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XVI

Professor Hatchers dramatische Schulung bezweckte – der Verlautbarung nach – etwas durchaus Einfaches und Vernünftges. Hatcher enthielt sich weislich großer Versprechungen. Er behauptete nicht, einen Kursteilnehmer in einen Dramatiker verwandeln zu können. Er stellte auch nicht jedem Studenten eine erfolgreiche Laufbahn als Theaterschriftsteller in Aussicht. Er sagte nicht einmal, er könne das Stückeschreiben lehren. Er drückte sich sehr maßvoll aus, und alles, was er sagte, war dies: Wenn jemand eine echte Begabung für Drama und Bühne mitbrächte, dann könne er im Kursus zu technischen und kritischen Einsichten gelangen, die er für sich allein wohl nur in Jahren und an schmerzlichen, kräftevergeudenden Experimenten zu erwerben vermöchte.

Ferner war Professor Hatcher der Ansicht, der Kommentar und die Kritik der Gruppe an den Leistungen des einzelnen gereiche dem werdenden Künstler zum Vorteil. Dies bezog sich auf seine »Erörterungen um den Tisch herum«, Diskussionen, die stattfanden, nachdem er das Stück eines Kursteilnehmers vorgelesen hatte. An den Geist der Zusammenarbeit glaubte Professor Hatcher auch insofern, als er es für lehrreich hielt, daß ein Verfasser sein Stück auf der Probebühne des Instituts sähe, daß er persönlich bei dieser Arbeit assistiere, um so vertraut zu werden mit den verschiedenen Bühnenaufgaben, als da sind: Regie, Besetzung, Schauspielerarbeit, Ausstattung, Beleuchtung und so weiter.

Kurz, Professor Hatcher machte keine Zusicherungen. Er wollte nicht mit Nichts aus dem Nichts etwas schaffen; er wollte auch nicht lehren, wie man durch gerißne Handwerkskniffe Lebloses scheinlebendig aufputzt; – nein, er glaubte an die wahre Lampe und an die Lichtputzschere, mit der man der Flamme zu einem helleren Brennen verhelfen kann.

Mögen auch immer einige seiner Grundsätze anfechtbar sein, wie etwa der, Glaube, Kommentar und Kritik der Gruppe und das Leben in einer Gemeinschaft schöpferischer Geister seien dem Künstler wohltätig, so läßt sich unmöglich bestreiten, daß die Argumente, mit denen Hatcher Zweck und Absicht seiner Schulung begründete, vernünftig, maßvoll und konservativ waren.

Er machte seinen Standpunkt jedem Mitglied seiner Klasse klar. Er gab jedem aufs deutlichste zu verstehen, daß er keine geistige Alchimie triebe und aus seinen Schülern keine interessanten Dramatiker machen könne, wenn ihnen die Begabung fehle. Aber obschon jedes Mitglied sein volles Einverständnis mit den fundamentalen Grundsätzen Hatchers kund und zu wissen tat, so glaubten dennoch die meisten dieser Leute auf dem Grund ihres Herzens, glaubten sie zu allem Leidwesen und über alle Glaubbarkeit hinweg, daß an ihren unfruchtbaren und unschöpferischen Geistern ein Wunder bewirkt werden könne, daß bei ihnen wenigstens, wenn auch nur bei ihnen, in ihren elenden kleinen Leben die magische Transformation eintreten würde, – und das alles hielten sie gläubig für möglich, bloß weil sie nun Mitglieder von Professor Hatchers berühmtem Dramatikerkursus waren.

