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LI

Des Menschen Jugend ist ein wunderlich Ding. Sie ist der Pein und des Zauberwaltens so voll, daß er nie dazu kommt, sie zu kennen, wie sie ist, bis sie auf immer vergangen ist. Sie ist das Ding, dessen Verlust er nicht ertragen kann, das Ding, dessen Schwinden er mit unendlichem Kummer und Bedauern beobachtet, und sie ist auch das Ding, dessen Schwinden er wirklich insgeheim mit einem trübseligen Erfreutsein bewillkommt, das Ding, das er nicht wieder besitzen möchte, denn könnte ihm kraft irgendwelcher Magie seine Jugend zurückgeschenkt werden, dann möchte er sie freiwillig nicht noch einmal leben.

Warum dies so ist? Der Grund liegt da, daß das fremde und bittre Geheimnis des Lebens uns nie so fühlbar wird wie in unsrer Jugend. Und was ist es, dies fremde und bittre Geheimnis des Lebens, dessen wir so eindringlich und unaussprechlich, so schmerzlichbitter und bitterfroh gewahr werden, wenn wir jung sind? Es liegt darin, daß wir bei unserm Reichtum so arm, bei unsrer Macht so ohne Habe sind, ... daß wir die Herrlichkeit und den unmöglichen Wohlstand rings um uns sehen, einatmen, schmecken und riechen, daß wir mit einer unerträglichen Gewißheit den ganzen Bau des verzauberten Daseins spüren, ja, spüren, daß das glückseligste, reichste, gnadenhafteste, beste Leben, das je ein Mensch auf Erden kannte, unser ist, und zwar sofort, unmittelbar und ewig unser ist in dem Augenblick, in dem wir willens sind, den Schritt zu tun, die Hand auszustrecken, das Wörtlein zu sagen, – und daß wir dabei dennoch wissen, daß wir auf immer nichts behalten und besitzen können. Alles vergeht; nichts dauert; im Augenblick, in dem wir unsre Hand auf ein Wesen legen, zergeht es wie Rauch und ist entschwunden, und die Schlange frißt uns wieder am Herzen; wir sehen dann, was wir sind, und was aus unsern Leben werden muß.

Ein junger Mensch ist so stark, so verrückt, so selbstsicher, so verloren. Er hat alles und kann nichts gebrauchen. Immerdar wirft er sich mit der großen Schulter seiner Kraft gegen phantomische Schranken; er ist eine Woge, deren Gewalt sich unter zeitlosen Himmeln mitten im verlorenen Ozean bricht; er streckt die Hand aus, um ein Gekräusel bunten Rauchs zu greifen; er begehrt alles, spürt Hunger und Durst nach allem und kriegt schließlich nichts. Und am Ende wird er von seiner eignen Stärke vernichtet, von seinem eignen Hunger verschlungen, von seinem eignen Reichtum arm gemacht. Am Ende wird er, dem Geld und Sachbesitz gleichgültig sind, nichtsdestoweniger von der Habsucht geprellt, eben von seiner Habsucht, mit der verglichen des Königs Midas Goldgier zur Lumperei wird.

Und dies ist der Grund, weshalb, wenn seine Jugend dahin ist, jeder Mensch auf jene Spanne seines Lebens mit unendlichem Kummer und Bedauern zurückblickt. Es ist dies das bittre, kummervolle Bedauern eines Menschen, welcher weiß, daß er einst ein großes Talent besaß und vergeudete, eines Menschen, welcher weiß, daß er einst einen großen Schatz besaß und nichts davon hatte, eines Menschen, welcher weiß, daß er einst die Kraft zu allem besaß und sie nicht nützte.

Alle Jugend wird zwangsläufig ›vertan‹; es liegt in der Natur der Jugend, daß dem so ist; das ist's, warum alle Menschen mit Bedauern an ihre Jugend denken. Und dieses Bedauern wird eindringlicher, wenn uns die Erkenntnis kommt, daß diese große Vergeudung der Jugend durchaus unnotwendig war, wenn wir spöttischbitter erheitert entdecken, daß Jugend etwas ist, was nur junge Menschen besitzen, und mit dem nur alte Menschen etwas anzufangen wissen. Und deshalb sehn wir in späteren Jahren mit Kummer und Bedauern auf unsre Jugend zurück und erkennen, welch ein Reichtum unser gewesen wäre, wenn wir ihn genutzt hätten, – und dann gedenken wir der Weisberg, Snodgrass, O'Hare und schließlich auch zärtlich-freudig der guten, blachen Visage dessen, der eine Ziffer unter den Zahllosen auf dem Asphalt war, und der unser erster Freund in der großen Weltstadt wurde, gedenken wir des grauen Angesichts, in dem die millionenhaften fremden und heimlichen Großstadtmysterien verdichtet waren, gedenken wir dessen, der unser Freund, unser Bruder und der namenlose Mensch dieser Erde für uns war. Und so gedachte Eugen des Abraham Jones.

