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XCV

Das Dorf Mornaye, eine kleine, altbesiedelte Ortschaft, ein Dorf wie tausend andre, lag vor der Einfahrt des gleichnamigen Schlosses. Am Bahnhof hatte ein Mann mit einem Automobil auf die Gäste gewartet. Sie waren eingestiegen und fuhren nun durchs Dorf – – ein dichtes Gedräng von Häusergruppen, grau auf zitronengelb, altgebaut, Ziegeldächer, hie und da ein Strohdach darunter, der Kramladen, die Schusterwerkstatt, die Bäckerei, Einblicke durch kleine Gaupenfenster, ein Paar Bauernhäuser, flüchtiger Blick in eine alte, gepflasterte Hofreite, auf ein paar Fuhrwerke, auf landwirtschaftliches Gerät, in eine Scheuer – ein kleines Weltall für sich, fest zusammengepackt, ungebrochen, nah an den Straßenrand herangebaut – und dann, beinah sofort, das große Gattertor.

Sie fuhren durchs Tor, dann eine lange und stattliche Allee entlang, edle Bäume, und dann hielt der Wagen vor dem großen Schloßeingang. Ein Lakai war bereits schnell die Treppe heruntergeeilt, er riß den Schlag auf, verbeugte sich, und ein paar Augenblicke später, geleitet von dem Mann, der sie am Bahnhof abgeholt hatte, wurden die Gäste durch die Vorhalle in den großen Salon geleitet, wo die Schloßherrin sie erwartete.

Die Marquise de Mornaye war zwar eine Frau von etwa sechzig Jahren, aber nach der Spannkraft, der Rüstigkeit und der Frische ihrer Erscheinung mußte man annehmen, daß sie noch mitten in der Blüte ihres Lebens stand. Sie war eine ganz außergewöhnliche Frauengestalt, hochgewachsen und stark wie ein Mann, und ihre Persönlichkeit wirkte beinah berghaft ragend und gebieterisch. Der junge Mensch, der vor wenigen Tagen noch in seinem Lebensverdruß nichts anderes finden konnte, als daß die Franzosen dunkle und schwärzliche Menschen von kärglicher Gestalt wären, war nun überrascht, einer Frau von so großartigen Proportionen gegenüberzustehn.

Sie hatte ein breites, rundes Gesicht, glatt und braun und faltenlos, wie man es oft bei Bauern findet; ihre Augen waren rund, hell und schlau mit einem ganz feinen Geweb winziger Fältchen an den Ecken. Das kräftige, grobe Grauhaar trug sie straff zurückgekämmt aus der breiten, niedrigen Stirn. Sie war großgliedrig und leibesmächtig, alles an ihr war stark, stämmig und prall, alles, bis auf die Hände. Und diese Hände waren feist, weiß, winzig, sahen untauglich aus wie Kleinkinderpatschen, standen in einem erschreckenden Mißverhältnis zu der gewaltigen, fülligen, großen Gestalt.

Die Marquise trug ein langes, braunes Kleid, das sie vom Hals bis zu den Zehen vollständig einhüllte. Es war ein sonderbares, altmodisches Gewand, oder, genauer, es hatte anscheinend überhaupt nichts mit irgendeiner Mode oder irgendeinem Trachtenstil zu tun, und trotzdem war es großartig und paßte vollkommen zu der außerordentlichen Frau, die es trug.

In jeder Beziehung – Sprache, Ton, Gebärdung, Aussehn und Auftreten – verriet die Marquise eine schlichte, kraftvolle und ungeheuer tüchtige Wesensart. Das kräftige, braune Gesicht war freundlich und doch schlau und lebensklug. Sie begrüßte die Gräfin herzlich, aber ein belustigtes Leuchten in den hellen, runden Augen zeigte an, daß die Herrin auf Mornaye sich sehr gut in der Welt auskenne, sich nicht leicht zum Narren halten ließe und ihren Standpunkt in weltlichen Fehden wohl zu wahren wisse.

Sie stand aufrecht und lächelnd vor den eintretenden Gästen in ihrem großen Salon, einem riesigen, mindestens zehn Meter langen Raum, der behaglich, ja, sogar prunkhaft und dabei doch ganz schlicht eingerichtet war und trotz seiner Größe nicht kalt oder gar unwohnlich wirkte. Sie begrüßte die Gräfin sofort, und zwar herzlich, streckte ihr die feiste, kleine, weiße Hand entgegen und bückte sich und küßte die Zaunkönigin von einer Frau auf die runzlige Wange. Zu Ehren ihres jungen amerikanischen Gasts sprach die Marquise von allem Anfang an Englisch, und ihr Englisch war, wie alles andre an ihr und um sie, schlicht, kraftvoll und gradsinnig; sie sprach vollkommen fließend Englisch, wenngleich mit einem schweren, markanten Akzent.

»Vie geht's Ihnenn, meine Liebe?« sagte die Marquise, als sie die kleine alte Frau auf die Wange küßte. »Das tutt gutt, Sie nach so vielenn Jahrenn wiederzusähn. Vie lang is es, seit Sie zum letztenmal in Mornaye warenn?«

»Beinah sieben Jahre«, erwiderte die Gräfin eifrig. »Das letztemal – erinnern Sie sich? – war ich im Frühling 1918 hier.«

»O ja«, antwortete die Marquise wohlwollend. »Nun erinnere ich mich. Das war, als so viele von unserenn braven Amerikanern hier in Mornaye im Quartier lagenn. – Monsier«, sagte sie, die Anführung als Einführung nutzend und reichte gütig grüßend dem jungen Menschen die Patschhand. »Ich bin entzückt. Meinenn Sohn muß ich entschuldigenn. Ich weiß, er bedauert sähr, Sie nicht zu sähn.«

Der junge Mann errötete und stammelte seinen Dank für das freundliche Willkommen. Sie wandte sich, seine Verlegenheit scheinbar überhaupt nicht bemerkend, wieder an die Gräfin und erklärte lächelnd:

»Und vie ist es Ihnen ergangen, meine Liebe? Gut sähn Sie aus«, erklärte sie erfreut, »gar nicht älter als damals, als Sie zuletzt hier warenn. Ich glaub«, sie lächelte lustig und zog nun den jungen Mann mit diesem Lächeln in die Unterhaltung herein, »– die Gräfin muß – wie nennenn Sie es, eh?« Sie zuckte die Achseln. »– das Geheimnis vom Jungkbrunnen entdeckt habenn, eh?«