Die Mitglieder von Professor Hatchers Kursus gehörten einer großen verlornen Gattung an, einer Familie von Unzähligen und deswegen auch Unvergeßlichen, die überall auf Erden besiedelt ist. Zunächst und in erster Linie aber gehörten sie zu dem Stamm jener Verlornen, die in Amerika häufiger sind als in allen andern Ländern der Welt. Sie gehörten zu der zahllosen Horde derer, die da glauben, es könne ihnen durch zauberkräftige, wundersame Schemen, Formeln oder Regeln geholfen werden. Sie gehörten zu jener ganzen Kolonie von Leuten, die Tausende von Büchern kaufen, die für ihresgleichen gedruckt werden, Bücher, die ihnen sagen, wie sie eine einträgliche Teestube aufmachen, wie sie eine gefällige Personalität an sich entwickeln und wie sie eine »weite Allgemeinbildung« erwerben können, letzteres sogar leicht und schnell und ohne Seelenqual durch fünfzehn Minuten täglicher Lektüre; Bücher, die ihnen sagen, wie sie den Geschlechtsakt ausführen müssen, damit ihre Gattin sie dafür liebt; Bücher, die ihnen sagen, wie man Kinder bekommt oder keine Kinder bekommt, wie man gutverkäufliche Kurzgeschichten, Romane, Schauspiele und Gedichte schreibt, wie man einen häßlichen Körpergeruch los wird, Stuhlverstopfung, üblen Gestank aus dem Hals und Zahnstein; wie man sich gute Manieren zu eigen macht, die richtige Gabel für jeden Gang bei Tisch benutzt und stets das Korrekte korrekt tut, – wie man kurz gesagt schön, vornehm, fein, smart, schick, einflußreich oder »ein Mensch von hervorragender Bildung und geistigem Schliff« wird, eine »glänzende Persönlichkeit«, die ein »erfolgreiches Leben« führt.

Ja, die Mehrzahl der Mitglieder von Professor Hatchers Kursus gehörte zu jener Kolonie verlorener Amerikaner, zu dem weitverbreiteten Stamm derer, die da spüren, daß alles ins rechte Gerück kommt, wenn sie nur eine Reise machen, einer Regel folgen oder eine bestimmte Person kennenlernen können. Ja, die meisten von ihnen gehörten zu jener verlassenen und verlorenen Horde, die da spürt, daß sich ihr Leben erfüllen wird, daß alle fehlenden Kräfte ihnen zufließen werden, und daß Angst, Unrast, Wut, Sorge, Verwirrung und die ganze dunkle Verdammnis der Menschenseele behoben sein wird, geheilt sein wird, magisch verbannt sein wird, wenn sie nur geröstete Weizenkleie zum Frühstück verspeisen, eine Empfehlung an eine gefeierte Schauspielerin kriegen oder es erreichen können, daß ein Freund von Sinclair Lewis ihre Manuskripte mal liest, oder auch, daß sie selber zu Professor Hatchers berühmtem Dramatikerkursus zugelassen werden.

Den meisten Stücken, die in Professor Hatchers Kursus geschrieben wurden, war die Verkorkstheit ihrer Verfasser anzumerken. Die wenigsten von diesen Werken waren im eigentlichen Sinne etwas wert, denn ihren Verfassern fehlte die erste, letzte und entscheidendste Eigenschaft des Künstlers, nämlich die Fähigkeit, aus sich selber heraus zu schaffen, eigne Erlebnisse, eignes Sehen, Fühlen, Empfinden, Sichfreuen und Leiden sichtbar zu machen, den eignen Gehalt spürbar lebendig im Werk zum Ausdruck zu bringen und darzuleben. Diese Fähigkeit besaßen nur wenige von Hatchers Schülern, und die wenigsten von ihnen hatten etwas Eignes zu sagen. Ihre Leben schienen auf steinigem und brachem Boden gediehen zu sein, und die Stücke, die sie schrieben, enthielten zwar nichts von diesen Leben, klärten einen aber gerade dadurch – in ihrer merkwürdigen Abwegigkeit – über ihre Verfasser auf. Ohne Wirklichkeit und steril, nachahmerisch und abhängig wie diese Machwerke waren, sie offenbarten oft besser und sinnfälliger, als echte lebendige Kunstwerke es vermocht hätten, wie es um ihre Urheber stand. Wenige von diesen Stücken zeigten eine Verbindung an mit der Wirklichkeit, mit jenem leidenschaftlichen Ganzen aus Blut, Schweiß, Schmerz, Freude und Gelächter, aus dem diese Welt besteht, aber sehr viele von ihnen zeigten auf die eine oder andre Art an, was der mutmaßliche Hauptbeweggrund im Dasein ihrer Verfasser war, eben jener Beweggrund, der sie wohl auch hierher, in Professor Hatchers Klasse, gebracht hatte.