Diese häßliche, gute und getreue Kreatur hatte fast vergessen, wie sie wirklich hieß, denn der Familienname Jones gehörte freilich zu den einst aufs Geratewohl erworbenen Dingen, die in irgendeinem blinden, undatierten Augenblick der Vergangenheit verliehen wurden. Er rief das Bild auf der namenlosen Horden der Getriebenen und Furchtsamen, die im letzten Halb Jahrhundert in die Vereinigten Staaten strömten, der Einwandrer, deren Los bestimmt war durch ein Zufallswort, durch die Richtung einer Straße, in die sie einbogen oder nicht einbogen, durch eine treibende Menge, der sie sich anschlossen oder nicht anschlossen – oder auch durch die übellaunische, aufgebrachte Gebärde irgendeines dummen Bürotyrannen. So war es auch gewesen, als Abes Vater, ein polnischer Jude, der kein Wort Yankee-Englisch kannte, vor vierzig Jahren in Castle Garden ankam und bang-bestürzt und dumpf-betäubt vor einem kleinen Schwein von Einwandrungsinspektor stand, der ihn drohend anschnauzte: »Wie heißen Sie, häh? ... Wissen Sie nicht mal Ihren Namen, häh? ... Sie haben wohl gar keinen?« Darauf hatte der arme Jud keine Antwort gewußt außer einem verdutzten, furchtsamen Starren. Schließlich aber packte ihn die rasende Angst, und ein Redestrom schoß aus seinem Mund, polnisch, hebräisch, jiddisch, aber kein Wort, das der erzürnte Inspektor verstand. Der Jude bat, schwor, weinte, bettelte, betete, flehte, – tausend Vorstellungen von entsetzlichen und brutalen Gewalttätigkeiten, der ganze große Schandbericht vom Einwandrungswesen, so, wie er ihn aus dem Munde zurückgekehrter Abenteurer kannte und aus den Briefen derer, die im Triumph die Pforte des Zorns durchschritten hatten, – dies alles bedrängte nun sein terrorisiertes Gemüt. Er zeigte seine Papiere, er faltete flehentlich die Hände, er schwor alle ihm bekannten Eide, daß er nichts zu tun unterlassen habe, was die Einwandrungsvorschrift verlange, daß seine Angaben keinerlei Lug, Betrug oder Unterschiebung enthielten, und die ganze Zeit stand ihm das widerliche, geschwollene, verständnislose Gesicht des zur Raserei gebrachten Beamten vor Augen, und der Mann fauchte immer dasselbe: »Ihren Namen! ... Ihren Namen! Um Christi willen, wissen Sie nicht mal Ihren eignen Namen? ... Schon recht dann«, kam es plötzlich wütend, »wenn Sie keinen Namen haben, dann geb' ich Ihnen einen!« Das erboste Gesicht kam näher: »Ihr Name ist Jones! Verstehn Sie? J-o-n-e-s. Jones! Das ist ein anständiger amerikanischer Name. Verstehn Sie? Ich geb' Ihnen den guten, ehrlichen amerikanischen Namen Jones, den ein Haufen von guten, anständigen Leuten hierzuland führt. Nun haben Sie sich zu bemühen, daß Sie des Namens wert sind, daß Sie ihn verdienen. Verstehn Sie? Sie sind nun in Amurrica, Jones, verstehn Sie? Da müssen Sie selbständig denken, Jones! In Amurrica kennt man seinen Namen, da ist man dran gewohnt, selbständig zu denken. Verstehn Sie, Jones, jetzt sind Sie so kein ausländischer Dummschädel mehr, Ihr Name ist Jones! Sie heißen Jones! Sie sind – JONES!« gellte er. Und so war durch ein Zusammenspiel behördlicher Laune und idiotischen Zufalls Abes Vater zu einem neuen Namen gekommen. Eugen wußte nicht, wie Abe in Wirklichkeit hieß: zwar hatte Abe ihm den Namen einmal genannt, aber Eugen erinnerte sich nur des angenehmen, musikalischen Klangs; es war ein Wort, das der amerikanischen Zunge fremd ist, das ein Amerikaner nur mit Schwierigkeit im Mund zu formen und auszusprechen vermag.

Die Namensverwandlung war weitergegangen. Bereits in der ersten Klasse, in der Eugen ihn unterrichtete, zeichnete Abe seine Arbeiten mit einem schlichten, nichts offenbarenden ›A. Jones‹. Der verfluchte Vorname ›Abraham‹, dessen er sich entledigen wollte, war zu einem vieldeutig dunklen Anfangsbuchstaben verschrumpft, ganz so, wie der naturwissenschaftlichen Lehre zufolge die Beine der Wale, die sich voreinst auch auf dem Festland bewegen konnten, heute zu bloßen Ansatzstummeln verschrumpft sind. Und nun, im letzten Jahr, hatte Abe sogar noch eine weitere, eine endgültige Umformung gewagt, einen Versuch der Verhehlung und Täuschung, der bestürzend komisch und kläglich plump war. Eines Tages suchte Eugen Abes Nummer im neuen Telephonverzeichnis, er suchte ihn im großen, grauen Regiment der Jones, und einen Abe Jones gab es da nicht mehr; er fand den Gesuchten schließlich züchtig beschirmt hinter der gentlemanhaften Obskurität eines ›A. Alfred Jones‹. Die Metamorphose war somit vollständig vollzogen, und Abe war nun, wenigstens dem Namen nach, ein Mitglied der großen, christlichen Adelssippe der Jones. Wie seinem Vater der Jones' mit Gewalt aufgehängt wurde, so hatte sich Abe mit Gewalt den Namen ›Alfred‹ gestohlen oder geraubt. Die Tollkühnheit dieses Versuchs war verrückt, sie schien sinnlos, sie machte Eugen erbleichen, sie stieß ihn vor den Kopf. Was wollte Abe bloß mit so einem Namen anfangen? Welchen Lohn dachte er damit zu gewinnen? War er an irgendeiner mächtigen Verschwörung beteiligt, bei der alles auf den Klang des Namens ankam und nichts von der Erscheinung seines Trägers abhing? Wollte er ein schwindelhaftes Postversandunternehmen gründen? Oder führte er einen leidenschaftlich werbenden Briefwechsel mit einer betagten Christenjungfer, die zwar nur noch einen Zahn, aber eine Million glänzender Dollars hatte? Oder war dies eine gigantische Satire auf das Feine-Leut-Getu der nicht-jüdischen Bürger, auf die Christianität der Country-Clubs, die keine Juden aufnehmen, ein zuchtloser Ulk, dessen Zielscheibe sechzigtausend gekränkte und empörte Leute waren, die im ›Register der Guten Gesellschaft‹ standen? Eines jedenfalls war bestimmt undenkbar: Abe konnte nie hoffen, sich in einen Goy umzutarnen. Schon der erste, flüchtige Blick auf ihn offenbarte die ganze Geschichte seiner Rasse und seiner Herkunft. Hätte man versucht, alle Ostjuden aus dem Ghetto zu einer einzigen Gestalt zu verdichten, dann wäre wohl ein Jemand herausgekommen, der Eugens Freund Abraham Jones körperlich äußerst ähnlich sah.

Flagge und Banner seiner Rasse war schon ganz und gar die ungeheure, kittfarbene Nase, die mit karikaturenhafter, unproportionierter Extravaganz wie eine Dillgurke aus dem bleichen Gesicht hervorsprang und sich blähte und wölbte. Das bleiche, ziemlich mägerliche Gesicht war mit dünnen, blassen Sommersprossen besät. Abe hatte einen großen, dünnlippigen, ein wenig grausam wirkenden Mund und stumpfe, kurzsichtige Augen, die starr hinter der Brille blickten, oft blinzelten und sich zuweilen gefühlig verfinsterten und schleimfetzig vertrübten. Er hatte eine fliehende Stirn; niedrig und dumpf und fast reptilienhaft häßlich wich sie um einen oder zwei Zoll zurück zum Ansatz des unangenehmen öligen, dunklen, krüllgelockten, kurzgeschnittnen Haars. Abe war etwa mittelgroß und weder schlank noch füllig; seine Gestalt war grobknochig und eckig, und alles an ihr wirkte mägerlich und karg, hatte jene talgige Zähigkeit, die man oft an Großstädtern findet, ganz so, als ob zehntausend Tage und Nächte auf dem wurzellosen Pflaster allen Saft und alle Würze ausgetrocknet hätten, als ob das Wesen von Asphalt, Bausteinen und Stahl ins Hirn und ins Blut eingedrungen wäre mit Eigenschaften, die zäh, trocken, mägerlich und talgig machen und dem Gewebe einen gewissen Grad der Verhärtung verleihen.

