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Im Juni dieses Jahres saß er eines Tags an einem Tischchen vor einem kleinen Café, das an einem stillen, gepflasterten Platz in der altertümlichen Stadt Dijon lag. Er war in Italien und in der Schweiz gewesen, und nun, auf dem Rückweg nach Paris, hatte er einem Impuls folgend die Fahrt unterbrochen; ihm war eingefallen, daß Dijon eine Hauptstadt des alten Königreichs Burgund war, und der Name Burgund hatte ihm schon in der Kindheit sonderlich hold und zaubrisch geklungen und Traumbilder aufgerufen von einem schönen, grünen Land, großem Wein und gutem Essen und goldschlummernde Legenden von alten Kriegern, Rittertaten, höfischem Leben und edlen Frauen.

Und enttäuscht war er nicht worden. Die alte Festung mit den Palästen von einst, den geschichtlichen Bauten, den grimmen Schauseiten der vergessenen Macht, dazu das tiefe innige Grün der trauten, verwunschenen Berge, das erweckte in ihm wieder die alten, goldschimmernden Legenden, die Verheißung vom schönen Fabelland, fett vor Fülle.

Er war nun schon drei Tage hier, es waren drei von gold- und gründurchflutetem Leben erfüllte Tage gewesen, er hatte sich freiwillig dem Zauber von der Zeit gefangen gegeben, hatte den edelsten Wein getrunken und ein paar von den besten Gerichten seines Lebens gegessen. Nach der langweiligen Schweizer Hotelküche schmeckten ihm die Speisen und Weine Burgunds einfach unglaublich gut, und alles hier – die alte Stadt, das schöne grüne Land und die Berge – machte eine Musik in ihm, die wie die ganze grüngoldne Magie seiner Kindheitsträume von Frankreich war.

Und nun saß er an seinem Tischchen vor dem kleinen Café, und mit den Gedanken war er bereits beim langsamen, träumerisch-gelüstigen Vorgenuß des Mittagessens, das er in einem berühmten, altmodischen Gasthof einnehmen würde, wo man für achtzehn Francs eine erstaunliche Mahlzeit kriegte, eine Folge von würzigen, saftigen landesüblichen Gerichten, eine Mahlzeit, so, wie er sich zwar Mahlzeiten geträumt, aber doch nur für legendär gehalten hatte.

Und als er verwundert und ungläubig an diesen Feinschmeckerhimmel dachte, erinnerte er sich an hundert kleine Städte und Städtchen in Amerika, und mit dieser Erinnerung kam das gräßliche, dyspeptische Eingedenken an das Essen dort: – den fettig-ranzigen, gedunsenen-, schalen, toten und verdrossenen Fraß, den man dort in griechischen Restaurants, Lunch-Rooms, Coffee-Shops und Railroad-Cafeterias hastig und mit großen Schlucken sauren, dünnen Kaffees hinunterwürgt, so, daß man unvermeidlich Leibweh davon bekommt.

Ja, in dieser alten Gegend hatten sogar das edle Essen und der edle Wein einen Zauber ins Leben gebracht. Und plötzlich bedrang ihn wieder der alte Hunger, der uns Amerikaner schmerzlich heimsucht, – der Hunger nach einem besseren Leben, nach einem Ende der Rohheit, Neuheit, Säuerlichkeit, nach einem Ende der erbitterten, drangsäligen Misere, – der Hunger, der uns heißt, von der großen Pflanzung der Erde und Amerikas unser reiches Erbe an Glanz, Behagen und Fülle zu nehmen, das Wärmende strahlender Farben, des Weins, des pochenden Bluts – der Hunger nach einem Ende des Elends, der Bitterkeit, des Hungers und der Unrast an den Brüsten der immer dargebotenen Fülle – der Hunger nach unsrer erbtümlichen, ewigwährenden frohlockenden Daseinsfreude, die irgendein gemeines Ätzgift in unserm Wesen (ein schnödes Rätsel bleibt es schon!) von uns genommen hat.