Der Hauptbeweggrund im Dasein dieser Leute war nämlich nicht, das Leben zu umarmen und es zu verschlingen, er war vielmehr ein Drang, dem Leben zu entgehen. Auf die eine oder andre Art war dieses Bedürfnis zu merken, denn an dem unnatürlichen, verkorksten Zeug war meist festzustellen, daß sich die Verfasser Afterbilder, Scheinbilder, Zerrbilder, Wahnbilder, Wunschbilder von der Welt machten, nicht wie sie sie gesehen, gekannt und erlebt hatten, sondern so, wie sie die Welt zu finden wünschten. Und hinter all ihren Verformelungen, mochten sie nun traurig, heiter, komisch, tragisch oder phantastisch sein, stand die Verleugnung der Lebenswirklichkeit, stand die Lebensangst.

Der reiche junge Nichtstuer aus Philadelphia zum Beispiel schrieb Stücke, die in reizenden kleinen Kaffeehäusern in Frankreich spielten. (Er gestand ein, daß er ziemlich lange in Frankreich gelebt habe.) In seinen Stücken lernte man diese putzigen, heiteren, aimablen Franzosen kennen. Den Papa Duval, den jovialen propriétaire, und die Mama Duval, dessen rundes und nicht weniger joviales Ehegespons, und die – ach! – so eigenartigen habitués, die in allen derartigen Theaterstücken in den Cafés sitzen, weil es ohne sie eben nicht geht. So ein krustiges, altes Käuzchen, so ein Grillenfänger ist der Monsieur Vernet, und zwar ist dieser betagte, gütige Ehrenmann der älteste Stammgast: er sitzt schon seit mehr als dreißig Jahren an demselben kleinen Tischchen in der Fensterecke. Und nun sah man wieder einmal die bekannte Entwicklung der Ereignisse, die zur komischen Situation führen: Eines Tages betritt zur gewohnten Zeit Monsieur Vernet sein Café, und wen findet er an seinem Tischchen? Einen Fremden. Einen erzfremden Menschen. Schwerer Vertrauensbruch. Verwünschungen. Tränen, Anrufungen des Himmels und inständige Bitten von Papa und Mama Duval, und dazu die hartnäckige Weigerung des Fremden, seinen Platz zu räumen. Höhepunkt der Handlung: der alte Monsieur Vernet stürmt aus dem Café und schwört, er werde es nie wieder betreten. Weiterer Handlungsverlauf und Lösung des Knotens: Papa und Mama Duval kriegen ihren höchstgeschätzten Stammgast wieder, und dieser endgültige Erfolg, die Beschwichtigung und die hocherfreuliche Rückkehr Monsieur Vernets an sein vertrautes Fenstertischchen werden möglich gemacht durch einen listigen Schachzug des jungen Kellners Henri, der zum Lohn für seine Bemühungen die Hand von Mimi Duval, der reizenden Tochter des Hauses, erlangt, denn auf den strengen Befehl Papa Duvals haben sich die Liebenden bisher meiden müssen.

Und so, durch einen komischen Wurf von höchster Brillanz ist alles wieder beim alten, und die sich treulich Liebenden sind vereint.

Und diese hübsche kleine Welt stellt den schöpferischen Beitrag eines reichen, jungen Mannes aus Philadelphia dar! Wie vollkommen gottverdammt entzückend das sicher war!

Die Stücke des alten Seth Flint waren, wenn auch freilich anders in der Farbe, aus demselben bunten Zeug theatralischer Unwirklichkeit geschnitten. »Old Seth« war ein versauerter und verwitterter Exreporter. Volle vierzig Jahre hatte er als »newsman«, das heißt als Neuigkeitseintreiber für Zeitungen, die ihm zugewiesenen »precincts«, das heißt Arbeitsreviere, abgeklopft, und überall in den Vereinigten Staaten hatte er »city-rooms«, das heißt Lokalredaktionen, gekannt. Seine Erfahrungen hatten ihm jedes Verbrechen, jede Verderbtheit, jede Ungeheuerlichkeit, deren die menschliche Seele fähig ist, zur Kenntnis gebracht; mit jedem Zug und jeder Form von Bestechung und Bestechlichkeit war er vertraut; er wußte um das Mörderherz der Menschheit, er kannte jede rohe und feine Art des verruchten, uralten, unausrottbaren Mords, er kannte die Falschheit, den Betrug, die Heuchelei, die Grausamkeit, die Feigheit und die Ungerechtigkeit der Menschen, – und wie Blut und verspritztes Hirn auf dem Pflaster einer Straße irgendwo in Amerika aussehen, nun, das war schon gar nichts Neues für den alten Seth Flint.