»Ach! ... Ah-hah-hah!« Die Gräfin, die große Frau schranzenhaft umschmeichelnd, war offensichtlich beglückt über diese Anzeichen von Intimität. »So gütig von Ihnen, das zu sagen ... aber ich befürchte, ich bin recht gealtert, seit ich Sie zum letztenmal sah. Ich habe sehr viel durchgemacht«, erklärte sie traurig, »und Sie wissen ja, daß die Gesundheit bei mir viel zu wünschen übrigläßt.«

»A-ch!?« sagte die Marquise mit besorgter Miene, gleichsam anfragend. »Das tut mir aber sähr leide«, fuhr sie fort im Ton eines zwar unanfechtbaren Bedauerns, der aber nichtsdestoweniger auch anzeigte, daß sie wirklich dem guten oder schlechten Gesundheitszustand der Gräfin kein Gewicht beimaß. »Vielleicht, meine Liebe, ist es das ellende Klima hier. Ich denke, Sie sollten wohl im Vintähr in den Südenn gähn ... Ah, Monsieur«, sagte sie bedauernd zu dem jungen Mann, »schade, daß Sie Mornaye zu so einer schlechten Jahreszeit sähn. Ich fürchte, daß Sie unsre Gegend enttäuscht. Ich hoffe, Sie värden einmall im Frühlingk herkommen. Dann wärden Sie sagen müssen, La France ist schön.«

»Das möchte ich gern«, entgegnete der Angeredete.

»Aberrach! Dieser Vintähr! Dieser Vintähr!« rief die Marquise aus. Sie verschränkte die Arme, zog sich zusammen, und es war, als überliefe es sie kalt, als sie nun durch eine hohe Fenstertür hinaussah auf einen jener großartigen, herrlichen Landschaftsdurchblicke, wie man sie in Frankreich findet, Anlagen von stolzer, schöner Wohlberaumtheit, die selbst der Natur das Maß und die Verhältnisse des gestaltenden Willens aufzwingen. Durch die Fenstertür sah man hinaus auf einen ungeheuren, weithin aufgerollten Parkrasen, der sich, klar eingefaßt von dichten, rauchig verhangenen Gehölzen, im nebligen Horizont verlor. Die weitsichtigen Augen der Marquise schweiften flüchtig über dieses edle Bild, sie fröstelte vor dem winterlichen Anblick, ihr Oberkörper und die verschränkten Arme bebten in einem leichten Kälteschauder, sie wandte sich ab und erklärte unmutig:

»Ach, dieser Vintähr! Dieser Vintähr! Manchmal denk' ich, er wird nie endenn. Jeden Tag«, erklärte sie entrüstet, »Regen, Regen, Regen! Den ganzen Vintähr langk seh ich nichts wie Reggenn! Am Morgen stäh ich auf und sah hinaus: – Reggenn! Ich wend' mich ab und sah dann wieder hinaus: – Reggenn. Ich mach' mein Schläffchen, stäh auf, ... ich gäh ins Bett, es kommt der Morgenn: – immähr Reggenn!« Sie zuckte komisch mit den Achseln, sie wandte sich an den jungen Menschen, in ihren Augen erschien ein listig-lustiges Licht, sie sagte: »Wenn ess so weitergäht, dann glaub' ich, die – wie nennenn Sie das? – Sintflute kommt wiedähr! Eh?«

Die Gräfin gluckte teilnahmsvoll über diesen Wehbericht von Wasserwettern und sagte:

»Aber sind Sie den ganzen Winter hier allein gewesen? Ich kann mir vorstellen, daß Sie furchtbar unter der Einsamkeit leiden müssen, meine Liebe.« Und im Ton des schmeichelhaften Mitgefühls: »Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muß, Ihren Sohn zu entbehren.«

»Nein, das ist es nicht. Ich war in Paris zwei Wochen langk im Dezembähr, aber auch da: – Reggenn!« sagte die Marquise, und wieder zuckte sie komisch verzweifelt mit den Achseln. Und dann bekräftigte sie nochmals: »Nein, das ist es nicht! Ich leide gar nicht unter der Einsamkeit, wenn es nicht reggnett. Aber wenn es reggnet, dann ist es schrecklich ... Kommenn Sie!« sagte sie barsch, beinah schroff und ging vom Fenster weg. »Setzenn vir uns ins Varme.« Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, ging sie voran nach jener Seite des großen Raums, wo im Kamin ein freundliches Kohlenfeuer knatterte. Die drei Leute setzten sich behaglich im Halbkreis um das Feuer herum, die Marquise klingelte, sagte einem Tafeldiener ein paar Worte, der Mann kam zurück und brachte Gläser und eine Karaffe mit altem Sherry auf einem Auftragbrett.

Die drei Leute saßen dann zusammen und sprachen freundlich und von vielen Dingen. Die Marquise fragte den jungen Mann Sachen über Amerika, erkundigte sich über dessen Aufenthalt in Paris, wollte wissen, ob er auch andre französische Städte gesehn habe, kam auf ihren leider abwesenden Sohn zu sprechen, berichtete von der großen Freundschaft, die der Sohn seit seiner Reise mit dem Marschall Foch für Amerika und die Amerikaner empfand. Die Gräfin derweil – mit einer Verschmitztheit, die komisch naiv wirkte, weil ihr Gehaben einer schmählichen Selbstentblößung gleichkam – tippte von Zeit zu Zeit den jungen Mann mit einem dürren, hautigen Finger an und wisperte heiser:

»Stellen Sie ein paar Fragen, mein Lieber! Sie müssen Fragen stellen und in Ihr Notizbuch schreiben. Das macht 'nen guten Eindruck.«

Und obschon der junge Mann nun das listig-belustigte Licht in den scharfsichtigen Augen der Schloßherrin glitzen sah und erkannte, daß der Marquise keine kleinste Bewegung aus diesem plumpen Zwischenspiel entgangen war, und auch wußte, daß diese gescheite, weltkluge Person die Absichten der anderen Frau vollkommen durchschaute, so begann er doch pflichtschuldig, wenn auch unbeholfen ein paar respektvolle Fragen vorzubringen. Es waren Fragen über das Alter und die Geschichte des Schlosses, die Größe der dazugehörigen Herrschaft und so weiter, und schließlich, erkühnt durch den bescheidenen Erfolg dieses Beginnens, mutmaßend, ein heller junger Zeitungsschreiber müsse wohl eine verständige Neugier bezeigen für die öffentlichen Angelegenheiten des Landes, das er bereise, stellte er eine Frage über die damalige Regierung in Frankreich, die, von Herriot geführt, vorwiegend sozialistisch war.

