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XIV

Er hatte Zauberzeug: – Sprüchlein, Reime und Zahlen –, die würden es ihm, dachte er, möglich machen, die mehreren Millionen Bücher in der großen Bibliothek zu lesen, denn dies war seine ständige, wütige Besessenheit. Andere Zauber wieder würden ihn instand setzen, die Leben von fünfzig Millionen Menschen zu kennen, sämtliche Länder der Erde zu bereisen, hundert Sprachen zu sprechen, zehntausend Weiber zu besitzen, und die eine zu haben, die er über allen andern lieben und ehren wollte, die schön und ihm treu ergeben wäre.

Diese Magie vermöchte es, alles zu lösen und zu binden. So würde er auf der ganzen Welt herumstreunen, während er doch diesen einen Wohnort, das ständige Ziel seiner Heimkehr, hätte. So würde er, während ihn der Hunger und Durst nach allem und jedem wahnsinnig umtrieb, gleichzeitig mit beinah nichts schlechthin zufrieden sein können. So würde er auch, der alsdann berühmte, geehrte und gefeierte Mann, es zuwege bringen, im Dunkel, mit Anstand und in der Stille mit seiner immerdar Treugeliebten zu leben. Kurz und gut, er würde die Welt wie einen Kuchen aufessen und den Kuchen dann dennoch haben. Mit dem Zauber ließe sich alles machen: Er würde die Abenteuer, Plackereien, Freuden und Siege bestehen, leisten, ertragen und erringen, die die Lebenskraft von zehntausend starken Männern erschöpft hätten – – mit solchem Zauber aus Reim, Bann und Zahl, wie er ihn besaß, ließe es sich bewerkstelligen.

Er rannte aus der großen Bibliothek hinaus auf die Straße und nahm die Untergrundbahn nach Boston. Während der Zug dahinratterte, saß er feierlich-ernst da, die Lunge aufgeschwellt, mit einem Brustkasten prall wie der Kropf eines Kropftaubers. Die Augen quollen ihm aus dem Kopf, die Stirnadern schwollen, sein Gesicht wurde langsam blaurot von der qualhaften Anstrengung.

Endlich fuhr der Zug in die Central Station ein, und mit einem Seufzergesaus, wie Luft, die aus einem Orgelgebläse fährt, kam der Atem aus seiner gepeinigten Lunge. In der magischen Formel, die er mit diesem Ritus des Atemanhaltens befolgte, zählte nämlich die Zeit, die der Zug hielt, nicht. So war es ihm verstattet, Atem zu schöpfen, und das tat er nun eine halbe Minute lang, japsend und schnappend wie ein Fisch auf dem Trocknen. Er füllte sich gierig die Lunge wieder voll, und es war, als gedächte er, sich mit einer Rakete in den luftleeren Raum schießen zu lassen.

Wenn dann der Zug abermals ins Dunkel der Tunnels brüllte, saß er wiederum feierlich wie eine Eule da, mit geblähtem Brustkasten, glotzenden Augen und dem Gesicht eines Schlagflüssigen, indessen kleine Kinder ihn mit ängstlichen Augen ansahen, Mütter ihn mit nervös besorgten Blicken wahrnahmen und Männer mit offnem Mund ihn auf alle möglichen Arten angafften, anstierten, anstaunten. Er jedoch sah damals durchaus nichts Merkwürdiges und Befremdendes in seinem verrückten Benehmen. Ihm bedünkte vielmehr, dieses Atemanhalten im dunklen Tunnel, die manisch treue Befolgung eines Mysteriums aus Ritus und Zahl, wäre die natürlichste und selbstverständlichste Sache von der Welt, unvermeidlich und unumgänglich notwendig für ihn wie die nächstbeste Lebensäußerung, also das Atmen selbst, und so war er denn manchmal ärgerlich aufgebracht, weil die Leute ihn so anstarrten.

Diese Gesichter übrigens, geheimnisdunkle, unbekannte namenlose Gesichter aus den Millionen augenblicklich-zufälliger Begegnungen dieser Jahre, Gesichter, in den Untergrundzügen und im Straßengewimmel gewahrt, – diese Gesichter suchten ihn in späteren Jahren heim. Sie hatten dann die grelle und unvergeßliche Intensität des Visionären. Ihr Wiedererscheinen war für ihn mit Seltsamkeit, Verlust und Kummer über- und überladen, mit einer Inständigkeit des Vertrautseins, der Zuneigung, des Bedauerns, der wortlosen Trauer, ja, des jähen, herzzerreißenden, bodenlosen Mitleids, ganz so, wie einem Menschen die Dinge erscheinen, die er am besten gekannt, die er mit Herz und Seele geliebt und dann verloren hat: – ein rasches, unschuldig-übermütiges Kinderlachen; das Lächeln einer Frau und der Ton ihrer Stimme; der erinnerliche, rein-klare Kinderblick, der in die Augen Einfach-Gläubiger kam, als sie hinübergingen; ein paar Takte aus dem Lied, das, im Dunkel des Fieberdeliriums ertrinkend, der eigne Bruder auf seinem Sterbebett sang.