Ihm war die Haut welk, der Blick glanzlos, das Herz beladen, der Mut verdrossen, der Glaube zynisch und die Laune sauer geworden, und das alles von dem finstern Bild der Menschheit, das er als Reporter vierzig Jahre lang täglich zu Gesicht bekommen hatte, – und eben deswegen, oder gerade trotzdem war er – wie, warum und durch was für Kräfte weiß niemand – ein hervorragend ehrlicher, innigguter und freigiebiger Kerl geblieben oder geworden. Sein Leben war ein Leben der Selbstaufopferung, eine Höchstleistung an selbstloser Anständigkeit. Armut und harte Zeiten hatte er stillschweigend-willig ertragen; – er hatte seine sämtlichen Ersparnisse drangehängt, um die beiden Söhne seiner verwitweten Schwester auf die Universität zu schicken, er hatte jahrelang für diese Schwester und deren Kinder gesorgt, und nun, als das Ende seiner Erdentage näher kam, hatte er sich das eine und einzige Vergnügen seines Lebens gegönnt: – ein Jahr weg aus dem city-room einer großen Zeitung in Denver, ein Jahr weg in den köstlichen Äther unter die hehren Schöngeister in Professor Hatchers berühmtem Kurs, ein Jahr, um den Traum seines Lebens und die Sehnsucht seiner Jünglingsjahre zu erfüllen, – ein Jahr, um die Stücke zu schreiben, die er immer zu schreiben begehrt hatte! Nun, und was für Stücke schrieb er?

»Ach, der alte Seth Flint tat genau das, was er zu tun beabsichtigt hatte; es gelang ihm vollkommen, sich seinen Lebenswunsch zu erfüllen, und – o tragische Ironie – gerade darin lag sein Versagen. Zunächst einmal: er war fruchtbar und brachte seine Stücke mit erstaunlicher Leichtigkeit aufs Papier. »Drei Tage sind genug für ein Stück!« sagte Old Seth. »Man kriegt ja Bauchweh bei dem Gerede, daß man ein Jahr für ein Stück braucht. Wer sein Stück nicht in einer Woche schreiben kann, kann überhaupt nicht schreiben. Und sein Stück ist dann auch nichts wert.« Die Stücke, deren er so viele und die er so schnell schrieb, waren weder Schnellschreiber- noch Vielschreiberstücke: sie waren saubere, klarscharfe, gewandte und smarte Arbeit. Im übrigen aber waren sie genau die Stücke, die er als junger Mann zu schreiben begehrt hatte, und daran lag offensichtlich ihre Unheilbarkeit, ihr Fehl.

Denn Old Seth's Stücke, diese tadellos gearbeiteten Sachen, wären, wenn er sie zwanzig Jahre zuvor geschrieben hätte, gute Stücke gewesen, in dem Sinn, daß sie jedes Geschäftstheater hätte brauchen und Geld damit verdienen können. Er schrieb ohne Anstrengung und mit unfehlbarer Genauigkeit eine Art von Schauspielen, die um 1900 herum sehr populär waren, deren aber das Publikum nun seit zwanzig Jahren müde war. Da wurden Kleinkinderchen in der Entbindungsklinik des großen Hospitals vertauscht, der Sohn des reichen Manns geriet in die Krämerfamilie, und das Krämersöhnchen wuchs als Erbe eines Riesenvermögens heran. Old Seth brachte dann eine Zusammenkunft dieser vertauschten Söhne und ihrer bestürzten Eltern herbei, und das tat er mit einer Sicherheit in der Verwicklung, mit einer Klarheit des Aufbaus und einer Wendigkeit im Handlungsgefüge, die schlechthin erstaunlich waren. Auch seine Personen, wohlbekannte Theatertypen, hatten genau die rechte Lebensechte, die für die Bühne gebraucht wird; sie waren nirgends verzeichnet, paßten in die Fachbesetzung, redeten den jeweils richtigen Slang, dienten ihrem Zweck, wurden zur rechten Zeit eingeführt und gingen zur rechten Zeit ab, kurz: sie waren gewandt und geschickt gemacht. Seth hatte mit einem erstaunlichen Erfolg die Formel für einen älteren Typus des »gutgemachten Theaterstücks« gemeistert. Nur, leider, war der Typus tot; das Interesse des Publikums an dergleichen Stücken war vor zwanzig Jahren erloschen. Und so saß denn da ein lebendiger Mann und schrieb mit einem tollen, handfesten Können tote Stücke für ein Theater, das gestorben war, und für ein Publikum, das es nicht mehr gab.