 

Welche Erde hatte ihn genährt? War er hier geboren und unter Asphaltlilien und Pflasterweizen aufgewachsen? Welcherlei Mais gedieh denn auf den Steinen des Estrichs? Oder drang nie ein Erdenschrei durch den getretenen, unnachgiebigen Straßenzement? Hatte er vergessen, daß unter den Stahlfundamenten die unsterbliche, wachsame Erde wartet? Nein. Es strömte noch Blut – Blut, das ganz so rot und feucht war wie all das Blut, das je unterm Lorbeerstrauch die Erde tränkte.

Unter dem sauberen Stumpfkegel des grauen Filzhuts saß das trübselige, talgig pigmentierte Gesicht. Dieses Gesicht hatte das Verdickte, Betäubte, Leblose, das man oft in den Gesichtern alter Faustkämpfer findet. Es war ganz so, als hätte der heftige, wütende Ansturm von Stahl und Stein, als hätte das millionenfache metallische Geschmetter und Geratter, als hätte die stumpfsinnige Rohheit des Straßengetriebes die Haut gehärtet und verdickt, die gequälten Nerven verstümmelt und dumpf-empfindungslos gemacht. Aber hinter diesem Gesicht war noch Blut.

Abe war ein Bestandteil, ein unberechenbarer Bruchteil, ein Tropfen aus der grauen Flut schwärmenden Gewebes, das unaufhörlich auf dem abgetretnen Pflaster hin und her und durcheinander wob. Er war ein typisches Atom aus dem Menschenschwarm und gleichzeitig ein lebendiger Mensch. In der Sprechweise, in der Art zu gehen, im Anzug und in der Pigmentierung unterschied er sich nicht im geringsten von dem Wohnzellen- und Straßenpflasterartikel, wie er in New York gang und gäbe ist. Er war häßlich, karg, zäh, knorrig, halbdeutlich im Ausdruck, eckig wie ein Backstein, spärlich wie ein Stahlgerüst, es war wenig Saft und flüssige Daseinswürze in ihm übriggeblieben, – und dennoch war er ein ehrlicher, treuer, irgendwie guter und denkwürdiger Mensch, ein Wesen, dessen Fiber und Faser vom Leben und der Bewegung von tausend Straßen durchpulst war, behend und auf der Hut und ganz ans Umweltklima gewöhnt, ein lebendiger Charakter, ein Großstädter. Und Eugen hatte in seiner entsetzlichen Angst, zu ertrinken, in seiner atomischen Vereinsamung unter den zahllosen Horden derer, die auf dem wurzellosen Pflaster dahintrieben, in seinem wahnhaften Wunsch, hinter die Millionen steinerner Schranken zu dringen, das Leben dort kennenzulernen, es sich zu eigen zu machen und sich selbst in der Wabe einzurichten, nach diesem trübseligen, grauen, hoffnungslos aussehenden Juden gegriffen.

Dies war seine Geschichte:

Abraham Jones war ein jüngeres Kind aus einer großen Familie. Er hatte zwei jüngere Brüder, drei ältere Brüder und zwei Schwestern. Das Familienleben war eng, verworren, leidenschaftlich, von heftigen Uneinigkeiten und Abneigungen zerrissen, von gleichviel heftigen Zuneigungen und Ergebenheiten zusammengehalten. Abe mochte seinen Vater nicht und haßte einen seiner älteren Brüder. Er liebte eine von seinen Schwestern und war der andern mit stillschweigend-treuer Anerkennung zugetan.

Sie, Sylvia, war eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, als Eugen sie kennenlernte. Sie wohnte damals schon seit zehn Jahren nicht mehr zu Haus. Sie war eine fiebrige, nervöse, abgezehrte, ›hochemaillierte‹ Großstädterin; sie liebte alles, was glitzernden und elektrischen Wesens ist; sie war im Schwall und Prall einer wütigen Lebenswelle gefangen und war dennoch unzufrieden mit ihrem Dasein, voll von inneren Unstimmigkeiten, gereizt und ungeduldig. Wie alle ihre Geschwister hatte sie sich von Kind auf selbst durchgebracht. Sie hatte als Ladenmädchen angefangen, dann hatte sie in einem Damenhutladen gearbeitet, und nun betrieb sie – gescheit, smart und fähig, wie sie war – ein Hutgeschäft in der Second Avenue, die, wie Abe dem Eugen erklärte, der ›Broadway of the lower East Side‹ war. Sie hatte da ein kleines, elegantes, glitzerndes Juwel von einem Laden, grell vom harten, elektrischen Licht, mit smart und geschmackvoll dekorierten Schaufenstern, und dort konnte man hunderterlei schmucke, flotte und stilvolle Hüte kaufen. Sylvia hatte einen sehr beträchtlichen Erfolg in den Geschäften, der Laden war überlaufen, sie hatte mehrere Gehilfinnen.

Eugen lernte Sylvia kennen, als Abe ihn eines Tags mit heimnahm in die Etagenwohnung, die er mit seiner Mutter, zweien seiner Brüder und Sylvias Sohn zusammen innehatte. Dem Aussehen und der Art nach, dachte Eugen, könne Sylvia viel eher Schauspielerin sein als business woman, d. i. Frau-in-Geschäften. Das elektrische Geglitzer an ihr und ihre Unnatürlichkeit fielen stark auf. Es schien, elektrisches Licht wäre das einzige Licht, das sie je beschienen habe, und die durchschrillte, gleichsam mit Starkstrom geladene Broadwayluft wäre die einzige Luft, in der sie sich freudig atmend wohl fühlen könne. Ihr Gesicht gehörte in der Tat unter die leichenfahlen, glitzernden Nachtgesichter, die man im Vergnügungsdistrikt sieht, und sie selbst in die mysteriöse, prunkhafte, nächtliche Lebewelt, unter Leute, die eine eigne, nur ihnen gemeinsame Sprache zu sprechen und durch irgendein zentrales Interesse miteinander verbunden zu sein scheinen, – Leute, von denen man sich nicht vorstellen kann, daß sie außerhalb dieser fernabgelegenen, fremden Welt ein Leben leben und einen Beruf ausüben.