Warum kamen ihm diese unbekannten Gesichter ins Gedächtnis zurück? Vergessen nämlich konnte er sie nicht, diese Millionen umdunkelter Antlitze aus jenen Jahren seiner beginnenden Wanderschaft, in denen er zum erstenmal die Straßen einer großen Stadt allein durchstreunte – ein Irrer, ein Bettler, ein König – ein Mensch, den die mächtige Lebenslust der heimlichen Welt mit all ihrer herrlichen, magisch geladenen Gegenwart erhaben berauschte – ein Mensch, der auf jeder wütigen Jagd durch die wimmelnden Straßen des Lebens, auf jeder wütigen Fahrt durch die tiefen Tunnels die fast unerträgliche Heftigkeit der Sieger- und Entdeckerfreude erlebte – ein Mensch, dem sein Leben glücklicher und gnadenhafter, goldener und gefüllter schien, als je ein Leben gewesen sein könne.

Er wußte es nicht. Er verstand nie, warum eigentlich alle diese umdunkelten, namenlosen und unbekannten Antlitze einer ihm fremden Menschenmillion – Gesichter von Vorübergehenden, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte, und die ihm dann sofort entschwunden waren, und Gesichter von Leuten, die er hundertmal auf der Straße ohne Gruß, ohne irgendein Zeichen des Sichkennens getroffen hatte – ihm später in Heimsuchungen wieder begegneten, und dazu mit diesen Empfindungen des Verlusts, der Zuneigung und der allerausgesprochensten Daseinsvertrautheit. Alles, was er erkennen konnte, war, daß sie ihm in Wahrbildern von unabblaßbarem Glanze erschienen, und daß das Licht der Zeit, der dunklen Zeit, auf ihnen allen lag, und daß in all diesen Leben etwas Seltsames, Verrücktes und Einsames gewesen war, das er bei den Begegnungen augenblicklich -inständig, unverwundert und unüberrascht gespürt haben mußte.

Wenn ihm diese Bilder der rückgeschauten Vergangenheit in späteren Jahren erschienen, empfand er stets einen bitteren Verlust und sehnte sich sehr nach jenen Menschen. Er wollte sie dann ausfindig machen, sie ansehn und kennenlernen, wollte sie ausfragen, um zu erfahren, welcher Art ihre Leben gewesen wären, und was ihnen alles geschehen war. Diese sonderbaren, geisterhaften und buntzusammengewürfelten Wesen nämlich, die ihm so zu Lebensgefährten wurden, standen alle in einem eigenartig einsam getönten Licht, und was diese Leute solcherweise in magische Übereinstimmung und Zusammengehörigkeit brachte, das hätte er nie sagen können. Jedenfalls aber konnte er sie nie vergessen.

Einer aus der Schar war ein Greis, ein Greis mit rastlosen Eiferer-Augen und einem herabhängenden, tabakfleckigen Schnurrbart. Er hatte ein Lodging-House. Ein Student, den Eugen kannte, hatte Zimmer in diesem Haus gemietet. Und dieses Haus war vom Keller bis zum Dachboden ein Museum. Ein Sammelort für Dinge, die mit der einzigen Manie, die diesen Greis besaß, zu tun hatten. Aufgeschichtete Bücher standen in taumeligen Säulen; Plemper und Plunder war gehäuft; eine Wüstenei von alten Drucken und Ramsch war überall. Und dieser unzählige und unzählbare Kram und Krempel, dieses vergilbte und verstaubte, ungelesene und unlesbare Zeug – dies alles bezog sich auf die Memoiren eines einzigen Menschen: Napoleon.

Eine aus dieser Gesellschaft war eine Frau mit einer Masse hennaroten Haars, das sie wie eine Krone hoch auf dem Haupt trug. Unentwegt, gleichsam alterslos und einbalsamiert, in einem hermetisch-abgeschlossenen, todlosen Gegensatz zu den vorübergehenden und wandelbaren Dingen des Daseins – so saß sie Tag für Tag in einem Glaskäfig vor einem Lichtspielhaus an der Washington Street. Die Leute standen Schlange und drängten ständig zu ihr heran; eine rotierende Treppe mit gläsernen Stufen führte unmittelbar neben ihrem Glaskäfig steil hinauf in den ersten Stock; unter den gläsernen Stufen schäumte und taumelte, kristallen gespiegelt, eine blitzende Lichtkaskade – und die Frau mit dem hennaroten Haarbau saß da, todlos, unentwegt, hermetisch abgeschlossen, einbalsamiert.