Und nun, als er vor dem Café sitzend hierüber nachsann und über den stillen, mit weißen Holpersteinen gepflasterten Platz hinblickte, erklang eine Glocke, und es war Mittag. Ganz langsam erklang eine große Glocke in der alten Stadt. In einer kühlen alten Kirche, die er am Tag zuvor besichtigt hatte, hing vor den Altarstufen das verknotete Ende eines Glockenseils von der Decke herunter. Beim letzten Schlag der tiefdröhnenden Stadtglocke kam lauten Schritts ein Küster auf dem alten, mit Steinfliesen belegten Fußboden der Kirche gegangen und packte das Glockenseil. Langsam in einem ganz sachten Rhythmus begann er ziehend am Strang zu schwingen, und zunächst konnte man nur ein Knarren aus dem Glockenstuhl, aber noch keine Glocke hören. Dann straffte sich der Körper des Küsters, im rhythmisch genau bemessenen Schwebeschwung hing er steif am verknoteten Seilende, und da begannen hoch droben im alten Gewölb süß und gewichtig die Glockenschläge zu erdröhnen, zuerst im Dreitakt – ding-dong-dong, ding-dong-dong – und dann, als der Mann den Schwung beschleunigte, in einem schnelleren, doppelten Zeitmaß.

Und nun dachte der junge Mensch an alte, ferne, einst auf nächtlichen Straßen erklungene Glockenspiele, und die Erinnerung an Glocken, die er selber geläutet hatte, kam ihm zum Herzen zurück. Er erinnerte sich an die große Glocke im College, die die Studenten in die Klassenzimmer rief, er erinnerte sich an das verknotete Ende des Strangs, der in das Zimmer jenes Studenten herunterhing, der das Amt des Glöckners übernommen hatte, er erinnerte sich daran, wie oft er selber statt jenes Studenten die Glocke geläutet hatte, wie dann immer, dort genau wie hier, zuerst das Glockengestühl im Türmchen geknarrt hatte, und wie er dann, wenn sich die große Glocke in der Höhe in den rhythmischen Schlagschwung einschaukelte, vom großen Gewicht der dröhnenden Bronze vom Fußboden hochgehoben worden war; ganz genau konnte er sich noch an die Lupfgewalt der alten College-Glocke erinnern, die er, am verknoteten Ende des Glockenseils hängend, verspürt hatte, ganz genau an das Gefühl von Freude und Kraft, das der Hub beim Klöppelschwang in ihm ausgelöst hatte, während über ihm im Turm die dunkle Musik der großartigen alten Glocke dröhnte und draußen auf dem Kampuspfad vorm Fenster die Studenten vorbeieilten, ganz genau daran, wie dann die Glocke am losen, lockeren Strang ausgeschallt hatte und allmählich in die Stille eingedröhnt war, wie es dann wieder im Glockenstuhl geknarrt hatte und wie schließlich dann nichts mehr gewesen war außer dem Grünbann und Goldzauber auf dem schläfrigen Kampus im Monat Mai.

Und nun war die Erinnerung an jene alte Glocke da, und mit ihr waren ihm die Heerscharen längstvergessener Dinge mit lebendiger, unerträglicher Schärfe ins Bewußtsein zurückgeschwärmt, und er saß da um die Mittagsstunde in einer alten Stadt in Frankreich und hörte, wie der Küster die Glocken in der alten Kirche läutete.

Er dachte heim.

Und nun waren ihm mit dem Klang der alten Glocke alle Dinge in der Runde augenblicklich-inständig ins Leben eingetreten, und obschon das Gefüge dieses Lebens ihm fremd war, obschon es ganz verschieden war von dem Leben, das er als Kind gekannt hatte, war ihm sofort nun alles unglaublich nah, lebendig und vertraut wie etwas schon immer Gekanntes.

Das kleine Café, vor dem er saß, war alt und eng und sah warm und behaglich und angenehm schäbig aus. Drinnen, im kühlen Schatten des Lokals, saßen zwei alte Männer und spielten Karten auf einem mit einem verschossen-grünen Tuch bespannten Tisch; einer von den Alten hatte einen langen spitzen Schnurrbart und ein schmales, vornehmes Gesicht; der andre war ländlicher, er hatte dicke Backen und trug einen Vollbart. Die beiden spielten ruhig und Iangsam und beugten sich öfters andächtig über die Karten auf dem alten grünen Tuch. Manchmal sprachen sie leis und ruhig miteinander, es waren immer nur ein paar Worte, und manchmal bebten die Schultern des stämmigen Alten und hoben sich ein wenig, und sein rötliches Gesicht nahm dann den rosigen Anflug der Befriedigung an; der andre Alte aber kicherte dünn und leise, auf eine sanftere, gemüdetere Art.

Es waren zwei Kellner im Café, und die putzten Bestecke und deckten die Tische zum Mittagessen. Einer von den Kellnern war ein alter Mann, er trug einen sprossenden, energischen Schnurrbart, wie man ihn oft an Franzosen sieht, er hatte ein müdes Raubvogelgesicht, zynisch, aber nicht bösartig, so, wie man es oft an alten Kellnern findet. Der andre – er war wirklich bloß ein Kellnerjunge – war ein junger, derber, dickfingriger, pausbäckiger Bauernbursch mit dem weindunkeln, lebhaften Sanguinikergesicht, das manche Franzosen haben.