Sylvia war eine mittelgroße Frau von einer dunklen, beinah vogelhaften Abgezehrtheit. Der Teufel der fiebrig-elektrischen, ewig unzufriedenen Rastlosigkeit saß ihr in den Augen; er schien ihr ganzes Gewebe verzehrt, ausgedarbt, verbraucht zu haben. Diese großen, dunklen Augen glänzten und glitzten fast wie die Augen von Drogenschluckern. Alles Sichtbare an Sylvias Erscheinung – Haar, Augenbrauen, Wimpern, Lippen, Haut, Fingernägel – war übermäßig gepflegt, war regelmäßig und regelrecht mit allen Mitteln und auf jede Art kosmetisch behandelt worden, bis nun scheinbar die natürlichen Eigenschaften von Haut und Haar nicht mehr vorhanden waren und eine gemalte und gefirnißte Maske das Gesicht ersetzte, eine Maske, die in ihrer geschöpflichen Unwirklichkeit dazu dienen sollte, effektvoll die tausend unheimlichen und wandelbaren Lichter und Stimmungen einer elektrischgrellen Nachtwelt zu fangen, zu spiegeln und gespiegelt zurückzugeben. Sylvia ging mit einer übertrieben betonten, schnittigen Smartneß nach der letzten Mode gekleidet. Sie war mit Juwelen behangen und beladen; ein Vermögen in Diamantringen und Armbändern funkelte und blitzte an den Fingern ihrer kleinen, feinknochigen, überschlanken, unangenehm und ominös blaudurchäderten Hände und an den schmächtigen Handgelenken, wo die Haut so hauchdünn war, daß unterm Licht ein mattes Hellrosa durchschimmerte.

Ihr Leben war hart, schmerzlich, schwierig und mit Arbeit und Sorge erfüllt gewesen. Vor zehn Jahren, als sie etwa fünfundzwanzig war, hatte sie ihr erstes – und vermutlich auch letztes Liebeserlebnis gehabt. Sie hatte sich in einen Schauspieler verliebt, der in der ›Settlement Guild‹ auftrat, einem kleinen Theater der East Side, das sich nur halten konnte, weil zwei reiche, kunstliebende Frauen es unterstützten. Sylvia hatte ihre Angehörigen verlassen und war die Geliebte dieses Mannes geworden. Es dauerte kein volles Jahr, da ließ der Schauspieler sie sitzen. Und sie war schwanger.

Das Kind war ein Junge. Sie hatte keine Muttergefühle, und ihr nun neunjähriger Sohn war von Abes Mutter und Abe erzogen worden. Sylvia sah nur selten einmal nach ihrem Sohn. Das Familienleben der orthodoxen Juden hatte sie längst aufgegeben, sie hatte ein neues, ungeduldig angetriebenes, fiebriges Großstadtleben gefunden, sie besuchte ihre Angehörigen einmal im Monat, und dann war es, nur dann, daß sie ihr Kind sah. Jimmy war ein heller, schneller, recht netter Junge mit einer wirren Tolle dichten, stumpf-goldblonden Schütterhaars und einem sommersprossigen Bullenbeißergesicht, ein zähes, selbstsicheres Kerlchen, das den frechen, aus Stummelworten bestehenden Asphaltjargon der New Yorker Rinnsteinrangen sprach. Im Gegensatz zu seiner Gassenjungenart standen die Tatsachen, daß er in ausgezeichneten Kleidern steckte, in eine gute Schule ging und vortrefflich betreut wurde, denn die Alte, Abes Mutter, wachte wie eine eifersüchtige alte Henne über ihn, und Sylvia war äußerst freigiebig. Sie kam großzügig für den Unterhalt Jimmys auf und bedachte nicht nur das Kind, sondern auch die ganze Familie mit Zuwendungen und Wohltaten.

Bemerkenswert waren die Beziehungen zwischen Sylvia und ihrem unehelichen Kind. Der Junge nannte sie nie ›Mutter‹, sie rief ihn nie beim Namen, und die Form der Anrede war ein unpersönliches, etwas linkisches You. Eine harte, wissende, zynische Art kennzeichnete ihre Unterhaltungen. Wenn sie mit ihrem Sohn sprach, waren Ton und Gehaben so kalt und unpersönlich, als spräche sie mit einem Fremden oder einem Zufallsbekannten, aber trotzdem schwang dann doch etwas Resigniertes und Leichtspöttisches in ihrer Stimme, eine Note der Selbstverhöhnung, so als sähe sie in dem Jungen den Beweis ihrer Torheit, die bittre Frucht jener Tage der Unschuld, der Liebe und des arglosen Vertrauens, als wäre sie sich ständig bewußt, daß man sie und ihr Kind zum Narren gehalten hatte. Der Junge schien dieses Gefühl durchaus zu begreifen und hinzunehmen, schien es mit einer an einem Kind fast unglaublichen Feinheit und Schärfe zu erwidern. Sie haßten einander nicht; ihre Unterhaltungen waren zynisch-klug, unpersönlich und dabei eigenartig aufrichtig und respektvoll. Wenn er hereinkam, wirrhaarig und abgehetzt, ein rauhbeiniger, kleiner Gassenjunge, musterte sie ihn kalt, mit einem beiläufig-beziehungslosen Blick und einem leichtspöttischen Lächeln.

»Komm mal her, Du«, sagte sie schließlich ruhig, ein wenig hart. »Was hast Du denn angestellt?« fragte sie im gleichen, harten Ton. Sie zupfte und rückte ihm gewandt die Krawatte zurecht, strich ihm die wirre Haartolle glatt. »Siehst aus, als wärst Du grad aus 'nem Mülleimer gekrochen.«

»Ah!« sagte der Bub in seiner schrillen, unsanften Gassenjungenstimme: »A coupla guys tried to get wise wit' me an' I socked one 'em. Dat's all.« (Ein paar Kerle wollten mir ein Maul anhängen, und da hab ich einen davon verhauen. Das ist alles.)

»Oh-ho-ho-ho!« Abe wandte sein graues, grinsendes Gesicht wie zum Gebet himmelwärts und lachte leise, geschmerzt.