Ein anderer Gesellschafter war ein alter Mann mit einem irren, kühnen, schönen Gesicht und wildwirrem, silbrigem Schütterhaar. Er ging, immer vor sich hin murmelnd, durch die Straßen in Cambridge, ging über die mit Bretterrosten belegten Wege im Harvard Yard. Er trug nie einen Mantel, hatte nie einen Hut auf; es mochte wettern, wie es wollte. Um ihn herum war immer Winter, war der harsche Rotglast von Wintersonnenuntergängen auf zackig bewölkten Winterhimmeln, war die Trostlosigkeit von altem Schnee, der auf der Straße, im Harvard Yard und in der Gosse angefroren war ... um ihn herum war immer die unaufhörliche und verdrießliche Wüstheit des grimmigen Grauwetterwinters.

Eine aus dieser Gesellschaft war eine Kellnerin in einem Speisehaus an der Tremont Street, eine Frau von einem stillen, gesetzten Anstand, um deren Lippen ständig das allersinnlichste, allerzärtlichste, allerverführerischste Geheimnis von einem Lächeln spielte, das Eugen je auf einem Frauenantlitz gesehen hatte. Dieses Lächeln trieb ihn tausendmal in jenes Speisehaus, es war schuld daran, daß er abends an diese Frau dachte, daß er von Gedanken an sie erfüllt auf den Straßen herumstreunte, daß er schließlich allabendlich dort zu Nacht aß. Wenn er an sie dachte, geschah es mit wilder Freude und im Gefühl des nah bevorstehenden Besitzens; sie aber hatte nie das geringste gesagt, getan oder auch nur angedeutet, das nicht korrekt gewesen wäre oder ihm Trost, Hoffnung oder auch nur irgendeine Kenntnis von ihrem Leben vermittelt hätte.

Er machte nie ihre Bekanntschaft, er wußte nicht einmal, wie sie hieß. Etwas Stolz-Geheimes in ihm hielt ihn davon ab, je mit vertraulicher Wärme oder Neugier zu ihr zu sprechen. Aber er verbrachte tausend gute Stunden im Gedanken an sie, Stunden, die mit all der Leidenschaft, den Träumen und den Sehnsüchten der Jugend erfüllt waren. Diese Frau war nicht mehr jung. Die anderen Kellnerinnen waren jünger und frischer, sahen besser aus, hatten schönere Beine und waren besser gebaut, aber diese Frau wurde zu der Gestalt, um die sich eine jener glitzernden und unmöglichen Phantasiewelten drehte, die sich junge Männer erschaffen. Eugen wußte überhaupt nicht, wie es um diese Frau stünde, er hatte weder Wege noch Mittel, um etwas über ihr Leben, ihre Eigenschaften, ihre Art, ihr Denken und Reden ausfindig zu machen. Alles, was er feststellen konnte, war dies, daß ihre Stimme ein wenig heiser und rauhkehlig war. Aber er wob um sie eine große Legende von Wohlstand und Ruhm, von Herrlichkeit und Liebe – er erschuf eine Welt, in der diese Frau in königinnenhafter Schönheit, Feinheit, Klugheit und Seelengröße lebte. Und jedes Hindernis, das die gemeinen Lebensumstände zwischen ihn und dies Traumdasein schoben, räumte er augenblicklich mit der wilden Phantastenlogik der Begierde aus dem Weg.

Um dieser Frau willen strich er auf hundert Straßen umher und ging dreitausend Meilen zu Fuß, um ihretwillen aß er tausend Lendensteaks in jenem Speisehaus. Er wartete mit wütiger Ungeduld auf den Abend. Wenn er sich dann dem Speisehaus näherte, erschlafften ihm die Hände, die Eingeweide wurden ihm dumpf und stumpf im Leib, aber ein unsagbarer Freudenüberschwang machte ihm das Herz heftig pochen und schnürte ihm schwellend die Kehle zu. War er dann eingetreten und hatte sich in den ersten Stock begeben, dann wurde sein ganzer Körper wach und rege von einer schillernd durcheinandertaumelnden Bewußtheit von Leidenschaft, Glücksal, Hunger, Triumph, Musik und überschwenglich-humoriger Aufgelauntheit, so sehr, daß er seine übermächtige Verzückung kaum zu bezähmen wußte.

