten Rippen.

»Also Sie glauben auch, ich hätte den Kribskrabs, was?« sagte sie, nickend, grinsend und die Stirn herunterziehend. »Na, das hab' ich schon so oft selber gedacht! Sie können wirklich recht haben«, meinte sie allen Ernstes und nickte bestätigend. »Manchmal komme ich mir vor wie aus dem Geleis gerutscht – querköpfig – verrückt – als hätte ich 'nen Vogel, wissen Sie ...«, sie machte die Wendeltreppenbewegung stirnwärts, »... brr! als war da ein Schräubchen los.« Sie machte plötzlich wieder ein ernstes Gesicht. »Was das nur sein kann? Möcht' ich wirklich gern wissen! Könnte es am Ende ...«, sie fragte das mit einem komisch-anzüglichen Lächeln, »... eine Frauensache sein. Ich meine, daß ich so werde wie die andern Weiber? Kann doch sein, daß die Wechseljahre bei mir kommen, nicht wahr? Kann doch sein ...«

»Scher Dich fort mit Deinem Gerede von Wechseljahren!« wandte er angewidert ein. »Eine junge Frau von zweiunddreißig Jahren und stellt sich hin und schwatzt von Wechseljahren! Das hat genau so viel Sinn wie das andre Zeug, das Du Dir vormachst! Das einzige, was bei Dir wechselt, sind die Launen, und die wechseln alle fünf Minuten.«

Er schwieg. Er atmete schwer und starrte sie an. Die übermüdeten, rotgeäderten Augen in dem schwammigen, unrasierten Gesicht hatten einen verdrossenen Blick. Als er dann wieder sprach, sprach er ruppig-ruhig, und eine borstige, beinah väterliche Zärtlichkeit lag in seiner Stimme.

»Helene«, sagte er. »Ich mache mir Gedanken. Um Dich, und nicht um Deinen Vater. Er ist ein alter Mann, schwer krebskrank, und für ihn besteht keine Hoffnung mehr. Er ist das Leben müde und wünscht sich den Tod. Warum also willst Du sein Leiden verlängern und ihn im Zustand dauernder Sterbensqualen belassen, wenn der Tod wirklich eine Erlösung für ihn wäre? ... Ich weiß es bestimmt, für Deinen Vater besteht keine Hoffnung mehr, er ist seit Jahren ein erledigter Mann, und je eher das Ende kommt, desto besser ist es für ihn.«

Sie wollte ihn unterbrechen, er aber wies sie schroff zurück und sagte:

»Einen Augenblick, laß mich erst ausreden! Ich möchte Dir nämlich etwas sagen, und um Gottes willen bemüh' Dich, dann danach zu handeln. Der Tod dieses alten Mannes scheint Dir ungemein merkwürdig und fürchterlich, eben weil dieser Alte Dein Vater ist. Du kannst Dir seinen Tod sowenig vorstellen, wie Du Dir vorstellen kannst, daß der allmächtige Gott sterben müsse. Wenn Dein Vater stirbt, meinst Du, müßten Überschwemmungen und Erdbeben und Hurrikane kommen. Nun, ich versichere Dir, das stimmt nicht. Tag für Tag, in jeder Sekunde, stirbt irgendwo ein alter Mann, und weiter geschieht nichts, als daß er stirbt.«

»Oh! Aber Papa war ein wunderbarer Mann. Ich weiß es! Ich weiß es doch! Und jeder Mensch, der ihn je gekannt hat, sagt genau das gleiche!«

»Ja. Damit hast Du recht«, pflichtete McGuire bei. »Er war es wirklich. Einer der ausgezeichnetsten Männer, die mir vorgekommen sind. Und gerade das macht es nun so hart.«