»Also wieder gerauft, was? Weißt Du noch, was ich Dir das letztemal sagte?« forschte sie warnend. »Wenn ich Dich noch mal beim Raufen erwische, dann ist es aus mit den Ballspielen. Dann kannst Du das nächstemal zu Haus bleiben.«

»Ah!« rief Jimmy in höchstempörtem Ton. »What's a guy gonna do? Do you t'ink I'm gonna let a coupla mugs like dat get away with moidah?« (Was soll denn ein Kerl tun? Glaubst Du, ich laß so ein paar Hohlköpfe wie die mit 'nem Mord davonkommen?)

»Oh-ho-ho-ho!« rief Abe und hob die große Nase wieder wie zum Gebet gen Himmel. Er verfiel plötzlich in den Ton des tadelnden Ermahners und sagte streng: »Was ist denn das für eine Art zu reden? Was? Hab' ich Dir nicht gesagt, Du sollst nicht ›mugs‹ sagen?« (Mug bedeutet ›Henkelbecher‹, im Slang steht es zunächst für ›Kopf‹, dann für ›Kerl‹.)

»Ah! What's a guy gonna say?« rief Jimmy. »I neveh could loin dem big woids, noway.« (Was soll denn ein Kerl sonst sagen? Die großen Wörter könnte ich ja doch nicht lernen.)

»Mein Gott!« sagte Sylvia im Ton der erhärteten, müden Resignation. »Hör' Dir ihn an! Deswegen schick' ich ihn wohl in die Schule! Loin, woids, noway, t'ink! Ist das eine Aussprache! Lernst Du das in der Schule?« fragte sie herb.

»Sag mal ›think‹!« befahl Abe.

»Ich hab's ja gesagt!« antwortete Jimmy ausweichend.

»Gesagt hast Du's schon, aber nicht richtig ausgesprochen. Also komm! Laß uns hören, daß Du's aussprechen kannst. Think!«

»T'ink«, sagte Jimmy sofort. Er konnte das Th nicht lauten.

»Oh-ho-ho-ho!« Und Abe hob sein grinsendes Angesicht gen Himmel und erklärte: »Sag! Ist das nicht üppig?«

»Nicht zu überbieten«, meinte Sylvia.

Sie sah ihren Sohn noch eine Weile an: fragend, spöttisch-resigniert, und doch mit einer kalten, beziehungslosen Zuneigung im Blick. Dann zuckten ihre schlanken, blauädrigen Hände nervös und ungeduldig so lange, bis alle die Edelsteine an ihren Fingern und Handgelenken funkelten; sie seufzte angestrengt, blickte fort, wandte ihre Gedanken weg, und das Kind war entlassen.

Jimmy sah seine Mutter nur selten, aber Abe umsorgte und behütete ihn mit väterlicher Zärtlichkeit. Wenn der Junge sich auf dem Heimweg von der Schule verspätete, wenn er mal, ehe er zum Spielen ging, nicht sein Mittagessen bekommen hatte, wenn er zu lange ausblieb, dann war Abe sichtlich aufgeregt und bekümmert, und wenn die andern Mitglieder der Familie in irgendeiner Sache, die den Jungen betraf, nachlässig gewesen waren, dann fuhr Abe sie streng an.

»Ist der Jimmy schon von der Schule zurück?« erkundigte er sich angelegentlich. »Hat er gegessen, ehe er wieder wegging? ... Nun, warum hast Du ihn ohne Mittagessen entwischen lassen? ... Um Himmels willen! Du bist den ganzen Tag hier, da könntest Du doch wenigstens so viel tun! Ich kann nicht den ganzen Tag zu Haus bleiben, um auf ihn achtzugeben. So ein junger Springer sollte nie zum Spielen gehn, ehe er was Richtiges gegessen hat, verstehst Du das denn nicht?!«

Den kleinen Burschen sah Eugen zum erstenmal, als er eines Abends mit Abe zum Dinner heimgegangen war. Abe hatte sich ein frisches, sprödgebügeltes Hemd angezogen, er kam in Hemdsärmeln zu Tisch und saß nun da und schmauste. Alle seine Gedanken waren bei der Mahlzeit, er verschlang die Speisen mit einer wölfisch reißenden Hingegebenheit, aber trotzdem war seine Art zu essen wählerisch und sauber. Der Junge trat ein, blieb überrascht stehen, als er Eugens ansichtig wurde, und maß den Unbekannten mit einem rüden, freimütigen Blick aus seinem sommersprossigen Bullenbeißergesicht. Die schwere Haartolle – weizenblond, karamelblond, eichenholzblond – war ihm über das eine Auge gefallen. An einem Hosenbein war das Knieband aufgegangen, und so flappte das Hosenbein über die Wade herunter.

Abe sah vom Teller auf, überflog den Buben mit einem Blick, grinste, deutete mit einem scharfen Kinnruck auf Eugen und fragte barsch:

»Was hältst Du von dem da? Huh?«

»Wer issah?« fragte der Bub in seinem schrillen Stimmchen, ohne den Blick von Eugen abzuwenden.

»Mein Lehrer«, sagte Abe. »Der guy, bei dem ich in der Klasse bin.«

»Ah, geh fort!« protestierte Jimmy, der Eugen immer noch in einem steten, forschenden Blick festhielt. »Whatcha handin' me? He's not!« (Was händigst Du mir da aus? Er ist's nicht!)

»Aber sicher! Ohne Spaß!« erklärte Abe. »Er ist der guy, bei dem ich Englisch lerne.«

»Ah, he's not! Yuh're bein' wise«, erklärte der Bub entschieden. (Er ist es nicht, Du willst mich was weismachen.)

»Warum meinste denn, er wär's nicht?« erkundigte sich Abe.

»Ei, wenner 'n Englischlehrer is', w'rum sachterda nix?« erklärte Jimmy triumphierend. »W'y don't he use some of dose woids?« (Warum gebraucht er nicht ein paar von jenen Wörtern?)

»Oh-ho-ho-ho!« Abe hob die große Nase hoch. Der Junge ging hinaus. Abe sagte: »Sag! ... War das nicht gut? ... War das nicht knorke? ... Das ist ein Bürschchen! Dem entgeht fast nichts!« Und wieder hob er das graue Gesicht himmelwärts und lachte leis, schmerzlich, zärtlich belustigt des Knaben eingedenk.