Alles in diesem Speisehaus war dann über alle Möglichkeit hinaus gut, wunderbar und maßlos erfreulich. Die blitzsauberen, wollüstig aussehenden Kellnerinnen mit den sprödgestärkten Linnenschürzen trugen Servierbretter mit dampfenden Speisen an ihm vorbei – es erschien die Kaiserin seiner Wünsche, sauber und nett und adrett, gesetzt und anständig und gelassen, und lächelte dieses stolze, unfaßbare, ganz leise, gespenstisch-phantomische Lächeln, das sich wie Rauch auf ihren Lippen kräuselte, dieses Lächeln von verrücktmachender Zärtlichkeit und Verführung –, und dazu spielte die Restaurant-Kapelle, drei Mann hoch, frische, süße, volkstümlich-sehnsuchtselige Weisen, die in ihm zu rauschhaft-trunkenen, unendlich viel großartigeren, stolzen und brausenden Siegesgesängen wurden, – und während er zuhörte, sah er sich ein paar junge Neu-Engländerinnen an, hübsche, stattliche, klaräugige, liebreizende Mädchen, die tadellosen Beine in Wollstrümpfen, flappende Galoschen um die Füße, und diese Geschöpfe sahen so lustreif und zärtlichkeitsbereit aus, als ob man wirklich mit ihnen anbandeln müsse – – und dies alles spornte dann Eugens Hunger mit der verrückten Würze der Vorgenüsse und Beigenüsse, und das Essen schmeckte ihm besser als je im Leben.

Alles, was er sah und erlebte, erfüllte ihn heimsucherisch mit Kummer, Hunger, Lust, Siegestrunkenheit, Herrlichkeitsvorstellungen, Entzücken und außerdem mit einem grenzenlos übermütigen Humor. Das Wahrzeichen der Gaststätte war in Schildern an der Wand aufgehängt: Unter einem flammenden Adelswappen stand von Schnörkeln umschwungen das Motto Luxuria cum Economia. Der Eindruck, den diese Worte auf ihn machten, war schlichthin unglaublich. Er konnte nie sagen, was er eigentlich dazu sagen wollte, was er bei diesen Worten verspürte, und hätte er gesagt, daß dies »die komischsten Worte waren, die ihm je vorgekommen« wären, dann wäre auch noch nicht annähernd ihr wirklicher Eindruck auf ihn beschrieben.

Diese Worte taten ihm etwas an, das weit über die bloße Komik hinausreichte. Die Gemütsbewegung, die sie in ihm hervorriefen, konnte er nicht mit Namen nennen. Aber er brauchte bloß eines dieser Schilder anzusehen, und ein wilder, wortloser, maßloser, idiotischer Lachschwall brach sich wie eine Sturzwelle in ihm, und ein frohlockendes Grinsen zerspliß ihm schier das Gesicht. Ihm war zum Brüllen vor Lachen, zum Aufschreien, zum Mit-den-Fäusten-auf-den-Tisch-Hämmern zumut, die wilden Bockschreie der Begeisterung schwollen ihm in der Kehle, und die Leute an den Nebentischen fingen an, ihn zu mustern, denn es mußte ihnen wohl so vorkommen, als wäre da einer verrückt geworden. Er beherrschte, bezähmte und bändigte sich, so gut es eben ging, aber später auf der Straße, oder spät nachts auf seiner Bude, fielen ihm die Worte wieder ein, und das idiotische, wortlose, übermächtige Lachen schüttelte ihn dann so, daß er vor Lust brüllte und zu zerplatzen glaubte.

Trotzdem: diese Worte beschenkten ihn auch gleichviel mit einem sonderbaren Glückselig- und Zufriedensein. Er empfand eine regelrechte Zärtlichkeit für Leute, die so ein Motto malen und für die Besitzer der Gaststätte, die es feierlich-ernst ausgedacht, bei dem Gebrauchsgraphiker bestellt und dann triumphierend in zahlreichen Exemplaren aufgehängt hatten. Ebenso ging's ihm mit den sogenannten »guten Geschmack« und Dinge wie »Vornehmheit« und »Verfeinerung« betreffenden Glaubensgrundsätzen. Mit diesen Dingen war etwas Mißverstandnes und recht Klägliches ins Leben hereingebrochen, etwas, das sich überall anzeigte, etwas grotesk Verkehrtes, Lachhaftes und Wesensverwirrtes, das einem irgendwie eine warme, wortlose Zuneigung für die armen Opfer einflößte, die an solcherlei »guten, vornehm-verfeinerten Geschmack« in allen Lebenslagen glaubten.