Das war, wie sich herausstellte, eine unglückliche Wendung. Zu spät hatte die Gräfin den Frager mit einem scharfen Warnfinger angestochert; der junge Mensch merkte augenblicklich, daß die Erwähnung einen schlechten Eindruck auf die Marquise gemacht hatte. Ihre herzlich umgängige Freundlichkeit war wie weggewischt, die Gesichtszüge wurden hart, Zorn funkelte aus den gescheiten Augen, und im nächsten Augenblick kam barsch und in arrogant ungeduldigem Ton die Antwort:

»Ich veiß nichts von diesenn Leutenn! Ich geb' auf nichts acht, vass sie sagenn! Sie sind Narrenn! Narrenn!« rief die Marquise heftig aus. »Sie müssenn nichts glaubenn, vass sie sagenn! Diese Männer sind Verräter! ... Scharlatane! ... Sie haben Frankreich ruiniert und betroggenn!« In ihrer Aufregung war sie aufgesprungen und rannte ins Zimmer; sie ergriff eine Zeitung, die auf einem Tisch lag, und kam damit zurück. »Hier!« rief sie. »Hier! Das müssenn Sie lässen, wenn Sie die Varrheit wissen vollenn!« Sie stieß dem jungen Mann eine Nummer der ›Action Française‹ in die Hand ... »Diese Seitungk, diese Seitungk ganz allein, saggt Ihnenn die Varrheit darüber, wie es heute in Frankreich stäht. Ah, monsieur!« rief sie sehr ernst aus, »Sie ahnenn ja nicht, die Velt ahnett ja nicht, kein Mensch außerhalb von Frankreich kann es ja ahnenn, vas die Varrheit ist, veil diese Ellenden die Presse in der Gevalt habenn, so daß die Seitungken drucken müssen, vas jene Männer sagenn. Aber lässen Sie diese da, monsieur! Lässen Sie diese da!« Beim Sprechen schlug sie mit dem Handrücken auf die Zeitung. »Dan vissen Sie die Varrheit. Ah, dieser Mann«, sagte sie mit einem ingrimmigen Gluckern der Bewundrung, »der rédacteur, der – vie sagenn Sie? – der editor von dieser Seitungk, Léon Daudet, – der Mann ist richtig!« Sie gluckerte ein Gluckern der Genugtuung. »Dieser Mann vird manchmall grobb, er gebraucht Schimpfnamenn, er ist nicht immähr très gentil aber –« Sie gluckerte grimmig. »– er ist richtig, er hat recht! Er saggt die Varrheit, er saggt diesen Leutenn, vass sie sind: – Verräter und Verbrecher, die Frankreich ruiniert habenn.« Sie schwieg eine kleine Weile, und dann erklärte sie heftig in einer von Leidenschaft harschen Stimme: »La France, monsieur, ist ein royaume – eine – vie sagenn Sie? – a monarchy, a kinkdom. Die Franzosen brauchen einen kink. Sie sind verloren ohne kink. Sie können sich nicht selber regieren ohne kink ... Monsieur!« Sie schrie es fast heraus. »Es gibt kein Frankreich ohne kink! Es hat kein Frankreich gegeben, seit die Monarchie von diesen scélérats gestürzt wurde! Frankreich ist verrattenn vorden, monsieur! Und es vird erst viedähr ein Frankreich gebenn, venn der kink viedähr in sein Amt und Recht eingesetzt ist und diese Verräter und Verbrecher auf die Guillotine geschickt verdenn, vo sie hingehörenn! ... Also, monsieur, fragenn Sie mich nicht über diese Männer«, sagte sie mit der ganzen Hoffart der Königstreue. »Von diesen Leutenn veiß ich nichts. Ich gäbbe nicht auf sie acht. Sie sind Narrenn, ... Verräter ... Verbrecher ...«, schrie sie. »Aber lässen Sie diese Seitungk, da werden Sie die Varrheit finden.«

Der Atem der Marquise ging schwer, ihre Augen leuchteten im Funkelfeuer der Leidenschaft. In diesem Augenblick trat zum Glück der Tafeldiener ein, verbeugte sich und meldete seiner Herrin leis, das Essen sei serviert. Diese Worte brachten die Erzürnte sofort zurück auf ihre Gastgeberpflichten. Mit einer Plötzlichkeit, die fast komisch wirkte, nahm sie ihr vorheriges Gehaben anmutiger Herzlichkeit wieder an. Sie lächelte ihre Gäste freundlich-wohlwollend an, fragte vergnügt: »Nach der langken Reise und soviel Gespräch sind wir 'ungkrig, ja!« und ging voran nach dem Speisezimmer.

Die Gäste folgten, und die kleine alte Gräfin nahm die Gelegenheit wahr, ihrem jungen Begleiter verstohlen und warnend, nervös und vorwurfsvoll zuzuflüstern:

»Hätten Sie nicht fragen sollen, mein Lieber. Bitte, kein Wort mehr über Politik!«

Der Speisesaal – ebenfalls ein großer und großartiger Raum – war, wie überhaupt das ganze Schloß, eine edle Harmonie aus Kraft und Anmut, Glanz und Schlichtheit, Wärme und Vornehmheit, und diese Elemente bildeten eine Einheit von jener fürstlichen Würde, die der Triumph einer bestimmten Periode französischer Architektur ist. Obschon es etwas kühl in dem unzulänglich geheizten Raum war, spürte man sofort die lebendige, edle Wärme des wohnlichen Gepräges.

Der junge Mensch hatte diesem Besuch mit beträchtlichem Unbehagen und bangen Vorgefühlen entgegengesehn, und nun fühlte er sich hier vollkommen wie zu Hause, und eine tiefe, friedlich holde Freude regte sich in ihm über die edle Schönheit und Schlichtheit des Schlosses. Er bemerkte, daß die Lebenshaltung der Marquise ein wenig eingeschränkt war, insofern sie ein und denselben Diener zu verschiedenen Aufgaben heranzog, er sah, daß die Livreen des Personals abgetragen waren, und auch das hatte etwas Angenehmes, Anheimelndes und Vertrautes, und er bemerkte nun zu seiner Überraschung, daß er nichts von der Beengtheit und Betretenheit verspürte, die ihn seinerzeit so verlegen gemacht hatte, als Joel Pierce ihn auf das große Besitztum seiner Eltern am Hudson River mitgenommen hatte und er zum erstenmal gesehn hatte, wie die großen amerikanischen Millionäre leben.