So waren denn Fürsorge und Obhut des Kleinen dem Abe und dessen Mutter anvertraut. Sylvia hatte, obwohl sie großzügig zahlte, kein weiteres Interesse an ihrem Kind. Sie war eine harte, fiebrige, bittere, überstimulierte Frau, und dennoch bewahrte sie ihren Angehörigen eine herbe Treue. Für Abe, der der Begabteste von ihren Brüdern war, hegte sie einen grimmen, glühenden Ehrgeiz. Sie war entschieden dafür, daß er die Universität besuchte. Sie meinte, er solle Rechtsanwalt werden. Sie zahlte einen Teil von Abes Kolleggeldern, – aber wohlgemerkt, nur einen Teil, nicht etwa, weil sie nicht auch stillschweigend für sein ganzes Studium aufgekommen wäre, sondern weil Abe darauf bestand, so viel wie möglich von seinem selbstverdienten Geld zu bezahlen, denn ganz wie in Sylvia war auch in ihm der harte Granit der Unabhängigkeit. Er hatte die beinahe ruppige Abneigung starker und grader Charaktere dagegen, jemandem für eine Gunst Dank zu schulden. Hierin war Abe stolz und empfindlich in einem Maße, wie es Eugen nie zuvor an einem Menschen erlebt hatte.

Zu Haus, wo er mit seiner Mutter, seinen beiden jüngeren Brüdern und Jimmy, dem unehelichen Sohn seiner Schwester Sylvia, zusammenlebte, war Abe das stillschweigend anerkannte Familienoberhaupt geworden. Von seinen drei älteren Brüdern hatten sich zwei in Geschäften zusammengetan; sie waren verheiratet und lebten nicht länger zu Haus. Außer Sylvia, die ihre eignen Wege ging, hatte Abe noch eine zweite Schwester, Rose, die ein oder zwei Jahre zuvor geheiratet hatte; ihr Mann, von Beruf Musiker, gehörte einem Theaterorchester an. Rose war eine dunkle, verquälte, sensitive Jüdin mit einer großen Nase und einem blinden Auge. Ihre äußere Ähnlichkeit mit Abe fiel auf. Sie war eine sehr begabte Pianistin, und ein- oder zweimal nahm Abe den Eugen an Sonntagnachmittagen mit in ihre Wohnung. Rose spielte dann in einem großen Atelierraum bei Kerzenlicht für die beiden und führte nachher mit ihrem Bruder musikalische Gespräche über die Werke verschiedener Komponisten. Abe lauschte ihrem Spiel mit einem schummerig-düstern Lächeln; allem Anschein nach verstand er sehr viel von Musik, sie erweckte tausend feine Echos in seiner jüdischen Seele. Ganz anders Eugen: Die Musik – irgendwie – und irgend etwas Arrogantes, Geringschätziges, Heimlichtuerisches im Musikverständnis der beiden – und ferner sein Wissen um die trübselige Wintersonntagnachmittagsstimmung draußen, die öden Straßen, das herbe Abendrot, und dazu eine unerklärliche Angst vor Tausenden von anderen, wissenden Juden, Männern mit seidigen Schnurrbärtchen, die zu dieser Stunde aus den Konzertsälen kamen, – das alles erweckte in ihm eine leere, aber mächtige Empfindung von Nacktheit, Wurzellosigkeit, Vergeblichkeit und Elend, eine Empfindung, die selbst das herrliche Andenken an die Macht, die Schwingengewalt und die Lust der Dichtung nicht zu überkommen und zu unterdrücken vermochte. Der Augenblick rief in Eugen tausend Wahrbilder auf, Vorstellungen von einer schnöden, verdammungswürdigen Ungewißheit, einer Daseinsungewißheit, in der der Mensch sich ewig tappend an den glatten, metallischen Seitenwänden einer Welt entlangtastete, einer Welt, in der es weder Wärme noch Tiefe noch eine Tür für ihn zum Eintreten noch eine Wand ihn zu schützen gab: – Eugen hatte jählings eine Vision von Sonntagsödnis und grauer Verzweiflung, von häßlichen Straßen und von Lichtern, die nun vor billigen Lichtspielhäusern und chinesischen Gaststätten aufzublinken und zu flackern begannen, von einer ruppigen Welt von windigen, aufgedonnerten Leuten, so gehaltlos wie ihre Nahrung, so nichtssagend-brach und kitschig wie ihre verwünschten Vergnügungen, und schließlich von den Juden, die nun, in diesem schwindenden, öden Abendrot aus den Symphoniehallen kommend, auf tausend Straßen nach Hause gingen, eine Vorstellung, die, weit davon entfernt, in das wortlose Entsetzen dieser verfluchten und verruchten Wüste von einem Totenland eine Spur von Leben, Hoffnung, Leidenschaftssicherheit und Freude zu tragen, dem ganzen Bild vielmehr eine abschließende Note von Nichtigkeit und Trostlosigkeit verlieh.

Abe und seine Schwester schienen gegen diese Stimmung gefeit. Der Raum, die Zeit, der Tag, das Abendrot, die öden Straßen und die Musik erweckten in ihnen etwas Vertrautes und Obskures, eine dunkle und schmerzliche Freude und eine Gewißheit, die Eugen nicht empfand. Sie verwickelten sich in Meinungsstreitigkeiten; rücksichtslos und hochmütig verhöhnten und bespöttelten sie einander; ihre Worte waren scharf und schneidend, imprägniert mit einem aggressiven, unangenehmen Intellektualismus; sie nannten einander Narren und sentimentale Nichtswisser, und dergleichen Bezeichnungen verletzten und beleidigten sie anscheinend nicht, ganz im Gegenteil, sie fanden offenbar eine Art bitterer Befriedigung in diesem Verkehrston.