Sie sah ihn begierig an und fragte: »Sie meinen sein Sterben?«

»Nein, Helene, das meine ich nicht«, sagte er lässig-geduldig. »Sein Sterben ist gar nicht so schlimm. Das scheint Dir bloß furchtbar, weil Du wenig vom Sterben weißt. Aber ich hab' das oft gesehn und hab' so vieler Leute Tod miterlebt, und da weiß ich, daß das gar nicht so furchtbar ist. Und das Sterben eines alten Menschen, den eine jahrelange Krankheit verbraucht hat, das ist überhaupt nicht furchtbar. Denen, die es mitansehen müssen, kommt es nur so vor, und dann –«, er zuckte die Achseln, »– sind da freilich sehr unangenehme Begleiterscheinungen. Aber der alte Mensch selber merkt das ja gar nicht. Ein alter Mensch stirbt, wie eine Uhr abläuft. Es ist keine Triebkraft mehr da, er hat den Lebenswillen verloren, er möchte sterben, und da hört er eben zu leben auf. Das ist alles. Und so wird es auch mit Deinem Vater gehn.«

»Oh, aber das wird alles nun so fremd sein ... so schwer zu verstehen«, murmelte sie, ihn bestürzt anblickend. »Wir haben so oft damit gerechnet, daß er stirbt, und immer ist es dann nicht eingetreten, und nun ist es so, daß ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen kann, daß es einmal wirklich eintritt. 1916 schon glaubte ich, es wäre aus mit ihm, ich konnte nicht glauben, daß er noch ein Jahr durchhielte. Und 1918 dann, in dem Jahr, in dem der Ben starb, da dachte niemand von uns, daß Papa den Winter überdauern könne ... und dann ist der Ben gestorben! Kein Mensch hätte doch je gedacht, daß der Ben dran glauben müsse ...« Ihre Stimme wurde heiser und barst; Tränen traten ihr in die Augen. »Wir hatten den Ben ganz vergessen, wir alle hatten nur an Papa gedacht, ... und dann, als der Ben starb, da war ich einfach erbittert auf Papa. Wenigstens eine Zeitlang. Ich konnte ihn einfach eine Zeitlang nicht ausstehn ... mir schien, ich hätte alles für diesen alten Mann getan, ihm alles gegeben, was ich ihm nur geben konnte, mein Leben, meine Kraft, meine ganze Energie ... und das alles, weil ich glaubte, er müsse sterben ... und dann starb der Ben, dem niemals jemanden etwas gegeben hatte ... der nichts von seinem Leben gehabt hatte ... den wir alle vernachlässigt und vergessen hatten, und der der Beste von uns war ... der Anständigste von uns und er war's, der hinweg mußte. Eine Zeitlang nach Bens Tod war's mir ganz gleich, was geschah ... und ob es dem Papa geschah oder sonst jemandem. Ich war so verbittert über Bens Tod. Es kam mir so grausam, so verrucht, so ungerecht vor! Warum mußte es von allen Leuten auf der Welt denn der Ben sein? Erst sechsundzwanzig Jahre alt. Und nichts vom Leben gehabt! Und nichts über sein Leben vorzuweisen! Keine Liebe, keine Kinder, kein bißchen Glück. Um alles war er betrogen worden ... während Papa so viel von allem gehabt hatte! Ich konnte nicht einmal den Gedanken daran ertragen. Noch jetzt ist's mir gräßlich, in Mamas Haus zu gehn, und in die Nähe von Bens Zimmer traue ich mich überhaupt nicht. Da hab' ich eine Todesangst davor. Ich bin nie in dieses Zimmer hineingegangen seit der Nacht, in der Ben starb. Und irgendwie – ich weiß nicht, woher das kam – war ich erbittert und böse auf Papa. Mir war, als hätte er mich betrogen und überlistet, manchmal ging es wirklich so weit, daß ich dachte, er sei auf irgendeine Art für Bens Tod verantwortlich. Ich sagte mir damals, der Fall wäre für mich erledigt, ich würde einfach nichts mehr für ihn tun, denn ich hätte schon alles in meinen Kräften für ihn getan, und nun könne sich jemand anderes um ihn bekümmern ... Aber auf einmal war es dann aus mit meinen Vorsätzen. Papa hatte wieder einen Anfall, und dann kam eine schlimme Zeit für ihn, und ich hatte furchtbar Angst, er stürbe, und ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen ... Und so ist es denn gegangen, jahraus, jahrein, jahraus, jahrein, immer habe ich geglaubt, er überstünd's nicht, und jedesmal hat er durchgebissen, und schließlich bin ich so weit, daß ich mir's nicht mehr vorstellen kann, daß er stirbt. Ich kann es wirklich jetzt nicht mehr glauben! ... Und was soll ich denn tun, wenn – –« Sie packte McGuire am Arm. »Ja, was soll ich denn tun, wenn er stirbt? Was bleibt mir denn dann im Leben?« Sie stöhnte verzweifelt auf. »Er ist doch alles, was ich habe, Doktor McGuire. Das Leben hat mir nichts von dem gebracht, was ich erwartete. Nichts von dem, wonach ich mich sehnte. Es ist alles anders gekommen, als ich dachte. Ich hab nichts gehabt – keinen Ruhm, keinen Erfolg, keine Kinder, keinerlei Herrlichkeit – – Papa ist nun alles, was mir geblieben ist. Für ihn kann ich leben! Was soll ich denn tun, wenn er tatsächlich stirbt?!« rief sie rasend und schüttelte ihn am Ärmel. »Dieser alte Mann ist wirklich das einzige, was ich noch habe. Für ihn kann ich leben! Ich kann ihn am Leben halten, kann es ihm behaglich machen, kann ihm Erleichterung verschaffen, kann mich drum bekümmern, daß er das richtige Essen und die richtige Aufwartung hat, um irgendwie, irgendwie ...« Sie schnaufte verzweifelt, verkrampfte die Hände in einer flehentlichen Gebärde, fing an, auf den Beinen zu schwanken vor Erregung. »... irgendwie, irgendwie das Leben in ihm zu erhalten, ihn hier festzuhalten, ihn nicht wegzulassen ... das ist es, wofür ich lebe ... und was in Gottes Namen soll ich tun, wenn er mir entrissen wird?«