Aber hier ist nun der Grund, warum diese Dinge nie vergessen werden können: es kommt daher, daß wir so verloren, so nackt und so einsam in Amerika sind. Ungeheure und grausame Himmel wölben sich über uns, und wir Amerikaner sind immerdar Getriebene, und eine Heimstatt haben wir nicht. So ist es denn auch nicht der stete, langsame Gang unzähliger Tage, die verrinnen, pünktlich, wie der Sand im Stundenglas läuft, so ist es denn auch nicht die Asche der Zeit, deren wir uns am besten erinnern. Es ist auch nicht die hehre Eintönigkeit der verlornen Jahre mit dem festgegliederten Gerück des verlornen Lebens und der wohlbekannten Gesichter, derer wir uns am besten erinnern. Sondern es ist ein Gesicht, das wir einmal in einer Menge sahen, und das uns sofort entschwand: blickendes Auge und lächelndes Antlitz, das in einer Eisenbahn an uns vorbeifuhr. Es ist die Schneeluft, die an einem bestimmten Abend in der Dämmerung lauerte; es ist das Lachen einer Frau auf einer sommerlichen Straße, vor vielen Jahren gehört; es ist das Andenken an einen einmaligen Mond, der aufgehend am Rand eines dunklen Kiefernwalds stand im alten Oktober. – Und all unsre Leben sind beschrieben mit dem Gezettel eines Blatts an einem Zweig, an dem der Wind zerrte ... mit dem Sich-auf-tun einer Tür, und mit einem Stein.

Denn Amerika hat tausend Lichter und Wetter, und wir gehn auf den Straßen, wir gehn stets auf den Straßen, wir gehn auf den Straßen des Lebens allein.

Es ist der Ort der Heulwinde, des hurtig-schurrenden Laubs im alten Oktober, des harten Herabprasselns der Eicheln; der Ort des Sturmstieb-Gestöhns im Wintergebirg, wo Burschen aus voller Kehle aufschreien vor wilder, dranghafter Stärke und roher, unbändig strömender Kraft. Der Ort auch der fluß-überquerenden Züge.

Ein Fabelland, das einzige Fabelland. Der einzige Wunder-Ort. Wunder geschehn nicht nur hier, sie geschehn jederzeit.

Es ist der Ort der Daseinslust, stark und voll von Frohlocken; der Ort der dämmer-brütigen Luft, in der Schnee hängt; der Ort all der heftigen, zehrenden Farben, wenn im Oktober die wilden, die süßen Wälder entflammt sind; es ist der Ort der Apfelweinkeltern und des letzten braunen Sickergemaischs der »York Imperials«. Es ist der Ort lieber Mädchen mit gutbezahlten Stellungen und Rauhkehlchenstimmen, derer, die eine Runde berappen im Ausschank; es ist der Ort, wo Frauen mit schönen Beinen und seidnem Unterzeug in der Pullmankoje auf der Schlafstatt unter der deinen liegen, der Ort des dunkelgrünen Geschnarchs in den Pullmanwagen und der Stimmen zur Nachtzeit im Staate Virginien.

Es ist der Ort, wo die großen Dampfer tuten an der Hafeneinfahrt; der Ort, wo die großen Schiffe in die See stechen; der Ort, wo die großen Dampfer in den Nachtgolf schnaufen, und wo der große und geheimnisvolle und von Fremdzeit erfüllte Strom ewig an uns vorbei in das Meer fließt.

Die Schleppboote bellen auf dem Fluß; um zwölf Uhr stöhnt die »Berengeria« auf; ihre schlanken Flanken gleiten sacht an den Pieren vorbei, jenseits der Eleventh Street in New-York-City. Und in der Nacht stürzt ein großer Baum um in Alt-Catawba; in den Bergen dort, wo ich her bin.

Es ist der Ort von Herbstmondaufgängen: der Mond hängt tief und orangen am Rand der klarkalt umrissenen Kiefern; der Ort von Frost und Stille, von reiner, trockener Erschütterung und von der Üppigkeit schwerer Kürbisse, gilbend auf hartem, schollenklumpigem Ackerland. Der Ort, wo Hühner im Schlafsitz sich fiedrig aufplusternd regen, wo Hundegebell frostig verweht, wo große Scheuern in monddurchschwommener Nacht ihre Schlagschatten werfen auf welliges Feld, und wo mit langgezogenem, klagendem Pfiff der Schnellzug, der »Fast Expreß«, hinbraust. Es ist der Ort der Rangierbahnhöfe und Lokomotivschuppen: Flacker und Dampf auf Geleisen, Gebeier und Geschell, Signallaternen pendeln und baumeln und beben, plötzlich grellen die Lichter einer mächtigen Maschine auf, Scheinwerfer, und streichen über Schläferantlitze hin. Es ist der Ort des furchtbaren Straßengesträhns und der Ausbreitung und des Geschwels: der Widerschein der Stadt Philadelphia glost weithin sichtbar am Himmel, während der Schlafwagenzug ruhig-rumpelnd dahinrollt. Es ist zudem der Ort, wo der »Transcontinental Limited« seine achtzig Meilen die Stunde fährt über den Erdteil: dunkle Städtchen pfeifen vorbei wie Gewehrkugeln, und dann ist wiederum nur sie, wie ein entfalteter Fächer vorübergerafft, – die dunkle, geheime, einsame Erde.

