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Sechstes Buch
Antäus: Die Erde wiederum

XC

Als er in Chartres erwachte, verspürte er eine aufregende Benommenheit. Es war ein grauer Wintertag, Schnee hing in der Luft, und er erwartete, daß etwas geschähe. Auf dem Land in Frankreich hatte er dieses Gefühl oft. Es war ein sonderbares, gemischtes Gefühl, in dem Alleinsein und Heimatlosigkeit sich begegneten, und aus dem heraus er sich verwundert fragte, warum er hier wäre; es waren aber auch Freude, Hoffnung und Erwartung in diesem Gefühl, obschon er nicht erkennen konnte, worauf er sich freute, worauf er hoffte, was er erwartete.

Nachmittags ging er zum Bahnhof und nahm einen Zug nach Orléans. Er wußte nicht, wo Orléans liegt. Der Zug war aus Güterwagen und Personenwagen zusammengestellt. Er kaufte sich eine Fahrkarte dritter Klasse und stieg in ein Abteil. Dann ertönte der kleine schrille Pfeifenpfiff, und der Zug rasselte von Chartres fort in die Gegend, fuhr ab auf diese unvermittelte, zufällige Art, mit der Züge in Frankreich abfahren, eine Art, die etwas Beunruhigendes für ihn hatte.

Es lag eine dünne Schneemaske auf den Feldern, und die Luft war rauchig. Allenthalben schien der Boden zu dampfen, und durchs Wagenfenster konnte man die feuchte Erde sehn und das Streifenmuster des Ackerlands und dann und wann ein paar Bauernhäuser. Es sah nicht aus wie Amerika; die Scholle war fett und wohlgepflegt, und selbst die rauchverhangnen, winterlichen Wälder machten so einen wohlgepflegten Eindruck. Manchmal sah man in der Ferne hohe Pappeln stehn; dann wußte man, daß dort Wasser war.

Im Abteil fand er drei Leute vor, einen alten Bauern, dessen Frau und die Tochter der beiden. Der alte Bauer hatte einen sprossenden Schnurrbart, ein versorgtes, wetterhartes Gesicht und kleine, anscheinend von einer Erkältung ein wenig angegriffne Augen. Seine Hände hatten eine felshafte, gediegene Schwere, er hatte sie wie Klammern auf die Knie gelegt. Das Gesicht der Frau war glatt und braun, sie hatte ein feines Netz von Fältchen um die Augen, und ihr Gesicht war wie eine alte braune Tonschüssel anzusehen. Die Tochter hatte ein dunkles, unwirsches Gesicht, sie hatte sich von den Eltern weg ans Fenster gesetzt, so, als schäme sie sich ihrer Eltern. Wenn diese von Zeit zu Zeit einmal etwas zu ihr sagten, dann antwortete sie in einer beinah empörten Stimme und sah sie nicht an.

Als der junge Mensch Platz genommen hatte, fing der Bauer ein freundliches Gespräch mit ihm an. Der junge Mensch lächelte und grinste den Mann an, obschon er kein Wort von dem verstand, was jener sagte, und daraufhin redete der Bauer weiter im guten Glauben, der Fremde verstünde ihn.

Der Bauer zog aus seiner Rocktasche ein blaues Päckchen von jenem billigen, starken Tabak, dem ›bleu‹, den der fürsorgliche Staat denen, die nicht reich sind, für nur ein paar Centimes abgibt. Der Bauer wollte seine Pfeife stopfen, aber der junge Mann zog ein Päckchen amerikanischer Zigaretten aus der Tasche und bot dem Bauern an.

»Wollen Sie eine?«

»Meiner Treu, ja!« sagte der Bauer.

Unbeholfen klaubte er die Zigarette aus dem Päckchen und hielt sie dann unbeholfen zwischen seinen großen, steifen Fingern. Er brachte sie an das Flämmchen, das der junge Mann ihm darbot, und paffte an der Zigarette wie jemand, der das nicht gewohnt ist. Dann verfiel er darauf, das Ding prüfend zu betrachten, er drehte es in der Hand herum, um die gedruckte Aufschrift auf der Papierhülse zu lesen. Dann wandte er sich an seine Frau, die jede Bewegung dieses schlichten Vorgangs mit den glitzigen, gespannten Augen eines wachsamen Tiers verfolgt hatte, und fing eine schnelle, erregte Unterhaltung mit ihr an.

