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XCIII

In den folgenden Wochen sollte der junge Mensch herausfinden, wie diese alte Frau dachte. Ihre völlig widersinnige und fehlschlüssige, dabei aber eigenartig überzeugungskräftige Denkweise bot ein belehrendes Anschauungsbeispiel zur Psychologie des Schwindels, der Selbsthypnose, der Hochstapelei. Sie hatte um ihn, seine Familie, seinen Reichtum, seine Macht, seinen Einfluß, seine berufliche Stellung eine geradezu bestürzende Legende gewoben, hatte die Namen berühmter Leute und bekannter Institutionen gebraucht, mit denen er keinerlei Verbindung hatte, und sooft er, über die Unverschämtheit dieser Mär empört, aufbegehrte, erwiderte sie ihm stets mit einer Kette von Einwänden, Verdrehungen und Deutelungen, die so lebensklug und überzeugend waren, daß er, obschon er ihre Spitzfindigkeiten und Folgerungen als falsch und ausgefallen erkannte, ihnen im Augenblick fast wie einer hypnotischen Gewalt unterlag.

»Hören Sie mal«, sagte er aufgebracht, »wie kommen Sie dazu, allen Leuten hier zu erzählen, ich wäre der Vertreter der ›New York Times‹? Wenn die ›New York Times‹ davon hören sollte, kann sie gegen mich klagen, und dann werde ich wegen Betrugs und widerrechtlichen Gebrauchs ihres Namens ins Gefängnis gesteckt. Sie freilich«, bemerkte er bitter, » Sie sind sicher, denn Sie können sich stets darauf herausreden, daß Sie sagen, Sie hätten geglaubt, ich arbeite wirklich für diese Zeitung.«

»Aber das tun Sie doch, nicht wahr?« Sie sah ihn an mit dem erstaunten Gesicht eines Menschen, der einen andern einfach nicht begreift.

»Nein!« schrie er. »Das tu ich nicht! Und habe es auch nie behauptet! Sie haben diese Sache glatt aus der Luft gegriffen an jenem ersten Abend, und zwar, als Sie mich noch keine fünf Minuten kannten! Und nichts, was ich dagegen sagte, konnte Sie davon abbringen. Mittlerweile haben Sie hier in der ganzen Stadt herumerzählt, ich schriebe Artikel und Geschichten über Orléans für die ›New York Times‹, und die guten Leutchen kämen drin vor! Wir haben Vergünstigungen angenommen, haben Vorzugspreise gekriegt und sind sogar von Leuten eingeladen worden, und das alles doch bloß, weil Sie erzählt haben, daß ich für die ›Times‹ arbeite, und daß auf diese Weise kostenlos Reklame gemacht wird. Wissen Sie etwa nicht, was das ist?« fragte er gereizt und funkelte die Gräfin an. »Das ist offner Betrug. Wenn sich jemand auf Grund falscher Vorspieglungen Vorteile verschafft, ist er einfach ein Schwindler, und er kann dafür ins Gefängnis gesteckt werden ... Ei, nächstens werde ich gar hören, daß Sie eine Kommission von den Leuten einstecken, weil Sie diese Reklame vermitteln. Vielleicht haben Sie es schon getan«, erklärte er bitter und schloß: »Ich kann das ja nicht herausfinden.«

»Aber Sie haben mir damals ganz bestimmt gesagt, Sie wären Journalist«, erwiderte die alte Frau sanft. »Daran müssen Sie sich doch noch erinnern, nicht wahr?«

»Das schon – ja«, gab er unwirsch zu. »Das hab' ich gesagt. Ich sagte das, weil ich Schriftsteller werden möchte, aber nichts geleistet habe, und so wollte ich nicht den Mund so voll nehmen, und da kam es mir weniger protzig vor zu behaupten, ich wäre Journalist ... Außerdem«, meinte er unsicher, »ich war der Meinung, das Wort Journalist hätte hierzuland eine etwas weitere Bedeutung als zu Haus – –«

Sie nickte eifrig und erklärte mit befriedigter Miene:

»Ganz richtig! ... In unserm Sprachgebrauch ist jemand Journalist, wenn er in Zeitungen und Zeitschriften dann und wann Beiträge veröffentlicht ... und das haben Sie ja getan, nicht wahr?«

»Nun ja«, räumte er ein, »als ich aufs College ging, habe ich ein paar Sachen für das University-Magazine geschrieben –«

»Aha! Genau das!« warf sie mit triumphanter Miene ein.