»Tschechow! Ibsen!« flennte der alte Seth, machte eine Gebärde mit der pergamentnen Hand, und in seinem Mumiengesicht verzog sich der bittre Mund. »Ah, die Verehrung dieser jungen Leute macht einen ja schlapp! Diese Herren konnten ja keine Stücke schreiben!« Er sagte dies einigen der exquisiten Jünglinge aus Professor Hatchers Klasse. »Da nehmen Sie doch Ihren Tschechow! Er hat nie ein wirkliches Stück geschrieben. Er wußte gar nicht, wie ein Stück geschrieben wird. Selbst wenn er eins hätte schreiben wollen, hätte er's nicht fertiggebracht. Er hatte nicht einmal die einfachsten Regeln gelernt! Nehmen Sie den Kirschgarten: was Sie da ein Gezeter drüber machen! Das ist doch kein Stück. Weshalb halten Sie so was für ein Stück? Ich hab's neulich zu lesen versucht, und da ist nichts, was einem das Interesse festhält! Keine Entwicklung, keine Handlung, keine Geschichte drin! Keine Spannung dazu! In dem ganzen Stück geschieht ja nichts! In dem ganzen Stück ist nichts als ein Haufen Leute, die die ganze Zeit nichts tun als daherreden!«

»Was nennen Sie ein großes Stück«, fragte einer der Jünglinge eisig, »wenn der ›Kirschgarten‹ keins ist! Wer hat denn dann die großen Stücke geschrieben, von denen Sie reden?«

Und nun nannte Seth sofort ein paar Namen von Amerikanern, die um 1900 gute, handfeste, erfolgreiche Unterhaltungsstücke für die Bühne geschrieben hatten. »Ah«, sagte er, »es gibt einen Haufen Leute hierzulande, die große Stücke geschrieben haben. Wenn sie aus Rußland gekommen wären, würden Sie hinknien und sie anbeten! Aber nachdem sie bloß von hier sind, taugen sie nichts.«

An der Einstellung der Klasse zu Seth Flint konnte man sehen, wie grundfalsch diese Leute überhaupt zur Umwelt standen. Woran auch immer sein Versagen als Bühnenschriftsteller liegen mochte, Seth hatte doch unter allen Kursteilnehmern das unvergleichlich reichste, bunteste, gefährlichste und am meisten von Ereignis gefüllte Leben geführt. Seth als Person war unendlich viel interessanter als irgendein Stück, das diese Jünglinge schrieben, und als Dramatiker hätten sie erkennen und verstehen müssen, was an ihm war. Aber sie sahen nichts an ihm, und ihre Beziehung zum Leben und zu Menschen von Seths Art war ohne Verständnis. Sie waren nicht einmal empört über ihn, in jener echten Empörung empört, die eine der wirklichen Triebkräfte im Leben des Künstlers ist. Sie hatten nichts übrig für ihn als anmaßenden Hohn und billiges Sich-lächerlich-Machen. Sie bildeten sich nämlich ein, sie wären dem alten Seth überlegen, und den meisten andern Menschen auf Erden auch, und aus diesem Grund wären sie in Professor Hatchers Klasse. Von Seth sagten sie:

»Er paßt wirklich nicht hierher. Gräßlich deplaciert. Was will der Mann eigentlich hier?«

Sie hörten sich irgendeinen Bericht über Seths letzte Verfehlungen gegen den guten Ton an und sagten dann ihr »Schier nicht zu glauben! Unmöglich!« mit jener erstaunten Miene und in jenem erstaunten Ton des betretenen Nichtglaubenkönnens, die damals gerade unter eleganten jungen Herren in Mode kamen.