Vorausgeschaut hab' ich dies Bild viele Male; nun will ich mir einen Fahrschein lösen und reisen im Fast Expreß.

Es ist der Ort der wild-frohlockenden Wintertagsfrühe, wenn der Wind, der die ganze Nacht lang geheult hat, den Pulverschnee treibt; es ist der Ort des Alleinseins; auf den Ästen der Blaufichten und Schierlingstannen lastet der Schnee; es ist der Ort, wo die Fall-River-Boote an die Werft gepflöckt liegen, und der Grauschnee wutwüster, unfaßbarer, sturmweißer Vormittage peitscht über sie hin. Es ist der Ort der Blockhäuser am zugefrorenen See, des süßen Atems und des lüsternen Fleischs sündiger Weiber; es ist der Ort der tragischen und einsamen Schönheit Neu-Englands; es ist der Ort der roten Scheunen, der Laut von Hufen kommt aus den Ställen, und an der Tür hängt noch ein Fetzen von einem alten, knallbunten Zirkusplakat. Es ist der Ort der tollen und scharfen Frühstücksgerüche: hausmacher Bratwurstfüllsel, Schinken-und-Eier, dampfende Weizenpfannkuchen und aromatischer Kaffee, und der Ort von einsamen Jägern im frostigen Unterholz, die ihren flappohrigen Hunden pfeifen.

Wo der alte Doktor Ballard nun wohl ist mit all seinen Hunden? Er hielt Hunde für heilig; glaubte, die Seelen der teuren Toten führen in sie. Die Seel' seiner jüngsten Schwester saß auf dem Kutschbock an seiner Seite; sie hatte lange Ohren, und ihre Augen waren voll Trauer. Zwei Dutzend andere von seinen geliebten Toten trotteten um seinen leichten Zweisitzerwagen, als er damals den Hügel hinauf an meinem Vaterhaus vorbeifuhr. Das ist nun elf Jahre her; ich war neun und starrte ernst zum Fenster hinaus auf den alten Doktor Ballard.

Es ist der Ort der schönen, gradaus-blickenden Bostoner Mädchen mit den kalten, weißen Bäuchen und der begrabenen Lust; der reifen, hirnlosen Blonden mit weichen Lippen und blumigem Duft; der Mädchen mit wohlgeformten Armen, die auf Leitern stehn und Orangen pflücken; es ist gleichfalls der Ort, wo große Mädchen mit trägen Leibern, schweren Beinen und milchigem Fleisch von ihren reichen Vätern aus Kansas City auf die teuren Schulen in den Oststaaten geschickt werden; und in Kansas dort gibt es liebliche Riesengeschöpfe von Mädchen: sie umarmen wie brünstige Bärinnen und haben Namen wie Neilson, Lundquist, Jorgenson, Brandt.

Ich werde kreuz und quer, hin und zurück über Land fahren auf den großen Zügen, die durch Amerika donnern. Ich werde in die Viereck-Staaten des Westens reisen, o ja, ich will nach Boise und Albuquerque und Helena. Ich will nach Montana und in die beiden Dakótas und nach unbekannten Orten.

Es ist der Ort der Jähzorntaten und des plötzlichen Tods. Schnell bellen Schüsse nachts, der Knüttel der irischen Polizisten saust, Hirn und Blut spritzen aufs Pflaster. Es ist der Ort der Kleinstadtschießereien, der Ort der Männer, die die Liebhaber ihrer Gattinnen abknallen, der Neger, die mit Rasiermessern abkehlen, der Leute aus dem Gebirg, die den Feind auf Bergmatten umlegen. Es ist der Ort der gräßlichen Säufer mit fauchenden Stimmen, lästermäuliger Männer, die zu einer Rauferei mit dem Messer herausfordern. Es ist der Ort, wo man große Worte macht, wo man albern und laut prahlt, wo man heftig und häßlich droht. Es ist auch der Ort der hundsgemeinen kleinen Kerle mit weißen Fressen und Eidechsenaugen: sie meucheln flink und beiläufig im Dunkeln. Es ist das gesetzlose Land, das sich am Mord weidet.