»– und war Herausgeber am College-Newspaper –«

»Freilich! Ganz wie ich mir's dachte!«

»– und hab auch dann und wann mal Sachen über die Universität geschrieben – news stories, sozusagen – die in einer Zeitung in meiner Vaterstadt erschienen sind.«

»Freilich! Ganz wie ich mir's dachte!«

»Ja, und einmal hab' ich auch den regelrechten Sonderberichterstatter gemacht und etwas geschrieben, was man drüben einen feature article nennt, und den hab' ich 'ner Zeitung verkauft ... Und einmal hab' ich 'nen Einakter verfaßt, der in einem Buch veröffentlicht wurde und mir bisher acht Dollar Ertragsanteil eingebracht hat.« Damit war er am Ende seiner Aufzählung angelangt, und nur ein dürftiges Hoffnungsfünkchen glomm, nur ein lahmer Glaube lebte in ihm, daß seine Behauptung, ›Journalist‹ zu sein, kein aufgelegter Schwindel wäre.

»Aber – –« Mit erstaunt hochgerückten Augenbrauen ließ die Gräfin ihren Blick von einer Seite zur andern gehn; sie machte mit beiden Händen eine feine Gebärde des Nichtverstehenkönnens. »– das ist ja doch ganz genau, was ich sage, mein Junge! Ganz genau, was ich sage! Nach dem, was Sie mir da erzählen, besteht ja überhaupt kein Zweifel! Sie sind Journalist.«

»Nun ja, da kann ich nur sagen«, räumte er ein, »daß ich, wenn Sie auf Grund dieser Unterlagen meinen Ruf als Journalist aufbauen können, bereit bin, auf die Richtigkeit meiner Angaben einen Eid zu leisten ... Ach ja, noch was, ich vergaß zu erwähnen, daß ich als kleiner Springer in aller Herrgottsfrühe aufgestanden bin und Zeitungen ausgetragen habe.«

»Genau das! Genau das!« Sie nickte vollkommen ernsthaft. »Sie haben also von allem Anfang an Talent für Ihre gegenwärtige Beschäftigung gezeigt. Sie haben sich von Kindesbeinen an auf Ihren Beruf vorbereitet.«

»O Du mein Gott!« stöhnte er. »Was hat es für 'nen Zweck, mit Ihnen drüber zu reden. Legen Sie die Dinge aus, wie's Ihnen beliebt, ich bin außerstande, mit Ihnen zu disputieren ... Nur, um Himmelswillen, Gräfin, ich bitte Sie, hören Sie wirklich damit auf, den Leuten hier zu erzählen, daß ich für die ›New York Times‹ arbeite!«

»Nun hören Sie mal auf mich, mein Junge. Sie sollten nicht so bescheiden sein. Könnten Sie nicht lernen, ein bißchen in Ihr eignes Horn zu tuten? Die andern werden es nicht für Sie tun. Ein so glänzend gescheiter Mensch wie Sie darf sein Licht einfach nicht untern Scheffel stellen. Was ist schon dabei, wenn Sie es noch nicht zum Redakteur an der ›New York Times‹ gebracht haben.«

»Redakteur! Redakteur! Ei zum Teufel, ich hab's ja noch nicht zum Officeboy gebracht!«

»Aber natürlich Redakteur!« sagte die alte Frau geduldig. »Eines Tags werden Sie schon Redakteur sein. Gegenwärtig sind Sie ein junger Journalist mit außergewöhnlichen Gaben, einer, der bald arrivieren wird, einer von dem seine confrères an der ›Times‹ erwarten, daß er eine glänzende Karriere macht.«