Der junge Bursch war übermütig guter Laune; mit begeisterter Hingabe polierte er Messer, Gabeln, Löffel nach, summte dazu ein paar Takte aus einem Liedchen, warf die nachpolierten Besteckstücke eins nach dem andern in die Schublade, und ganz offenbar bereitete ihm das musikalische Klimpergeklirr im Kastengefach ein großes Vergnügen.

Derweil ging der alte Kellner ruhig und leis und ein wenig gemüdet ab und zu und deckte die Tische. Als schließlich jedoch einmal ein ganz besonders heftiges und begeistertes Klimpergeklirr das Besteckpolieren seines jungen Berufsgenossen begleitete, blickte er auf, die Augenbrauen leicht-zynisch hochrückend, und bemerkte mit vollkommener Urbanität, zwar ironisch, aber durchaus unböswillig:

»Ah! On fait la musique!«

Das war alles, was man sah, wie das Gesicht des jungen Burschen von einem andringenden Lachschwall über und über rot wurde, wie sich seine schweren Schultern hoben und auf einen Augenblick wie von einem Krampf geschüttelt erbebten. Dann fuhr er fort zu polieren; er sang dazu vor sich hin und warf nun noch begeisterter als zuvor die klingenden Tafelbestecke mit Klimpergeklirr ins Schubgefach.

Und diese kurze, angenehme und irgendwie eindringlich-unvergeßliche Episode kam dem jungen Amerikaner nun so nah und vertraut vor wie alles andre ringsum, ganz wie etwas schon immer Gekanntes.

Der stille, abgeblaßte, eigenartig wohltuende Platz ward nun auf kurze Frist zur Szenerie mittäglichen Lebens. Von fernher kam der schrille Pfeifenpfiff einer französischen Lokomotive und der Rumpellaut langsamer Züge; ein Eiswagen ratterte über das Holperpflaster; im Zinnblechgefach des Wagenkastens blinkte das Eis in langen, feingeschnittenen Blockstangen. Und plötzlich mußte der junge Mensch daran denken, daß er am Tage zuvor Schiffervolk beim Mittagessen gesehn hatte; die Leute hatten ihre Barke im Schatten hoher Uferbäume gelandet und machten gemütlich Rast. Von dem Platz, wo er nun saß, konnte er Arbeiter bei ihrer Mittagspause sehen und hören. Die Arbeiter standen vor einem mit Zinkblech beschlagnen Schanktisch in einer kleinen Bistrobar an der Ecke, sie tranken und unterhielten sich mit heiseren, lauten, disputierlustigen Stimmen; sie hatten verdrückte Kappen auf dem Kopf und trugen weitfaltige Rippelsamthosen, und die Hosen waren mit Kalk und Mörtel bespritzt.

Ein paar junge, langweilig aussehende Frauen kamen vorüber; sie trugen helle Strümpfe und helle, graugelbliche Übermäntel, und Hausfraulichkeit stand in jeder ihrer Bewegungen geschrieben, und man konnte ihnen die Schicklichkeit des Ehestands ansehen und die strenge Ödnis, die allenthalben in Provinzstädten herrscht.

Und dann erwachten an diesem Platz die verlorenen, die unwiederbringlichen, die einsamen Laute, jene Laute, die der junge Mensch seit fünfzehn Jahren nicht mehr gehört hatte, und nun ward er plötzlich wieder Kind, und es war Mittag, und er wartete im Vaterhaus darauf, daß der Vater heimkäme, hörte, wie der Vater die eiserne Gartentür hinter sich zuschmiß, wie der große Mann die Verandatreppe mit zwei Schritten nahm, und nun wußte er, sein Vater wäre wieder heimgekommen.

Auf dem kleinen, beinah weißgebleichten Platz, der nun vor ihm lag, war es fürs erste bloß das Klingeln und das leichte, luftige Sausen von Fahrrädern, was er hörte. Ein paar französische Offiziere radelten zum Mittagessen heim, lauter propere, selbstsicher aussehende Männer mit gediegnen, weindunklen Gesichtern und strammen festen Beinen, die ausgezeichnet fuhren. Dann kam ein Sergeant, der sehr schnell und glatt und mit Geklingel zum Mittagessen heimsauste. Und dann – plötzlicher Andrang – nahm das Geklingel und Gesurr und Geschwirr und Geprall zu, und die Angestellten, die Bankbeamten, die Schreiber und Buchhalter, die properen und respektablen Leute aller Art, radelten über den stillen, kleinen Platz heim zum Mittagessen.