»Es ist amerikanisch – das da.«

»Gut?«

»Meiner Treu, ja! Es ist von guter Qualität.«

»Hier, laß mich sehn! Wie heißt denn das?«

Die beiden starrten den Aufdruck dumm an.

»Wie sagen Sie das da?« fragte der Bauer den jungen Mann.

»Lücky Strique«, sagte der junge Mann, erbietigerweise die Aussprachegepflogenheiten des Landes annehmend.

»L-l-lücky –?« Die beiden starrten zweifelnd. »Was wünscht das zu sagen ... auf französisch?«

»Je ne sais pas«, antwortete der Gefragte. Er wußte nicht, was ›Lucky Strike‹ auf französisch heißt.

»Wo fahren Sie hin?« fragte der Bauer und starrte den jungen Mann aus seinen kleinen, erkältungswässerigen Augen mit gespannter Neugier an.

»Orléans!«

»Wie?« fragte der Bauer mit einem Ausdruck der Verwunderung im Gesicht.

»Orléans.«

»Ich versteh' nicht«, sagte der Bauer.

»Orléans! Orléans!« rief die Tochter empört vom Fenster her. »Der Herr sagt, daß er nach Orléans fährt.«

»Ah!« rief mit plötzlich erleuchteter Miene der Bauer aus. » Orléans!«

Dem jungen Mann dünkte, er habe das Wort genau so ausgesprochen, wie es der Bauer aussprach, aber er wiederholte:

»Oui, Orléans.«

»Er fährt nach Orléans«, sagte der Bauer zu seiner Frau.

»Ah-h!« rief sie aus, die Wissende, mit einer großen Miene der Erleuchtung, und dann schwiegen die beiden still und starrten wieder den rätselhaften jungen Mann neugierig an.

»Aus welcher Gegend sind Sie?« fragte der Bauer alsdann. Er hatte immer noch den rätselhaft betretenen Starrblick in seinen kleinen Augen.

»Wie war das? Ich habe nicht verstanden.«

»Ich sage – aus welcher Gegend sind Sie?«

»Der Herr ist kein Franzose!« rief das Mädchen wütend, gleichsam empört über die Dummheit der Eltern. »Er ist ein Fremder. Seht Ihr das nicht?«

»Ah-h!«

Dann wandten die beiden Alten wieder ihre kleinen, runden Augen auf den jungen Mann und betrachteten denselben mit einer steten, festen, tierhaft-wachsamen Neugier.

»Von welchem Land kommen Sie?« fragte der Bauer alsdann. »Was sind Sie?«

»Ich bin Amerikaner.«

»Ah-h! Amerikaner ...« Er wandte sich an seine Frau. »Er ist Amerikaner«, sagte er.

»Ah-h!«

Das Mädchen machte eine ungeduldige Bewegung und starrte weiter wütend und unwirsch zum Fenster hinaus.

Und dann begann der Bauer mit seiner gespannten, rätselhaft betretenen, tierhaft wachsamen Neugier seinen Reisebegleiter vom Kopf bis zu den Füßen aufs eingehendste zu mustern. Er sah sich die Schuhe an, die Kleider, den Mantel, und schließlich betrachtete er die Handtasche, die über dem Platz des jungen Mannes im Gepäcknetz lag. Er gab seiner Frau einen kleinen Stups, deutete auf die Handtasche.

»Das ist gutes Zeug, eh?« sagte er leis. »Es ist echtes Leder.«

Die beiden betrachteten die Handtasche eine Zeitlang und richteten dann wieder ihre neugierigen Blicke auf den jungen Mann. Dieser bot dem Bauern abermals seine Zigaretten an, der Bauer nahm eine und bedankte sich.