Sie hielt erschöpft inne, ihr großes Gesicht zuckte, sie sah ihn mit einem grellen, verrückten, flehentlichen Blick an, als stünde es in seiner Macht, diese wahnwitzige Frage zu beantworten. Er sagte eine Zeitlang gar nichts, sondern erwiderte einfach ihren Blick mit seinem groben, brutalen Starren. Sein Gesicht war fleckig, die Augäpfel waren angegilbt, die angenetzte Zigarette stak ihm komisch im Mundwinkel, auf der fetten Unterlippe angepappt.

»Was Du tun wirst?« bellte er schließlich. »Nun, Du sollst etwas tun! Dich an Dich selber halten, sollst Du! Dich zusammenreißen! Etwas leisten um Deiner selbst willen! Jemand sein! Das sollst Du!« Er hustete stickig, auf einen Augenblick ging sein Atem sehr hart und schwer, er röchelte. Er warf die Zigarette in die Gosse. Und dann sagte er ruhig und leis:

»Helene! um Gottes willen! Schmeiß doch Dein Leben nicht weg! Zerstöre doch nicht das große Geschöpf, das in Dir steckt! Bring dieses Geschöpf zum Erwachen! Laß es aufleben! Rede doch nicht zu mir so, als ob das Leben dieses Alten Dein Leben wäre!«

»Aber es ist es! Es ist es!« behauptete sie störrisch wie ein Krankes.