» Kennst Du die zwei Lipe-Mädchen?« frug er. »Ja«, sprach ich. »Sie wohnten in Biltburn am Fluß, und eine von ihnen ertrank in den Überschwemmungstagen. Sie war lahm, und sie schaffte sich in einem Rollstuhl von Ort zu Ort. Sie war stark wie ein Stier.« »Ja«, sagte er, »die hab ich gemeint.«

Es ist der Ort der großen Athleten und Sportsleute; der Langstreckenläufer, die im März trainieren, und der Kurzstreckenläufer, die nur zehn Sekunden ans Ziel brauchen; der Hochspringer auch und der Hürdenspringer. Es ist der Ort, wo Frühling kommt, wo die Jungbirken zart-weiße Borken haben, wo die Erde taut, wo die Bäume auslauben mit fiedrig-flitterndem Grünrausch; es ist der Ort, wo das Gras schnell schießt und die Knospe leis birst, der Ort der plötzlichen Ergrünung von Wildnissen, wo die Rudermannschaften auf den Flüssen erscheinen, und die Trainer fahren hinterher in kleinen Motorbooten, und wenn sie verschwunden sind, schwappt das Wasser der Kielspur waschend ans Ufer. Es ist der Ort des Baseballspiels, des leichten Hochschlags, des dumpfen »Glopp«-lauts des Balls in den Fanghandschuh und des hellen »Kräck«-lauts des Schlagstocks, der trifft. Es ist der Ort der großen Schläger, Feldläufer und Einschenke; der Nigger, die dem Spiel zusehen, und der Weißen, die dem Spiel gleichfalls zusehen: da sitzen sie auf den Bänken ohne Lehne auf dem gestuften Zuschauerstand, und die Bänke riechen nach altem, harzigem, sonnengebleichtem Holz. Es ist der Ort des Ruben Wadell, des mächtigen, ungezähmten Einschenks, der solches Pech hatte: wenn sein linker Arm schwang, war es, als sauste die Lasche an einer Peitsche durch die Luft. Es ist der Ort der Faustkämpfe, der gerissenen jüdischen Leichtgewichtsboxer und der schweren italienischen Trommelfäuster, der Ort des Leonard, des Tendier, des Rocky Kansas und des Dundee. Es ist der Ort, wo der Champion dem Rivalen mit gelangweilter Miene über die Schulter blickt.

Eines Morgens werde ich erwachen in fremdem Land und glauben, ich hört' einen Gaul auf dem Straßenpflaster zu Hause.

Es ist der Ort, wo immer alle gewinnen möchten, wo sie mit Siegen prahlen. Es ist der Ort, wo man schnell Geld machen kann, und über Nacht Vermögen verloren werden. Es ist der Ort der endlosen Güterzüge mit ihrer schwerscheppernden Einsamkeit nachts, und der Ort der stillen, befrachteten Wagen, die auf Kurven abbiegen in die föhrenbestandene Verlassenheit von Neuland und unbekannten Fernen, in die erhaben gaffende Leere. Es ist der Ort, wo die Strolche, die Tagediebe, zur Stunde des Sonnenuntergangs aus den Wäldern kommen, von der großen Stille der Wassertürme, aus dem Zwielicht, verstohlenes, heimliches Pack. Es ist der Platz der großen Tramps, der herrlichen Vagabunden und Landstreicher, des Oklahama Red, des Fargo Pete und des Jersey Dutchman, der Kerle, die blind auf den Güterzügen fahren, die nach der Westküste gehn. Es ist der Platz der verkommenen Stromer, der verbummelten Lumpen; sie kommen im Oktober ... aus den Staubhosen, den Windböen, in denen die verkrumpelten Zeitungen herumgewirbelt werden, kommen sie und betteln mit Konservenbüchsenhitze im Atem: »Helfen Sie dem alten Mann, Mensch! Der Alte ist ein guter Kerl, Mensch, seien Sie doch nicht so zäh, Mensch, der Alte ist Ihr Freund! Wie wär's Mensch ...!?«

Es ist der Ort der Spielratzen in den Billardhallen und der herumhockenden Galane in den Drogerien; der Kleinstadthuren und ihrer Stenze, der hartgesottenen Zuhälter; es ist der Ort, wo man zweisam am Sonntag ins Gehölz geht und unter den Lorbeersträuchern, dem wilden Magnoliengebüsch und den blühenden Rhododendren einen Platz findet. Es ist der Ort der billigen Stundenhotels und der halbwüchsigen Buben, die mit zitternden Lippen warten, wenn ihnen der Nigger ihr erstes Weib besorgt. Es ist der Platz der betrunkenen College-Studenten, die das gute Geld ihrer Väter vergeuden und Pelzmäntel tragen, wenn sie als Zuschauer zum Fußballspiel gehn. Es ist der Platz der lieblichen Mädchen ganz droben an der Nordgrenze und der schönen Gattinnen der Busineßmen.