»Das ist was sehr Feines«, sagte er und deutete auf das Zigarettenpäckchen. »Kostet viel, eh?«

»Six Francs.«

»Ah-h ... Das ist sehr teuer«, entschied er und betrachtete nun die Zigarette mit noch mehr Ehrfurcht.

»Warum gehn Sie nach Orléans?« fragte er nach einer Weile. »Haben Sie Bekannte dort?«

»Nein. Ich geh' bloß hin, um mir die Stadt anzusehn.«

»Wie?« Der Bauer blinzelt dumm, nicht begreifend. »Sie haben Geschäfte dort?«

»Nein. Bloß um die Stadt zu besuchen. Um mir den Ort anzusehn.«

»Wie?« wiederholte der Bauer dumm nach einer Weile und sah den jungen Mann an. »Das versteh ich nicht.«

»Der Herr sagt, er wolle sich die Stadt ansehn«, warf das Mädchen wütend dazwischen. »Kannst Du nicht verstehn?«

»Ich versteh nicht, was er sagt«, sprach der alte Mann zu seiner Tochter. »Er spricht nicht Französisch.«

»Er spricht es sehr gut«, behauptete das Mädchen ärgerlich. »Ich versteh ihn ganz richtig. Du bist's, der dumm ist, das ist es.«

Nun schwieg der Bauer eine Zeitlang, er paffte an seiner Zigarette und sah den jungen Mann mit freundlichen, rätselhaft betretenen Augen an.

»Amerika ist sehr groß, eh?« fragte er schließlich und machte mit beiden Händen eine ins Weite weisende Gebärde.

»Ja, es ist sehr groß. Viel größer als Frankreich.«

»Wie?« fragte der Bauer wieder mit einem betretenen, geduldigen Blick. »Ich versteh' nicht«, erklärte er.

»Er sagt, Amerika ist viel größer als Frankreich«, rief das Mädchen gereizt dazwischen. »Ich kann alles verstehn, was er sagt.«

Und nun entstand minutenlang ein unbeholfnes Schweigen; nichts wurde gesagt. Der Bauer rauchte seine Zigarette, mehrere Male schien es, als wolle er sprechen, dann aber kam der rätselhaft betretene Blick in die kleinen Augen, und der Bauer sagte nichts. Draußen hatte es zu regnen angefangen, der Regen fiel in langem Schrägstrich auf die Fluren, und jenseits, in einem grauen treibenden Himmel war ein grauer milchiger Schein. Dort stand die Sonne, und es sah aus, als bräche sie durch. Als der Bauer dies sah, hellte sich sein Gesicht auf, er lehnte sich freundlich nach vorn auf den jungen Mann zu, tippte diesem mit einem großen, steifen Finger aufs Knie, deutete dann auf die Sonne und sagte sehr langsam und deutlich, so, wie jemand spricht, der ein Kind Worte lehrt:

»Le so-leil.«

Und der junge Mann wiederholte gehorsam das Wort, wie es der Bauer gesagt hatte.

»Le so-leil.«

Der alte Bauer und seine Frau strahlten entzückt auf, sie nickten zustimmungsvoll und riefen aus: »Ja. Ja. Gut. Sehr gut.« Der alte Mann wandte sich an seine Frau um Bestätigung und sagte:

»Das hat er sehr gut gesprochen, nicht wahr?«

»Aber ja! Vollkommen richtig.«

Dann deutete der Bauer auf den Regen, machte mit beiden Händen eine schrägabwärts streichende Gebärde und sagte wiederum langsam und geduldig:

»La pluie.«

»La pluie«, wiederholte der junge Mann pflichtschuldig, und der Bauer erklärte mit einem bekräftigenden Nicken:

»Gut. Gut. Sie sprechen sehr gut. In kurzer Zeit werden Sie gutes Französisch sprechen.« Dann deutete er auf die Felder draußen, durch die der Zug dahinfuhr, und sagte sanft:

»La terre.«

»La terre«, antwortete der junge Mann.