Diese merkwürdige Eigenschaft hatte Eugen bereits im ersten Jahr seiner Bekanntschaft mit Abe entdeckt: – jene Leute schienen tatsächlich ein Vergnügen daran zu finden, daß sie einander anhöhnten und schmähten, aber in ihrem herben Spott lag gleichzeitig das Element einer dunklen, beunruhigenden Zuneigung. Damals führte Abe wöchentlich einen wüsten Briefwechsel mit einem andern jungen Juden, mit dem er zusammen auf die höhere Schule gegangen war. Abe hatte stets mindestens einen Brief von diesem Jüngling in der Tasche, und immer gab er ihn Eugen zum Lesen und bestand alsdann darauf, daß er auch die Rückantwort zur Kenntnis nähme. In diesen Briefen drangen die Schreiber mit zuchtloser Wildheit aufeinander ein, sie bewarfen sich mit Schimpfworten, mit Hohn und Schmähungen, und ganz offenbar begeisterte sie das höchlichst. Kennzeichnend für den Ton der Korrespondenz war die Als-ob-Erhabenheit, die vorgebliche Kälte, eine affektiert unpersönliche Haltung; dies aber war in der Tat ein zu fadenscheiniger Mantel für das Sturm- und Hagelwetter der prasselnden Insulte, und der Wunsch, den andern zu demütigen und wie ein siegreicher Kampfhahn über ihm zu krähen, schien die beiden Jünglinge mit tiefer Lust zu erfüllen. ›Ich sehe in Deinem letzten Brief‹, schrieb der andere etwa an Abe, ›daß das von mir längst befürchtete Debakel eingetreten ist. Während unsres letzten gemeinsamen Schuljahrs bemerkte ich zwar, daß gelegentlich etwas, das der Intelligenz eines Erwachsenen nicht unähnlich war, in Deinem sonst kindlichen und halbwüchsigen Verstand aufleuchtete, und so hegte ich denn die Hoffnung, Du könntest gerettet werden. Nun aber stehe ich vor dem Trümmerhaufen dieser Hoffnung. Deine knabenhaften Bemerkungen über Karl Marx, Anatole France und andre bezeichnen Dich als den aufgeblasenen Bourgeois, der Du immer warst, und dementsprechend wasche ich meine Hände in Unschuld an Deinem Geschick. Offen ist nun bewiesen, daß Dein Intellekt außerstande ist, die Wege und Ziele des modernen Sozialismus zu begreifen. Du bist ein romantischer Individualist, und kannst Dein ganzes Glaubensbekenntnis in den Werken des verblichenen Lord Byron elegant einbalsamiert vorfinden. Dies ist die Welt, in die Du gehörst. Deine Mutter sollte Dir einen Cowboyanzug kaufen und ein Knallpistölchen in die Hand drücken, damit Du getrost in den Kindergarten gehen kannst und Dir nicht weh tust im Spiel mit großen, starken, rauhen, erwachsenen Männern.‹

Als Abe mit dem breiten Grinsen jiddischer Beglücktheit, an besonders giftigen Stellen das belustigte Gesicht himmelwärts hebend und ein leises »Oh-ho-ho-ho!« lachend, zum erstenmal einen solchen Brief dem Eugen vorlas, fragte dieser:

»Aber wer schreibt Dir denn so 'nen Brief?«

»Mein Schulkamerad«, antwortete Abe. »Ein Freund von mir.«

»Ein Freund von Dir! Derartige Briefe schreiben Dir Deine Freunde?«

»Aber sicher«, sagte Abe. »Warum nicht? Das ist ein guter Kerl. Der meint das ja gar nicht. Der hat Fledermäuse im Glockenturm, weiter nichts. Aber wart, bis Du siehst, was ich ihm geschrieben hab!« rief er frohlockend und zog grinsend seine Antwort aus der Tasche. »Wart erst mal ab, bis Du siehst, was ich ihn alles nenne. Oh-ho-ho-ho! Sag, das ist üppig!« Er lachte leise und geschmerzt. Und dann las er quietschvergnügt seine Antwort. Fünf ganze, Zeile um Zeile vollgetippte Seiten voll lästerlich bitterer Anwürfe.

Alsbald ward auch noch ein weiterer erstaunlicher und beunruhigender Umstand zu dieser ungeschlachten Briefschreiberei enthüllt. Der außergewöhnliche ›Freund‹, der Abe diese Beschimpfungsepisteln schrieb, war keineswegs auf Reisen gegangen und lebte auch nicht etwa in einer fernen, entlegenen Großstadt. Als Eugen den Abe fragte, wo jener wilde Kritikus lebte, kam die Antwort:

»Ei, ganz in meiner Nachbarschaft. Ein paar Straßen weiter.«

»Aber Du siehst ihn wohl nie?«

»Aber sicher! Warum nicht?« sagte Abe und blickte Eugen verdutzt an. »Wir sind zusammen aufgewachsen, und ich seh' ihn ständig.«

»Und trotzdem schreibst Du ihm Briefe, und er schreibt Dir Briefe, während Ihr doch nur drei Schritte voneinander wohnt und Euch ständig seht?«

»Aber sicher! Warum nicht?« sagte Abe.

Er konnte nichts Seltsames oder Ungewöhnliches an diesem Umstand finden, für Eugen jedoch war etwas Störendes und Beunruhigendes an der ganzen Sache. Er hatte in all diesen Briefen hinter den Schmähtiraden einen obskuren, undefinierbaren, schlammigen Emotionalismus bemerkt, der irgendwie häßlich war.

Nach ein paar Monaten hörten Abes absonderliche Mitteilungen an den jüdischen Schulkameraden plötzlich auf. Eugen sah Abe dann in Gesellschaft verschiedener Judenmädchen in den Hallen und Wandelgängen der Universität. Abe lief mit einem melancholischen Schöpsengesicht herum und machte den Mädchen den Hof. Das Briefschreibegelüst wütete noch mit ungeschwächter Heftigkeit in ihm. Seine Episteln waren nun an die Mädchen gerichtet. Zuvor hatte Abe sich stets kalt und verächtlich gegen die Frauen verhalten. Er sah ihre Schmeicheleien und Lockungen mit Fischaugen an, mit umfänglicher jüdischer Vorsicht und weitem jüdischem Argwohn, und er lachte geringschätzig über jeden, der nicht klug war und ins Garn ging. Wie so viele Leute, die tief empfinden und von den leisesten und fernsten Gefühlsanwandlungen heftig beeinflußt werden, hatte auch Abe sich überzeugt, er wäre ein reiner Verstandesmensch, und nun, als sein Gemüt von Gedanken an mehrere dieser warmen und lecker aussehenden Schickseln romantisch bewegt und mächtig geregt war, machte er sich folgerichtig vor, an diesen Mädchen zöge ihn ›bloß der Verstand‹ an, und das, was er wirklich von ihnen wolle, sei der Anreiz ›geistiger Kameradschaft‹. Dementsprechend waren denn die Liebesbriefe, die der großnäsige Unschuldsbewahrer an seine Schönen schrieb und dem Eugen vorlas, Zeugnisse von einer außergewöhnlichen und unwissentlichen Selbstverteidigung und Selbstrechtfertigung.