Der Eisenbahnzug blieb auf der Strecke liegen, irgendwo jenseits von Manassas, und ich ging mit den andern Reisenden an den Schienen entlang nach vorn. »Was ist los?« frug ich den Lokomotivführer. »Die exzentrische Bindung ist entzwei, Sohn«, sagte er. Es war ein sehr kalter Tag, windig und voll schimmernder Sonne. Es war dies der nördlichste Ort, den ich damals erreicht hatte; ich war zwölf und unterwegs nach Washington zu Woodrow Wilsons Inauguration. Später könnt ich das Gesicht des Lokomotivführers nicht vergessen und auch nicht den Ausdruck »exzentrische Bindung«.

Es ist der Ort der ungeheuren und einsamen Erde, das Land der fetten Ähren und der Überfülle, dort wo der Farmer Baumwolle, Mais und Weizen erntet, die weinroten Äpfel des Oktober und den guten Tabak.

Es ist der Ort, der roh und grausam ist, es ist aber auch ein unschuldiger Ort. Es ist der gesetzlos-wilde Ort, die lebensmächtige Erde ist getränkt mit dem Blut der Ermordeten, mit dem Blut zahlloser Ermordeter, mit dem Blut ungerächter Ermordeter, deren niemand gedenkt; es ist aber auch der Ort des Kindes und des Lachens; es ist der Ort der Ekstase, die die jungen Männer schier zerreißt, so daß sie vor Lebenslust aufschreien, wenn der Wind heult, wenn der Regen rauscht, wenn sich die Gewitter entladen, wenn es sanft und stumm schneit; der Ort, wo die jungen Männer trunken werden vom Biß und Gesprüh der Luft und verrückt werden von der Sonnenkraft, wo sie an Liebe und Sieg glauben und denken, sie könnten nicht sterben.

Es ist der Ort, wo Du herauf durch Virginien kommst im großen Schnellzug zur Nachtzeit, wo die rumpelnde Fahrt über den breiten Potomac geht, und im Morgenlicht glänzt die Kuppel des Kapitols in Washington, des Staatsbaus der Nation. Grunzt der Fette, der sich im Pullman-Waschraum rasiert: »Was issen das? Wo sin' wir'n da? Washington?« Und der Dürre, der einen Blick durch Fenster wirft, sagt: »Ja, das isses. Washington. Ganz recht. Steig'n Se hier aus?« Grunzt der Fette: »Wer? Ich ...? Nö, ich fahr weiter bis Baltimore.« Es ist der Ort, wo Du in Baltimore aussteigst, und Dein Bruder steht da am Zug.

Wo ist mein Vater? Schläft in der Erde? Begraben? Tot schon diese sieben Jahr? Vergessen und verrottet unterm Boden? Von seinem eignen großen Grabmal festgehalten? Nein, nein! Und werd ich »Vater« zu ihm sagen, wenn ich zu ihm komm? Wird er mich rufen mit dem Namen »Sohn«? O nein, er wird mein Antlitz niemals sehen: wir werden niemals miteinander reden, es sei denn, um zu sagen, daß –

Es ist der Ort der schnellen Anfahrt, der blinden, heißen rauchigen Einfahrt, der tragisch-einsamen Schönheit Neu-Englands und der alten Wabe Boston; der Ort des mächtigen Bahnhofs dort und der Lokomotiven, die träge schlurren wie untätige Riesenkatzen; des herben und erregenden Geruchs der Eisenbahnzüge und Bahnhöfe; des Menschenschwarms, der millionenfüßig durchs Straßengesträhn wimmelt; des Geruchs vom Meer in den Häfen und des Gedankens an Seereisen, – und der Ort des großen Bockschreis, der mächtigen Freude in unsrer Jugend, der magischen Stadt von damals, als wir wußten, das glückseligste Leben auf Erden wäre uns sicherlich zugewollt, wir wären zwanzig, und wir könnten nie sterben.

Und immer ist Amerika der Ort der todlosen und hingerissenen Augenblicke, des Augs, das blickte, des Munds, der lächelte und entschwand, und des Worts, des Steins, des Blatts, der Tür, die wir nie fanden und nie vergessen haben. Und dies sind die Dinge, deren wir uns in Amerika erinnern, denn wir haben all die tausend Lichter und Wetter gekannt, und wir gehn auf den Straßen, wir gehn stets auf den Straßen, wir gehn auf den Straßen des Lebens allein.


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