»Ich sag' Dir«, rief die Tochter empört von ihrem Fenster herüber, »daß er alle diese Worte kennt! Er spricht sehr gut Französisch. Du bist zu dumm, um ihn zu verstehn, das ist's!«

Der Alte erwiderte hierauf nichts, sondern saß einfach da und sah den jungen Mann mit einem gütigen, zustimmungsvollen Gesicht an. Dann, etwas schneller als zuvor, deutete er auf seine Weise nach der Sonne, in den Regen, auf die Erde und sagte:

»Le so-leil ... la pluie ... la terre.«

Der junge Mann wiederholte die Worte, und der Bauer nickte kräftig und mit Befriedigung. Dann sprach längere Zeit niemand, und da war kein Laut außer dem unregelmäßigen Klacketiklack des kleinen Zuges, und das Mädchen blickte unentwegt und mürrisch zum Fenster hinaus. Draußen fiel der Regen in langem Schrägstrich auf die fruchtbaren Felder.

Spät am Nachmittag hielt der Zug auf einem kleinen Bahnhof, und alle Leute machten sich fertig zum Aussteigen. Der Zug ging nicht weiter; wenn man nach Orléans wollte, mußte man hier umsteigen.

Der Bauer, seine Frau und die Tochter der beiden nahmen ihre Bündel und stiegen aus. Auf einem andern Geleis stand ein andrer kleiner Zug und wartete, und auf diesen Zug deutete der Bauer mit seinem großen, steifen Zeigefinger und sagte zu dem jungen Mann:

»Orléans. Das ist Ihr Zug da.«

Der junge Mann bedankte sich und schenkte dem Alten das angebrochene Päckchen Zigaretten. Der Alte bedankte sich überschwenglich. Ehe sie voneinander schieden, deutete er nochmals schnell hintereinander auf Sonne, Regen und Erde und sprach mit einem gütigen, freundlichen Lächeln:

»Le so-leil ... la pluie ... la terre.«

Und der junge Mann nickte, um zu zeigen, daß er sehr wohl verstünde, und sprach nach, was der Alte gesprochen hatte. Und dieser nickte kräftig beipflichtend und sagte:

»Ja. Ja. Es ist sehr gut. Sie werden schnell lernen.«

Das Mädchen, das mit mürrischer, abweisender Miene den Eltern vorausgegangen war, drehte sich bei diesen Worten um und rief in einem wütenden, gereizten Ton zurück: »Ich sag Dir, der Herr weiß das alles! ... Laß ihn jetzt in Ruh! Du machst Dich ja zum Narren!«

Aber der Alte und seine Frau zollten der Tochter keine Aufmerksamkeit, sondern blieben stehn, blickten den jungen Mann freundlich lächelnd an und schüttelten ihm zum Abschied warm und herzhaft die Hand.

Der junge Mann ging übers Geleis und stieg in den andern Zug. Als er ans Fenster seines Abteils trat, standen der Bauer und seine Frau noch auf dem Bahnsteig und blickten mit gütigen, begierigen Mienen nach ihm aus. Als der alte Bauer den Blick des jungen Mannes auffing, deutete er wieder mit dem großen, steifen Zeigefinger auf die Sonne und rief hinüber:

»Le so-leil!«

»Le so-leil!« rief der junge Mann zurück.

»Ja! Ja!« schrie der Alte lachend. »Sehr gut!«

Nun warf die Tochter dem jungen Mann einen verdrießlichen Blick zu, lachte ein kurzes, ungeduldiges, gereiztes Lachen und wandte sich ärgerlich ab. Der Zug zockelte los, aber der Alte und seine Frau blieben stehn und sahen, solang es ging, dem jungen Mann nach. Dieser winkte den beiden, und der Alte winkte kräftig mit seiner großen Hand und deutete lachend auf die Sonne. Und der junge Mann nickte und rief etwas, um zu zeigen, daß er es sehr wohl verstanden habe. Derweilen hatte sich das Mädchen ärgerlich abgewandt, es ging auf das Stationsgebäude zu.

Schließlich konnte der junge Mann die beiden Alten nicht mehr erkennen. Der Zug ließ das kleine Städtchen schnell hinter sich. Und nun war nichts mehr außer den Äckern, der Erde, den rauchigen, geheimnisvollen Fernen. Es regnete ununterbrochen.


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