›... In Deinem letzten Brief glaube ich‹, pflegte Abe etwa zu schreiben, ›Spuren jener romantischen Gefühlsduseligkeit zu erkennen, die wir beide so oft an dem kindischen Wesen in unserm Kreis beobachtet haben, von der ich und Du aber uns längst frei gemacht und losgesagt haben. Wie Du weißt, Florence, haben wir zu allem Anfang beschlossen, daß dieser unreife und längst aus der Mode gekommene Romantizismus in unsere Beziehungen nicht eindringen, unsre Freundschaft nicht verderben soll. Das Geschlechtliche kann und darf in unsrer Verbindung keine Rolle spielen; es ist bestenfalls eine biologische Notwendigkeit, der Trieb des hungrigen Tiers, – als Trieb sollte es denn auch erkannt und befriedigt werden, aber vom höheren Drängen des Menschen ganz ausgeschaltet bleiben. Hast Du denn schon Havelock Ellis gelesen? Falls nicht, solltest Du Dich sofort daranmachen ... So, Myrtle Goldberg glaubte also, was ich ihr neulich auf dem Tanzabend sagte, wäre wirklich ernst gemeint! O Ihr Götter! Es ist zum Lachen! Was für Narren die Sterblichen sind! Ich lache und lache nicht. Ich lache und beobachte lachend mein Lachen, und dann gibt es eine noch höhere Wirklichkeitsebene, von der aus mein Lachen über mein Lachen beobachtet wird. Ironischen Herzens spiele ich den Bajazzo und setze die grinsende Maske auf, die diese Toren so gerne sehen. O tempora! O mores!‹ – – Und so ging es weiter.

Zwar stellte Abe sich in diesen Briefen als einen kalten, über die Empfindungen des Fleischs erhabenen Intellektuellen dar, zwar behauptete er hartnäckig, von romantischen Gefühlen frei zu sein, wie sie das Leben geringerer Leute herabwürdigten, trotzdem aber zierte er jedes seiner Sendschreiben mit dem Einschübsel oder Zustecksel selbstgefechster Verslein, die gerade von jenen Gemütsbewegungen eingegeben waren, die er zu verachten vorgab. Er hatte stets ein paar von diesen kleinen Gedichten bei sich; sie standen in einem besonderen, in schwarzes Leder gebundenen Notizbüchlein, das er stets in der Tasche trug, ja, dort standen sie in haarfeinen, peinlich genauen Schriftzügen neben Abes erlesensten Gedanken und gelegentlichen Auszügen aus seiner Lektüre. Zu jener Zeit war Abe im Zustand einer obskuren, undefinierbaren Aufwärtsentwicklung. Es war ganz unmöglich zu sagen, was aus ihm werden oder welcherlei Form sein Dasein annehmen würde. Auch er selber hätte es nicht sagen können. Er ging vornübergebeugt mit einem gestreckten Lupfschritt und witterte mißtrauisch umher. Die Pein der Unzufriedenheit lag in seinem Blick. Ihn quälte ein Dutzend dunkler Wünsche und Absichten. Er litt an seinem tiefen, aber verschlammten Emotionalismus. Körperlich war er häßlich, krumm und dürftig, und daher kam sein trübseliges Minderwertigkeitsbewußtsein. (So gestand er dem Eugen in späteren, wohlhabenderen Jahren einmal, er liebe es, Kellner brüsk anzufahren und herumzukommandieren; er empfände dabei ein Gefühl von Macht und Autorität.) Geistig jedoch setzte er sich über dies alles hinweg kraft einer ungeheuren, turmhohen Eitelkeit, einer düsteren Ichsucht, die ihn glauben ließ, er wäre nicht wie andere Menschen und seine Gedanken und Empfindungen wären zu tief und erlesen, um von der niederen Mit- und Umwelt verstanden und gewürdigt zu werden. Außerdem war er insgeheim brennend ehrgeizig, verzettelte aber seine Energie, weil er nach zwölf verschiedenen Richtungen strebte und außerstand war, sein Wollen an ein Ziel zu heften. Bald wollte er Universitätslehrer werden und in den exakten Wissenschaften Forschungsarbeit leisten – er hätte es wohl auf diesem Gebiet vorwärtsgebracht, denn er hatte ein glänzendes Verständnis für Biologie und Physik –, bald war er daran, sich für Nationalökonomie zu entscheiden. Er erwog Laufbahnen auf schriftstellerischem Gebiet: Literaturkritiker, Essayist, Historiker, Dichter, Romanschreiber; manchmal auch sprach er vom Studium der Medizin. Sein Streben ging ins Hohe. Er dachte damals nicht ans Geldverdienen, er verachtete ein Leben, das sich ums Geldverdienen dreht, und vor dem Beruf des Rechtsberaters, für den ihn Sylvia und seine andern Angehörigen ausersehen hatten, wandte er sich bei dem bloßen Gedanken entsetzt und angewidert ab; – ihn ekelte davor, sich zu den Horden schnabelnäsiger Winkeladvokaten zu gesellen, wie sie Jahr um Jahr aus der law school kommen, unter jenen lichtscheuen Hintertreppenanwälten zu stehen, die unanständig-gerissen jeden Vorteil ausnützen, jedes krumme Häkchen einzuhaken wissen, jedes Rattenloch der Ausflucht kennen, das sich im Riesenbau des Rechtswesens finden läßt.

So ein Mensch war Abe Jones zur Zeit seiner ersten Bekanntschaft mit Eugen: – trübselig, gequält, melancholisch, langweilig, intellektuell und freudlos dichterisch, umdüstert und verhüllt von einer großen Wolke jiddischen Geschwiemels, eine graue Asphaltziffer, ein Atom aus den Elendsbaracken, ein blindes Meeresgeziefer in der überwältigenden Flut des Menschenschwarms, und dennoch ebenso wie eine Million andrer betrübter Sehnsuchtshebräer auf eine mitleiderregende gewaltige Weise davon überzeugt, er wäre der Messias, nach dem die Erde stöhnte. So war er im Zustand des Werdens, ein unbestimmbarer Schemen vor der Notwendigkeit, und seine besseren Bestandteile – die feste wilde, zähe und ehrliche Großstadtfaser härtete den Guß – machten einen Mann aus ihm. Dies denn war Abe zu jener Zeit, eine obskure, traurige Falterpuppe, und doch ein unverdrossener, ergebener, treuer Freund, das Salz der Erde, eine wunderbar gute, seltene und hohe Person.


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