»Es ist es nicht«, knurrte er. »Es sei denn, Du machst es dazu. Es sei denn, Du spielst die Schwache und die Törin und schmeißt Dein Leben weg. Um Gottes willen, sieh zu, daß Dir das nicht geschieht. Ich hab' es oft erlebt. Und manchmal waren es gerade die feinen Kerle, Menschen wie Du, voll Lebenskraft, begabt, intelligent und tüchtig. Da haben sie ihr Leben weggeschmissen, es verzettelt, so ...«, er machte eine bezeichnende Gebärde mit ein paar fetten Fingern. »Und warum? Weil sie nicht Murr genug hatten, um die Kraft einzusetzen, die Gott ihnen gegeben hatte. Wozu? Um ein neues Leben auf sich selber aufzubauen. Auf ihren eigenen Füßen zu stehen, wenn die Schulter nicht mehr da war, an die sie sich zuvor gelehnt hatten.« Er blickte sie streng an und keuchte heiser: »Um Gottes willen, stirb mir diesen Tod nicht, Helene! Diesen verruchten, lausigen, dreckigen Tod-im-Leben! Den einzigen Tod, der wirklich furchtbar ist! Ich habe das an so vielen Menschen erlebt, und immer war es so verdammt zwecklos und so eine gemeine Vergeudung. Das ist es, was ich Dir vor ein paar Minuten sagen wollte, nämlich, daß nicht der Tod der Sterbenden furchtbar ist, sondern der Tod der Lebendigen. Wir Menschen sterben diesen Tod immer aus dem gleichen Grund: – weil uns der Vater wegstirbt und sein Leben mitnimmt und seine Welt und seine Zeit, – und wir haben dann nicht den Mut, ein neues Leben und eine neue Welt für uns aufzubauen. Hast Du eigentlich eine Ahnung, wie oft das vorkommt? Oh, ich hab' es viele, viele Male erlebt, und dazu das Wrack und den Zusammenbruch und die Tragödie, zu der dann ein Dasein wurde. Wenn der Vater wegstirbt, dann geht die ganze Struktur des Familienlebens mit ihm aus der Welt, und wenn die Kinder nicht den Willen, das Zeug und den Mut haben, aus ihrem eignen Leben was zu machen, dann sterben sie eben auch und laufen als Lebendig-Tote auf der Welt herum. Dir wird es sehr, sehr schwer fallen, wenn Du Deinen Vater verlierst, denn er war ein Mann von großer Lebenskraft und eine so starke Persönlichkeit, daß er auf jeden Menschen, der ihn kannte, einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat. Und Du hast sieben volle Jahre lang Deines Vaters Sterben zu Deinem Leben gemacht. Sein Sterben ist ein Stück von Deinem Ich geworden, Du hast es in Dich hineingebrütet, Du lebst damit, Du hast Dich damit durchtränkt, Dein Wesen ist befleckt davon. Und nun wird es Dir sehr schwer fallen, den Trennungsstrich zu ziehen. Das aber mußt Du tun, das mußt Du unbedingt tun! Du mußt Dich auf Dich selbst besinnen, Dich auf Deine Füße stellen – – – oder Du bist verloren. – – – Helene!!« bellte er und sah sie, Auge in Auge, fest an. »Hör auf mich! ... Deine Kindheit. Die Woodson Street. Wie Du Deinen Vater über seine Räusche weggekriegt hast. Wie Du für ihn gekocht hast, ihn wie eine Krankenschwester betreut hast, ihn gefüttert, ihn an- und ausgezogen hast. Hör mal, ich weiß das alles, ich hab' es alles miterlebt. Und nun – –« Er hielt inne, machte dann plötzlich eine wegschiebende Geste mit den beiden dicken Händen. »Weg damit! Schluß damit! Für immer erledigt und abgetan! Das taugt nichts mehr, das bewirkt nichts mehr, das kann nie wieder zurückgebracht werden! Das ist 'rum! Du mußt es vergessen!«

»Aber ich kann's nicht! Ich kann's nicht!« behauptete sie verzweifelt. »Ich kann ihn nicht aufgeben! Kann ihn nicht loslassen! Er ist alles, was ich habe. Verstehen Sie doch, ach, Doktor McGuire«, erklärte sie ernst, »schon seit ich ein kleines zehnjähriges Ding war, seit Sie damals zu Papa kamen, wenn er so betrunken war und ihm drüber weghalfen, ja, damals habe ich Sie schon immer verehrt. Ich hab' immer in meinem Herzen gewußt, Sie wären einer von den wunderbarsten Menschen, wären der wunderbarste Arzt auf der Welt! Und ich habe immer gespürt, daß Sie am Ende etwas für ihn tun könnten, ein Wunder vollbringen, um ihn zurückzubringen. Um Gottes willen, lassen Sie mich doch jetzt nicht im Stich! Tun Sie etwas ... irgend etwas in Ihrer Macht ... aber retten Sie ihn, retten Sie ihn!«

Er schwieg einen Augenblick und starrte sie mit seinen rotgeäderten Augen an. Dann, als er sprach, war in seiner Stimme die stillste, allermüdeste Verzweiflung, die ihr je im Leben begegnet war.