Auf der andern Seite des Platzes konnte der junge Mensch zwei Arbeiter sehn, die noch an einem Steinblock – der eine mit dem Eisenspiker, der andre mit dem Treibhammer – schafften; sie arbeiteten langsam und legten öfters Pausen ein.

Ein junger Galan steuerte eine Knatterkiste, ein kleines Automobil, Sportmodell, geschwind über den Platz und war verschwunden, und der junge Amerikaner dachte verwundert darüber nach, ob jener Galan wohl einer von den wagemutigen Kavalieren von Dijon wäre, und wieviel Töchter aus den besten Bürgerfamilien jener wohl schon in seinem Wagen ausgefahren hätte, und ob die wagemutigen jungen Degen in dieser Stadt sich wohl auch in den Cafés ihrer tollkühnen Verführertaten rühmten, so, wie es daheim in seiner Vaterstadt, vor Wood's großer Drogerie herumlungernd, die Galane taten.

Und dann war es auf eine Weile wieder brütend still auf dem Platz, und dann begann der einsamste, verlorenste, unvergeßlichste aller Laute auf Erden: – das gediegne, lederne, schlürfende Geschieb von Tritten – der Tritte von Füßen, die alle in einer Richtung heimwärtsgehn – und so waren vor etwa zwanzig Jahren Menschen zum Mittagessen heimgegangen im grüngoldnen Sommerzauber des vollen Juni, – und das war gewesen, ehe noch der junge Mensch die Heimat seines Vaters gesehen hatte, damals, als noch die Königreiche dieser Erde und die zaubrische Weltstadt in der legendarischen Magie seiner Knabenvisionen brannten.

Sie kamen mit dem gediegenen, einsamen Schlurfgeschiebe ihrer wohlanständigen Ledersohlen, die Kaufleute, Arbeiter und guten Bürgersmänner der alten Stadt Dijon, – sie strömten über das Pflaster des kleinen Platzes, gingen weiter und verschwanden und waren auf immerdar fort, und ließen nichts zurück außer der Stille, der brütenden Leisigkeit und Apathie der Mittagsstunde und einer jählebendigen, unerträglichen Erinnerung an ein Leben, das dieser junge Mensch verloren hatte, ein Leben, das nicht sterben konnte.

Dieses Leben, das ihm nun wieder so inständig nah und selbstverständlich war wie das Leben, das ihn hier rings umgab, war das Leben vor zwanzig Jahren, war das Leben in den laubigen, stillen Straßen und in den kleinen Landstädten des verlornen Amerika, – eines Amerika, das verlorengegangen war unter dem wilden Gebrüll seiner Maschinen, der brutalen Bestürztheit seiner Tage, seiner unheimlichen, krankhaften, wütigen, immer ärger werdenden und unheilbaren Rastlosigkeit, seinen entsetzlichen Flutgezeiten von grauen Gesichtern, getriebenen Mienen, stumpfen Augen, brutalen, überspannten Nerven, dumpfem, totem Fleisch.

Die Erinnrung an das verlorene Amerika – das Amerika vor zwanzig Jahren, an die stillen Straßen, den zeitverwunschnen Bann und Zauber des vollen Juni, das gediegne, einsame Schlurfgeschieb hemdsärmeliger Männer, die zum Essen heimkamen, die Dünste von frischabgebrühtem Gemüse, das noch auf einen Augenblick zum Abkühlen herausgestellt wurde, den Klang der zufallenden Fliegendrahttüren an den Küchen und an die plötzliche Stille, die dann eintrat – diese Erinnerung war längst gestorben, war ersäuft worden unter den brutalen Flutgezeiten, erdrückt worden vom heftigen Anschwall des bestürzenden Gebrülls und des mechanischen Lebens, das jenem Leben gefolgt war.

Und nun war all diese verlorene Magie wieder ins Leben zurückgekommen, und zwar hier auf dem kleinen, beinah weißgebleichten Platz, hier in dieser alten französischen Stadt, und er war seiner Kindheit näher, war dem machtvoll-großartigen Leben seines Vaters näher, als er es je wieder in dem wild-neuen Amerika sein würde. Und als das Wissen um diese fremden, diese verlorenen und doch so trauten Dinge in ihn zurückkehrte, ward ihm das Herz voll vom Mysterium der Zeit, der dunklen Zeit, vom Mysterium der fremden, millionen-gesichtigen Zeit, die uns mit der Kürze unsrer Tage heimsucht.

Er dachte heim.


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