Bei der Marquise des Mornaye wurde er sich nicht jenes exakt manierierten Stils bewußt – eines Stils, der gerade dann am manieriertesten war, wenn er schlicht zu sein vorgab, – jener vulgären Arroganz, die er unter den reichen Amerikanern aus Joel Piercens Klasse gespürt hatte. Die Marquise war so selbstverständlich wie ein alter Schuh, so kräftig und munter wie eine Bäurin und dabei durch und durch aristokratisch, sie war, was sie war, sie war es großartig und ohne eine Spur von Ziererei und Vorgeblichkeit, – und dabei eine Frau, wie sie von jener Gesellschaftsschicht, der Joel Pierce angehörte, umschmeichelt worden wäre, eine Frau, der man in jenen Kreisen das Lösegeld für einen König ausbezahlt haben würde, hätte man sich dafür durch einen Sohn oder eine Tochter in ein Verwandtschaftsverhältnis zu ihr und ihrer Familie einkaufen können. Die Marquise setzte den jungen Mann zwischen sich und die Gräfin, so daß diese ihr gegenüber saß, und man fing sofort an zu tafeln. Das Essen war großartig, und zu jedem Gang gab es einen andern Wein, und zwar einen Wein aus dem berühmten Keller des Schlosses, einen Wein, der nach Wachstum und Jahrgang königlich war. Die Marquise ließ einem nicht den geringsten Zweifel über ihren robusten Appetit, und durch alles, was sie tat und war, durch ihre schlichte Gescheitheit, ihre Wesenswärme, ihre gesunde Menschlichkeit, kurz, durch ihr Beispiel machte sie einem klar, daß sie von ihren Gästen erwarte, daß auch sie herzhaft äßen und sich nicht allzu geziert und zimperlich dabei benähmen.

»Venn man jungk ist wie Sie«, sagte sie lächelnd zu ihrem jungen Gast, »dann hat man ordentlich 'ungker, nicht varr?« Sie führte den Löffel zum Mund, schluckte ein wenig Suppe, schmatzte entzückt mit den Lippen und erklärte mit schlichter Bestimmtheit:

»Sie ist gut! Oui! Ich glaub', sie vird auch Ihnenn schmeckenn.« Sie wandte sich an die Gräfin, die nichts angerührt hatte, und sagte streng:

»Vorauf varten Sie, meine Liebe? Sind Sie nicht 'ungkrig? Sie müssen essenn!«

»Ah-hah-hah!« Die Gräfin gluckte ein kleines, unentschiednes Lachen und starrte unverwandt heißhungrig die dampfende Suppe an. »Sie wissen ja, meine Liebe, der Arzt hat mich auf Diät gesetzt – sang de cheval, wissen Sie«, schwatzte sie halbgeistesabwesend, während die Gieraugen nun verschlingend über den Tisch gingen ... »Ich esse beinah nichts, – wirklich, meine Liebe, ich glaube nicht, daß ich etwas essen sollte.« Mit ihrer gierigen kleinen Kralle grapste sie ein Stück Brot, brach es, so daß die Kruste appetitlich krachte, und stopfte sich die Brocken in den Mund, überhastig wie ein ausgedarbtes Tier. »Ah-hah-hah!« Die ausgehungerte alte Frau lachte beinah hysterisch verzückt und versuchte mit vollem Mund weiterzusprechen. »Ich weiß, ich sollte nicht – aber Sie haben immer so gut zu essen, meine Liebe.« Sie griff nach dem Besteck, nahm einen Löffel Suppe, schlürfte ihn mit einem langen Sabberlaut. »Ah, mon Dieu! Mon Dieu!« gurgelte sie hingerissen. »Quel potage!«

So ging die Mahlzeit von statten. Wenn man so eine rüstige Esserin wie die Marquise neben sich sitzen hatte, fiel es nicht schwer, ihrem Beispiel zu folgen; die Suppe – eine köstliche, würzige, ländlich gediegene Sache – war im Nu ausgelöffelt, und dann, so, als hätte sich der Hunger an der Speise gesteigert, ging's an das Hühnchen. Das Huhn, schön fett, schien hauptsächlich aus saftigem Brustfleisch zu bestehn; es war so jung, rösch, zart, feist und saftig, daß es einem geradezu im Munde zerschmolz. Der junge Mann nahm zwei oder drei rhapsodische Bissen, und da war auch schon kein Stückchen Huhn mehr auf seinem Teller, woraufhin die Marquise mit heller Stimme, über den matten, nicht gerade beherzten Protest des Gasts hinweggehend, zu ihrem Tafeldiener sagte: »Encore du poulet pour Monsieur.« Und ein zweites Huhn, noch feister, röscher und zarter als das erste, wurde sofort gereicht. Und dann kamen der Rostbraten und die Gemüse.

Der junge Mensch hatte im Leben nicht besser gespeist, und alles, die grünen Bohnen, die Erbsen, das Roastbeef, schien ihm wie ambrosialischer Äther im Mund zu zergehn, und zu jedem Gang kam ein andrer Wein, und jeder Wein war noch erlesener, köstlicher, älter, voller als der vorhergehende, und der Tafeldiener schenkte ständig ein, und der junge Mensch zechte den großen Wein, der ihm mit seiner glorreichen Wärme, mit seinem herrlichen Duft durch alle Adern, durch Herz, Gemüt und Seele drang. Beim Tafeln wurde nur wenig gesprochen, manchmal war kein Laut zu vernehmen außer dem Krachen krustigen Brotes, dem Klingen silberner Bestecke, dem Schluck und Schlurf genossenen Weins, dem ganz leisen Tinke-Tinke der Gläser und den ruhig geflüsterten Befehlen, die der Tafeldiener seinem Gehilfen gab, während die zwei sich schnell, geschickt und lärmlos bewegten und dem Esser immer schon die Platte reichten, so, als hätten sie dessen gastronomische Wünsche und Hoffnungen längst erkannt, ehe er noch Zeit gehabt hatte, den Mund aufzutun und davon zu reden.