»Ihn retten?« sagte er. »Mein armes Kind, ich kann niemanden retten ... nichts ... am wenigsten mich selber.«

Und jählings sah sie, daß das wahr war. Sie sah, daß er verloren, erledigt, vergangen war. Und sie sah, daß er selber um sich Bescheid wußte. Sein grobes, schwammiges Gesicht war besät mit schwarz-blau-roten Placken, seine Augäpfel waren gelb, und im Blick der müden, hellbraunen Augen saß schon der Tod. Das Wissen um den Tod lag mit einer unsäglichen Verdrossenheit auf der vierschrötigen Gestalt, war aus den kurzen, schweren Atemstößen hörbar. Sie erkannte augenblicklich, daß dieser Mann ein Sterbender war, und bei dieser Erkenntnis zerriß ihr ein Mitleid das Herz so, als hätte ihr jemand ein Messer in die Brust gestoßen und drehte es nun in der Wunde herum. Alle Helle fiel ihr vom Tage ab, und einen Augenblick war ihr, als wären Halt und Gehalt aus ihrem Dasein entwichen.

Dieser Maitag war prächtig, voll von Gold und Saphir und Gefunkel. In einiger Entfernung, gegen Osten zu, konnte sie das süße Grün der vertrauten Hügel erblicken. Sie wußte, daß sich nichts verwandelt hatte, und trotzdem kam ihr nun sogar die Pracht dieses Tages elend und gemein vor, so, als wäre sie nur da, um diese schäbige Straße noch schäbiger zu machen. Und die prachtvolle Helle des Tags erfüllte sie mit einem namenlosen Unbehagen und einem Gefühl der Scham. Ihr war, als stelle sie all dieser Glanz scharf zur Schau, als arbeite er ihre Unvollkommenheiten nackt heraus, und instinktiv wandte sie sich ab und trat in die Drogerie, wo es Kühle gab, elektrisches Licht, Fächergesurr und künstliche Freudigkeit, wo der Lärm von Stimmen war und Leute waren, die sie kannte. Und sie wußte, daß die meisten von diesen Leuten aus demselben Grund hier saßen, aus dem auch sie gekommen war: – weil dieser Ort ihnen immerhin eine – wenn auch schäbige und kurzfristige – Zuflucht bot vor dem nackten, strahlenden Tag, der sie beschämte und unsicher machte, – weil eben ›Wood's great drug-store‹ der einzige Platz war, wo man hingehen konnte.

Zwei Mädchen und ein junger Schwengel zwängten sich zwischen den vollbesetzten Tischen hindurch und gingen auf eine der Wandnischen mit Spiegelglaseinsätzen zu, wo sie ein junges Pärchen begrüßten. Helene hörte, was sie sagten, sie kannte diese dehnig-dösige Sprechweise, die sie »putzigen Nigger-Schwatz« zu nennen pflegte, ein ödes, leeres, hohles, formeliges, billiges, nichtiges, vollkommen gemeines Ach-so-reizend-Gerede. Sie hörte es, als lauschte sie ein paar häßlichen, kleinen Ungeheuern aus einer Zwergenwelt, aus der Distanz und der Perspektive des Unmuts und der Verachtung.

–: »... kam gerade 'rein um Muttern 'nen Besuch abzustatten, als wir weggehn wollten ... Ließ uns überhaupt nicht zu Wort kommen ... so 'ne Quasseltante hast Du im Leben nicht gehört ... Ei, dem Jim sein Gesicht hättest Du sehen sollen ... gestorben wärste, gestorben, sag' ich Dir ...«

Helene ging vorbei. Sie lächelte trotzdem. Sie pickte sich aus Zerstreutheit am Kinn. Gegen diese jungen Leute empfand sie plötzlich einen verdrossenen Widerwillen, in dem fast etwas wie bittre, persönliche Feindseligkeit war.

»Gräßlich, diese zurechtgemachten Frätzchen ... diese albernen Zierbengel ... nichts zu tun, wie hier herumhocken ... die Straße auf und ab bummeln ... den ganzen Tag Coca-Cola trinken ... und ... und ... und ... dann dran denken müssen, wie wundervoll mir das alles vorkam, als ich ein kleines Mädchen war ... mich in Staat werfen und auf den Stadtplatz 'raufgehn und dann mit Papa hierher ... und wie gemein und billig und trübselig es ist ...!«


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