Old Seth war bitter nötig in dieser Klasse. Seine scharfe und widerborstige Zunge war zwar an manchem für Professor Hatcher peinlichen Augenblick schuld, aber das war nicht umsonst, besonders wenn das Stück von folgender Art war:

Irene: langsam, verachtungsvolle Hoheit in der Stimme: So, dahin ist es also gekommen! Das also ist der Wert Deiner Liebe. Du kleinlicher Selbstling. Ich hatte Dich für größer gehalten, John.

John verzweifelt: Aber aber! Irene! Mein Gott, was soll ich denn denken! Ich fand Dich im Bett mit ihm, meinem besten Freund! (schwerfällig) Du weißt, gelinde gesagt, sieht das verdächtig aus.

Irene weich – mit belustigter Verachtung in der Stimme: Du armes Männchen. Und ich dachte, Deine Liebe wäre so groß.

John wild: Aber ich lieb' Dich wirklich, Irene. Deswegen bin ich ja so aufgebracht.

Irene mit leidenschaftlicher Verachtung: Liebe! Du weißt ja nicht, was Liebe heißt. Liebe ist größer als das. Liebe ist größer. Liebe ist groß genug für alle Dinge und alle Menschen. (Sie macht eine allumarmende Gebärde.) Meine Liebe schließt alle Welt ein. Sie umarmt die ganze Menschheit. Sie ist zauberwild und frei wie der Wind.

John langsam: Und – hast – Du – noch – andere – Liebhaber – gehabt?

Irene: Liebhaber kommen, Liebhaber gehen. (Sie macht eine leichte, ungeduldige Handgebärde.) Was will das schon sagen!? Nichts! Nur die Liebe bleibt, meine Liebe, die größer als alles ist.

Eugen wand sich auf seinem Platz und krampfte die Hände. Mit fast flehentlicher Miene wandte er sich an das alte Mumiengesicht Seths. Er flehte ihn um jene stacheldrahtige, aber reinigende Vulgarität an, mit der er sich gewöhnlich zu solchen Machwerken äußerte.

»Nun also!« sagte Professor Hatcher. Er legte das Manuskript, aus dem er gerade vorgelesen hatte, nieder. Er nahm den an der Seidenkordel befestigten Zwicker ab. Er lächelte ein drollig-feines Lächeln. Ein Ausdruck der Empfindungslosigkeit kam auf sein feines, distinguiertes Gesicht. »Nun also, ist ein Kommentar zu machen?« fragte er nochmals, als sich niemand zu Wort meldete.

»Was ist sie schon?« raunzte Seth und brach die nervöse Stille mit seinem raspelnden Gefauch. »Wieder eine von diesen Huren aus der guten Gesellschaft. Wissen Sie, diese Sorte gibt's – drei Dollars für einmal – in ganzen Massen. Und ohne das ganze hohe Gerede dazu!«

Ein paar von den Hörern lächelten matt, peinlich betreten, und zuckten betroffen mit den Achseln. Andre waren dankbar; sie freuten sich und flüsterten: »Bravo, alter Seth! Bravo, alter Seth!«

»Ihre Liebe ist also groß genug für alles, nicht wahr? Nun, ich kenne einen Lastkraftfahrer in Denver, den möchte ich ihr mal Tag für Tag gegenüberstellen.«

Eugen und Ed Horton, ein mächtig-robuster Aspirant von den Maisgefilden Iowas, gicksten einander heftig in die Rippen. – –

Man versuchte die Karre auf ein anderes Geleis zu schieben. Die Diskussion kam in Gang.

»Glauben Sie, daß das Spiel aufführbar ist?« fragte schließlich jemand. »Mir scheint, daß es sich ziemlich gut zu einem ›closet drama‹ eignet.« »Closet Drama« war der Fachausdruck für »kleines Kammerspiel«.

»Wenn Sie mich fragen«, erklärte Old Seth, »dann muß ich gestehen, daß es sich ziemlich gut zu einem Wasserklosettdrama eignet ... Nein«, sagte er sauer, »was dieser junge Mann braucht, ist ein bißchen Erfahrung. Er soll sich mal ein Weib leisten, damit er dieses ganze Zeug aus dem System kriegt. Dann mag er sich hinsetzen und ein Stück schreiben.«

Nun trat ein sehr betretenes Schweigen ein. Professor Hatcher lächelte ein wenig matt. Mit distinguierter Gebärde setzte er seinen Zwicker auf, sah die Hörerschaft an und fragte:

»Ist noch ein Kommentar zu machen?«


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