Die Marquise aß mit kräftiger Hingabe und Sammlung. Von Zeit zu Zeit ließ sie das Besteck rasten, griff nach dem Weinglas und nahm einen tüchtigen Schluck; dann stellte sie das Glas ab, wischte sich bedächtig mit der Serviette den Mund und hielt einen Augenblick inne, um ein wenig schwer und mit einer herzhaft befriedigten Miene aufzuatmen.

Die Gräfin aß wie ein ausgedarbter Wolf. Während die Bewegungen der Marquise von einer herzhaften, bedächtigen Rüstigkeit waren, waren die der Gräfin rasend schnell und gierig. Die scharfen, habsüchtigen Äuglein funkelten beinah wahnsinnig erfreut, und die alte Frau trank manchmal ein Glas Wein auf einen Zug aus. Die Fülle und Vielfalt der Gerichte verwirrte und erregte sie so, daß sie in ihrer Hast oft nicht wußte, wovon sie zunächst nehmen wollte und nach allen Richtungen zugleich griff, während ihre geizigen Augen von einer Schüssel zur andern flitzten, und Huhn, Rostbraten, Gemüse, Salat, Wein verschwanden wie weggehext von ihrem Teller, aus ihrem Glas, aber gleich war der Teller wieder voll, das Glas wieder gefüllt, und die ganze Zeit äußerte die arme alte Frau ihr Entzücken in einem listigen, halbabgerissenen Monolog und gluckte und murmelte vor sich hin:

»Ah-hah-hah!« Ratsch, ratsch, ratsch! Weg war das Stück Hühnchen. »Mon Dieu! Ist das aber gut! Ah-hah-hah!« Glock, glock, glock! Durch die Gurgel rollte der Wein. »Mon Dieu! Mon Dieu! Welch ein Essen! Was für ein Wein! – Mais oui! Mais oui! ... Und peu encore, s'il vous plaît! Quel boeuf! Quel boeuf!«

Worauf die Marquise, die gerade ihr Glas abgestellt und sich den Mund gewischt hatte, die Gräfin über den Tisch hinweg anguckte und sagte:

»Schmäckt's Ihnenn, eh? Bon? Mais oui! Il faut manger«, erklärte sie derb und griff wieder rüstig nach dem Besteck.

Als man schließlich beim Käse, einem reifen, köstlichen Brie, angekommen war, hatte sich die Marquise de Mornaye endlich genug gestärkt, um eine Unterhaltung in Gang setzen zu können. Mit einer entschiedenen Gebärde stellte sie ihr Weinglas hin, richtete sie sich auf, wischte sie sich den Mund. Einen Augenblick noch saß sie stumm da in der Haltung des gründlich Gesättigten, dann wandte sie sich an ihren amerikanischen Gast und fragte:

»Kännenn Sie Patterson T. Jones, eh? Er ist Offizier im amerikanischen Heer ... Wie nännen Sie den Rangk? ... Major in der Armee!« Sie hatte diese Frage mit einer so naiven Zuversicht gestellt, als müsse der Name des Majors Patterson T. Jones jedem Amerikaner bekannt sein. Als der junge Mann jedoch sagte, er kenne den Major Patterson T. Jones nicht und ferner gestand, er habe auch nie von ihm gehört, machte die Marquise ein leicht erstauntes und enttäuschtes Gesicht. Einen Augenblick später sagte sie grimmig, während ihre schlauen Augen ein wenig kleiner wurden:

»Diesenn Gentleman möchte ich sähr, sähr gern wiedersähn. Ich möchte sähr, sähr gern wissen, wo er nun ist ... Attendez!« sagte sie schnell. Ihr war etwas eingefallen. »Vielleicht kennenn Sie den Mann doch, wenn ich Ihnen seine Photographie zeige ... Guillaume!« Ihre Stimme hob sich ein wenig, als sie befahl: »Apportez moi les photographies des officiers américains!«

»Oui, madame«, sagte der Tafeldiener und ging schnell und lautlos ab.

»Ja«, erklärte die Marquise im Ton eines Menschen, der sich mit einem grimmigen Gedanken trägt. »Ich möchte sähr, sähr gern wissenn, wo Major Patterson T. Jones zu findenn ist.«

Der Diener kam mit mehreren großen, viereckigen Photographien zurück, die er seiner Herrin mit einer Verbeugung reichte.

»Sähenn Sie 'ier!« sagte die Marquise. Sie hatte ein Bild aus dem Stoß herausgesucht und deutete mit dem Finger drauf. »Das wurde hier aufgenommenn in diesem Zimmähr bei einem großenn Bankett, das ich 1918 den Amerikanern gabb. Das da«, sagte sie stolz, »das bin ich – c'est moi, la marquise!« rief sie lustig und lachte zufrieden, während der feiste, weiße Finger auf ihr strahlendes Konterfei deutete. Sie saß auf dem Bild am Kopfende eines langen, üppig gedeckten, von schwerem Silber und feinem Porzellan blinkenden, linnenschimmernden Tischs, auf dem auch ein wahres Walddickicht dunkler, angekrustet aussehender, alter Weinflaschen stand, die offenbar bei jenem denkwürdigen Gelage geleert worden waren. »Und das da«, sagte die Marquise nun grimmig und deutete, »das da ist Major Patterson T. Jones. – – Kennen Sie ihn, eh?« fragte sie.

Der junge Mann sah das Bild einen Augenblick an, dann reichte er es der Marquise zurück und sagte, das Gesicht des Majors Patterson T. Jones sei ihm nicht bekannt.

»Patterson T. Jones«, sagte die Marquise langsam in einem grimmig entschlossenen Ton, »ist ein Gentleman, den ich sähr, sähr gern sähn möchte. Er ist der Mann, der mein Bild genommenn hat, der mir gesagget hat, er vürde mir sähr viel Geld dafür bekommenn, oh! so eine große Summe Geld, venn er mein Bild nach Amerika nehmenn vürde.« Sie lachte ironisch. »Und so habb ich ihn das Bild nehmenn lassenn, und seitdähm habb ich nichts von ihm gehöret.«

»War es – war es Ihr eignes Bild, Marquise? Ein Porträt von Ihnen?«

»Mais non, mon ami«, erklärte sie ungeduldig. »Das vill ich Ihnenn geradde erzählenn. Es war ein Bild, eine Photographie von Le Maréchal. Es gab überhaupt in Existenz nur sechs solche Bildähr von Le Maréchal. Ich sagge zu Madame Foch einmall, als ich in Paris var, als ich das Bild in ihremm Hause sah, – ich sagge also ›Oh, meine Liebe, diesäs so liebliche Bild von Le Maréchal – so eines muß ich habenn.‹ So sagge ich. – ›Ah!‹ saggt sie, ›ich veiß nicht, Mathilde, diese Bildähr verschenkt er nicht gern. Ich 'abe nur drei‹, saggt sie, ›aberr warte. Ich värde sähn, vas ich tun kann.‹ – Dann einenn Abend habbe ich Diner in ihremm Haus. ›Mathilde‹, saggt er, ›für vas villst Du mein Bild? Ich gäbb es Dir, und dann vollen die andern Mädchenn alle auch eins 'abenn. Ich mache meine Frau jalouse‹, saggt er, ›und dann gibt es keinenn Frieden. Ich 'abe genug vom Krieg, ich bin zu alt, einen andern anzufangkenn mit meiner Frau.‹ ›Du gibst mir das Bild‹, sagge ich. ›Ich bin kein jungkes Mäddchen vom Ballett, daß ich Deine Frau jalouse mache. Sie vill auch, daß Du mir eines gibbst.‹ ›Bon‹ saggt er. ›Da ist es also‹ ... Und er gibbt mir diese so liebliche Photographie und daruntähr steht sein Name geschriebenn für mich: ›An Mathilde, alte Kameradin, treue Freundinne.‹ – Ich bringke das Bild mit nach Mornaye zurück«, fuhr die Marquise fort, »und Major Patterson T. Jones sieht es, während er hier ist. ›Vieviel vollen Sie für dieses Bild da von Le Maréchal?› fraggt er mich. ›Oh!‹ sagge ich. ›Das kann ich nicht saggen. Ich 'abbe bereits ein Angebott für sehntausend Francs›, sagge ich, ›aber ich vill es nicht verkaufenn, weil der Maréchal selbähr es mir geschenkt hat.› ›Well‹, saggt Major Patterson T. Jones, ›lassen Sie mich das Bild mitnähmenn, venn ich nach Amerika zurückkähre, und ich verde es für Sie verkaufenn.‹ ›Vieviel werden Sie da für mich bekommen, eh?‹ fragge ich. ›Oh‹, saggt er, ›ich kriege swansiktausend Francs für Sie, – vielleicht sogarr mähr.‹ ›Sicher?‹ fragge ich. ›Mais oui!‹ saggt Major Patterson T. Jones. ›Absolument!‹ – ›All right!‹ sagge ich. ›Ich gäbbe es Ihnenn zum Verkauff. Venn Sie swansiktausend Francs dafür bekommenn, gäbbe ich Ihnenn fünftausend davonn‹, sagge ich. Und so nimmt er mein Bild mit und fährt weg, und seitdähm«, schloß die Marquise erbittert, »habe ich nie mähr von ihm gehört.«

»Ah!« rief die Gräfin entrüstet aus. » Le scélérat!«

»Mais oui!« versicherte die Marquise nun leidenschaftlich. »Es ist infâme! Diesähr Mann 'at mein Bild, ich 'abbe nichts. – Das letzte mal, als Madame Foch hier var, sie sieht sich um, sie saggt: ›Aber vo, meine Liebe, vo ist das Bild, das Le Maréchal Dir gegäbben hat. Ich sah es nicht‹, saggt sie. Was konnte ich da machenn?« meinte die Marquise verzweifelt. »Ich kann nicht saggen: ›Ich verlor es!‹ Ich kann nicht saggen: ›Ich gab es einem Amerikaner, der es für mich verkaufen wollte!‹ Ich weiß nicht, vas ich saggen kann, und alles, vas ich vußte, var: ›Meine Liebe, ich 'abb es in Paris gelassen mit meinem Sohn Paul, als ich dort bei ihm var, er hat es, und das nächstemal, venn er nach Mornaye kommt, bringkt er es mit.‹ Aber venn sie nun wieder kommt, vas für eine Geschickte kann ich ihr dann erzählenn?« fragte die Marquise. »Ah! Diesähr scélérat! Diesähr Patterson T. Jones! Venn ich ihn mall zu fassenn kriege, dann vird er, glaub ich, an mich dänkenn!« Ihr ingrimmiger Ton und das Glitzen in ihren Augen beließen keinen Zweifel über die bedrohliche Natur ihrer Absichten. »– Aber, ist es nicht infâme, monsieur«, fragte sie mit einer tugendsamen Entrüstung, die nun, nachdem sie kurz zuvor ihre eigne Habsucht und Geldgier so naiv bloßgestellt hatte, ergötzlich wirkte, »ist es nicht virklich infâme, daß einem jemand ein Bild vecknimmt, das man von einem Freund hat, und einem viel Geld dafür verspricht und dann nichts von sich hörenn läßt? Scélérat! Dieb!« murmelte sie. »Den Gentleman möchte ich in meine Fingkähr kriegenn! – Aber nun, monsieur«, unvermittelt, mit einem gewinnenden, schmeichlerischen Lächeln wandte sie sich an den jungen Mann, »muß ich mit Ihnenn einen kleinen speech machenn. Sie sind, wie mir die Comtesse erzählt, ein jungker Journalist, – eh?«

»Nun, Marquise.« Er errötete und begann, eine unbeholfne Erklärung hervorzubringen. »– ich kann nicht gerade behaupten – –«

»Mais oui!« warf die Gräfin schnell dazwischen. »Er hat sehr viele gescheite Sachen geschrieben – Artikel – pour les grands journaux américains, n'est-ce pas – la tête, vous voyez?« wisperte sie listig. Sie hatte sich ein wenig nach vorn geneigt und beim Sprechen dem jungen Mann eifrig zugenickt. »C'est très intelligent, n'est-ce pas?«

»Et pour ›Le Times‹?« erkundigte sich die Marquise. »Il écrit tous ça pour ›Le New York Times‹?«

»Mais oui«, sagte die Gräfin glattzüngig, eh der junge Mann noch einen Einwand vorbringen konnte. »Il est déjà bien connu. Moi – j'ai lu beaucoup de choses de sa main –«

»Nun hören Sie aber mal«, begann der junge Mann und funkelte das verlogene alte Weib über den Tisch hinweg zornig an. »Sie haben kein Recht – –«

»Ah oui!« fiel die Marquise hier ein. Sie nickte kräftig, sie hatte den jungen Mann kurz angesehn und war befriedigt. »C'est très évident! Il est intelligent! Bon!« sagte sie entschieden, und mit dem Air eines Menschen, der einen gefaßten Entschluß in die Tat umsetzt, wandte sie sich an ihren jungen Gast: »Nun, monsieur, vill ich Ihnen saggenn, vas mir vorschwebbt«, erklärte sie. »Ich 'abbe ein großes 'ospital, nicht varr?« erläuterte sie und lächelte ein wenig über sein rätselhaft betretnes Gesicht. »Ich bin – vie nennenn Sie es? – le président, le directeur – n'est-ce-pas? – von einemm großen 'ospital im Norden. Vir 'abben da die Soldaten – n'est-ce pas?? – die oh so vielen blessés ... les pauvres!« rief sie im Ton des Mitleids aus. »– les mutilés de la guerre ... vir 'aben altes Gebäude – es ist nicht gutt, es ist nicht groß genuck, nicht moderne, und so«, fuhr sie schlicht fort, »bauenn vir ein anderess – groß und moderne – und – « Ihr Ton deutete an, daß sie zum Schluß ihrer Erläuterung käme: »– vir brauchenn Geld.« Sie schwieg eine kleine Weile und strahlte den jungen Gast hoffnungsvoll an. »Monsieur«, sagte sie alsdann; sie sagte es schmeichlerisch und mit einem Gehaben von so naiver Zuversicht, daß es erstaunlich war: »Ich glaube, venn ich Ihnenn sagge, vas vir brauchen – vieviel Geld –« Ihre Stimme sank zu einem schlauen Flüstern herab. »– dann verden Sie es für uns beschaffenn – eh?«

Er sah sie einen Augenblick bestürzt an, außerstande, etwas zu erwidern. Schließlich stammelte er:

»Aber wie? – Wie denken Sie sich's denn? –« Er fragte dumm: »Was kann ich denn Ihrer Meinung nach da tun?«

»Ah!« rief die Marquise triumphant. » C'est facile!« Ihre Stimme wurde wieder leis, vertraulich, listig. »Sie sind Journalist – eh? Sie schreibenn für das grand journal américain, de New York Times – ja? ... Nun«, meinte sie gemütlich, »ich verde Ihnenn saggen, vas Sie schreibenn. – Sie schreibenn den Artikel für die ›Times‹, Sie sprechenn von diesem großenn 'ospital, Sie erzählenn von dem großenn Verk der Viederherstellungk, von den pauvres soldats, les blessés, les mutilés – Sie sagen, La France hat nichts, sie haben kein Geld in Frankreich, die armen Leute haben alles verlorenn – Sie sagen dann, vir haben so viel, nämlich die reichenn Amerikaner, vir dürfen dieses große Verk nicht untergehenn lassenn, vir müssen den armen Soldatten helfen, vir müssenn das Geld gebbenn für das 'ospital ... Sähenn Sie, ich sagge Ihnenn, vas Sie tun«, rief sie mit einem zutraulichen Gluckern. »Venn Sie vollenn, schreib ich es sälbähr, und vas Sie dann tun, ist, daß Sie machenn – vie nennen sie es? – la traduction

»Wieviel – wieviel brauchen Sie denn?«

» Un million de francs«, erklärte sie leichthin, mit einer luftigen Handbewegung über die Bagatelle hinweggehend. »– Vas ist das für die américains? Pouf! Nichts! Mais pour des Français – ah!« erklärte sie traurig. »Für die Franzosen ist es zuviel. Un millionaire américain – er liesett Ihre Geschickte – er saggt: ›Vir dürfenn diese große Verk nicht untergähenn lassenn‹ – er schreibt einenn Scheck für die ganze Summe – und dann –« Das Lächeln der Zufriedenheit wurde strahlender. »– schickt er ihn an mich. – Er schreibt den Scheck aus auf die Marquise – das tutt er ganz unfählbar – und schickt ihn mir.« Sie schwieg einen Augenblick und lächelte den jungen Mann sieghaft an. Als sie dann wieder sprach, neigte sie sich zu dem jungen Mann, und ihre Stimme wurde leis, vertraulich, verschwörerisch listig. »Und ich sagge Ihnen, vas ich tun verde ... Sie schreibenn den Artikel und beschaffenn das Geld ... und ich gäbbe Ihnen den vierten Teil – fünfundswansik Prosent – non?«

Und als der junge Mensch sie einfach anstierte, ja, mit offnem Munde anstaunte, reckte sie sich, nickte und sagte mit der Miene eines Menschen, der eine Sache befriedigend vereinbart hat, und in einem geschäftsmännisch bündigen Ton:

»Bon! Dann ist es abgemacht.«

Sie erhob sich, die Gäste erhoben sich ebenfalls. »Kommen Sie mit«, erklärte sie entschieden und schlüssig, als sie ihre Gäste aus dem Speisezimmer geleitete, »ich verde Ihnenn die – vie nennenn Sie es? – die Unterlaggen gäbben.«

Sie war bereits gegangen, als der Bestürzte endlich mit ein paar herausgeblökten Worten gegen das Ansinnen aufbegehren konnte; die Gräfin, die neben ihm ging, stocherte ihn scharf mit einem dürren Finger an und murmelte vorwurfsvoll flehentlich:

»Bitte, halten Sie durch, mein Lieber! Halten Sie durch! Und Sie müssen mehr fragen! Es macht keinen guten Eindruck, wenn Sie einfach dasitzen und schweigen. Und Sie sollten von Ihrem Notizbuch Gebrauch machen«, rief die Gräfin verschmitzt. »Sie sollten sich aufschreiben, was sie Ihnen sagt.«

»Nichts werde ich mir aufschreiben!« platzte er wütend heraus. »Ich bin diese Albernheit satt! Ich laß mich nicht länger in diese verdammten Weiberspekulationen 'reinziehn, fällt mir ja gar nicht ein! Ich sag' dieser Frau jetzt klipp und klar, daß ich nicht dran denke, 'nen Artikel zu schreiben, weder für die ›Times‹, noch für sonst 'ne Zeitung!«

»Oh, mein Junge«, flehte die alte Frau. »Bitte, das können Sie nicht tun! Ich flehe Sie an, sagen Sie das nicht! ... Bedenken Sie doch, was das für mich bedeuten würde«, flüsterte sie. »Ich bin so arm und elend ... Seit Jahren sehne ich mich nach einer Gelegenheit, diese Frau zu sprechen ... Für mich bedeutet es so viel, und für Sie bedeutet es so wenig. Seien Sie doch höflich, mein Lieber! Es ist ja nur auf kurze Zeit. Wir gehn ja bald. Was kann Ihnen die Sache schon ausmachen? Sie hat ihre Pläne wie jedermann sonst auf der Welt ... Schweigen Sie still, wenn Sie durchaus müssen, aber seien Sie höflich zu ihr, um Gottes willen, und tun Sie so, als hörten Sie zu! Verderben Sie doch nun nicht alles für mich!«

»Schon recht«, murmelte er grimmig. »Ich hör' mir die ganze Sache an, aber verdammt will ich sein, wenn ich mir was ins Notizbuch schreibe.«

 

Als die Marquise in den Salon zurückkam, brachte sie Briefschaften und auch mehrere Pläne und Drucksachen mit einer genauen Beschreibung des Hospitals, für dessen Neubau sie Geld eintreiben wollte. Die drei Leute saßen bei Kaffee und Likören vor dem offnen Kamin, und als die Marquise dann mit der Schilderung ihrer Neueinrichtungspläne zu Ende gekommen war, war das graue Licht des kurzen Winternachmittags bereits im Schwinden und die Stunde des Aufbruchs da.

Eh die Gäste wegfuhren, zeigte ihnen die Hausherrin noch kurz das Schloß; sie zeigte ihnen Ahnenbilder und führte sie in einen großen Raum mit einem ungeheuren Himmelbett. Der Baldachin war golddurchwirkt; in diesem Bett hatte König Heinrich der Vierte geschlafen auf einem seiner Besuche auf Schloß Mornaye, und seitdem war der Raum nicht mehr bewohnt worden; er war stets verschlossen und wurde nur für dergleichen Museumsbesuche aufgesperrt.

Der letzte Besuch – kurz vorm Abschiednehmen – galt der Bibliothek, einem angenehmen, wohnlich warmen Raum unmittelbar neben dem großen Salon. Der Raum machte nicht den Eindruck, als würde er stark benutzt, und die Marquise lächelte über die eifrige Wißbegier, mit der der junge Mann die wohlgeordneten Bücherreihen betrachtete, diese Reihen schöner, schwerer Lederbände.

»Sie lässen gährn, eh?«

Er sagte, das täte er. Sie lächelte und meinte gleichgültig:

»Ich nicht so sähr. Es langkweilt mich, venn ich langk lässe.«

Er stellte ein paar Fragen nach zeitgenössischen französischen Schriftstellern – Proust, Gide, Romains und Cocteau unter andern – und auf einen Augenblick bekam ihr Gesicht wieder den harten, hoffärtigen Ausdruck, den es angenommen hatte, als er sich vor Tisch nach der Regierung erkundigt hatte.

»Ich veiß nichts von diessähn Leutenn«, erklärte sie recht ungeduldig. »Ja, ich 'abbe ein paar von diessähn Nahmenn gehört, aber lässen tu ich diesse Leute nicht. Es gibt keine gutten Schriftstellähr mähr in Frankreich. Der letzte, den ich 'ier habbe, ist Paul Bourget.« Sie deutete mit dem Gesicht nach einem der Gestelle. »Aber auch dähn lässe ich nie.«

Ein paar Minuten später hatten die Gäste Lebewohl gesagt und waren abgefahren. Es regnete wieder einmal, das dumpfe graue Licht war beinah ganz verdämmert. Da es um diese Stunde in Mornaye keinen passenden Zug gab, hatte die Marquise ihrem Chauffeur gesagt, er solle die Gäste nach Blois fahren.

Während dieser Fahrt sprach der junge Mann fast nichts mit der Gräfin. Und auch sie schwieg. Es war, als spüre sie jetzt, da das Ende ihrer kurzen, sonderbaren Bekanntschaft herannahte, den ungeduldigen Widerwillen, die Langeweile und den Verdruß, den der junge Mensch in ihrer Gesellschaft nunmehr empfand. Als sie in Blois in seinem Hotel angelangt waren, sagte er ihr ziemlich kurzangebunden, er wäre müde, er wolle hinauf auf sein Zimmer gehn, und sich vorm Nachtessen ein wenig waschen und ausruhen.

»Aber gewiß, mein Lieber«, sagte sie sofort. »Freilich sollten Sie das. Ich seh' ja, daß Sie müd sind. Vielleicht«, setzte sie ruhig hinzu, »werde ich Sie dann sehn, wenn Sie wieder 'runterkommen.«

»Ei natürlich werden Sie das«, sagte er kurz, beinah ärgerlich in einem Ton, der deutlich zeigte, wie reizbar er geworden war, wie sehr er nach dieser allzulangen Bekanntschaft der alten Frau überdrüssig war.

»Leben Sie wohl, mein Lieber. Und ruhn Sie sich jetzt aus. Sie haben Ruhe nötig.«

 

Er ging auf sein Zimmer, zog sich Rock und Schuhe aus, warf sich aufs Bett und war auf der Stelle eingeschlafen. Als er wieder erwachte, sah er, daß er fast drei Stunden geschlafen hatte. Es war acht Uhr und schon beinah zu spät zum Table-d'hôte-Nachtessen. Er wusch sich schnell ein wenig und zog sich hastig an. Als er herunterkam, fand er niemand außer der Frau des Besitzers im Büro. Ehe er sich noch nach der Gräfin erkundigen konnte, wurde ihm lächelnd ausgerichtet, die alte Frau sei weggefahren, hätte den Abendzug nach Orleans genommen.

»Mais elle vous a remis de très affectueux adieux«, sagte die Frau des Hotelbesitzers lächelnd. »Elle vous a fait de grands compliments.«

Und im Augenblick nun, als er begriff, daß die alte Frau fort war, wurde er sich eines sonderbaren Gefühls bewußt, eines aus Leid, Verlust und Bedauern gemischten Gefühls. Jählings fiel ihm sein schroffes, gereiztes Benehmen beim Abschied ein, und er dachte an den Ausdruck der Einsamkeit, der Trauer und der Stille in den Augen der alten Frau, als diese ihm ihr »Leben Sie wohl!« gesagt hatte. Das alte Alleinsein hatte ihn wieder umschlossen; er empfand einen Kummer um den Verlust, wie man ihn empfindet, wenn jemand, den man lange gekannt hatte, von einem fortgegangen ist.


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