»Nun aber hör'n Se mal, Gräfin!«

Sie winkte duldsam ab und fuhr fort:

»Das wird alles schon werden«, erklärte sie. »Sie sind noch jung; kein Mensch nimmt an, daß Sie schon Redakteur sind.«

»Sie werden mich schon dazu befördern, wenn Sie Ihr Garn noch ein bißchen weiterspinnen«, sagte er sarkastisch. »Sie brächten das glatt fertig. Sagen Sie mir nur eines: – wenn Sie schon durchaus drauf versessen sind zu erzählen, ich wäre Journalist, warum müssen Sie dann die ›New York Times‹ bei den Haaren herbeizerren? Ich könnte schließlich, ohne mir wie ein abgefeimter Schwindler vorzukommen, noch behaupten, daß ich Journalist bin. Warum also lassen Sie die ›Times‹ nicht einfach aus dem Spiel?«

»Ah«, erklärte sie. »Die ›Times‹ ist eine große Zeitung, die Leute haben den Namen gehört. Wenn gesagt wird, daß Sie etwas für die ›Times‹ schreiben, dann stellt das etwas vor, dann bringt das ein Prestige mit.«

»Nun, wenn Sie auf Prestige aus sind, warum sagen Sie dann den Leuten nicht, daß ich Universitätslehrer bin? Sie wissen doch, daß ich mir tatsächlich ein Jahr lang als Instruktor in New York mein Brot verdient habe. Wenn Sie also erzählten, ich wäre ›professeur‹, kam ich mir wenigstens ein bißchen ehrlicher vor.«

»Oh«, sagte sie ernst. »Hier würde doch kein Mensch so eine Geschichte glauben. Sie sind zu jung für einen Professor. Außerdem«, erklärte sie praktischen Sinnes, »es ist auf alle Fälle klüger zu sagen, daß Sie für die ›Times‹ schreiben.«

»Warum?«

»Weil die Leute einen Wert darin erkennen können«, erläuterte sie geduldig. »Die Macht der Presse ist groß. Ein Professor kann nichts für diese Leute hier tun, aber ein gescheiter junger Mann, der Artikel für die ›Times‹ schreibt, könnte recht viel für sie tun.«

»Aber verdammtnochmal«, rief er aufgebracht, »ich hab' doch nie im Leben Artikel für die ›Times‹ geschrieben! Verstehn Sie denn das nicht?«

»Nun hören Sie mal, mein Junge«, sagte die Gräfin ruhig. »Bemühen Sie sich doch, Vernunft anzunehmen. Was für einen Sinn hätte es denn, wenn man den Leuten hier mit unnötigen Erklärungen den Kopf verwirrte? Was macht es denn, wenn sie noch keine Artikel für die ›Times‹ geschrieben haben? Sie schreiben sie ja nun!«

»Aber zum Teufel! Wieso denn!«

»Sie werden diese glänzenden und hochinteressanten Artikel über Orléans schreiben«, erklärte sie in aller Ruhe, »und diese Artikel werden in der ›New York Times‹ erscheinen, denn sie werden so ausgezeichnet sein, daß die ›Times‹ sie auf der Stelle annimmt. Warum also sollte man diesen einfachen Menschen hier das alles erklären? Es würde doch nur Verwirrung stiften? Ich habe den Leuten hier weiter nichts als die Wahrheit gesagt«, erklärte sie tugendhaft. »Ich habe gesagt, daß Sie eine Artikelserie über Orléans für die ›New York Times‹ schreiben werden, und mehr, mein Junge, brauchen die Leute nicht zu wissen.« Sie lächelte ihn an. Ruhevoll. Er gab es auf.

»Schon recht«, sagte er. »Sie gewinnen die Partie. Legen Sie die Dinge auf Ihre Art aus, ich kann's nicht ändern. Ich bin eben alles, was Ihnen beliebt, der Knabe mit dem Greisenhaar, der preisgekrönte Beiträgebringer, der große Mitteldiamant am Stirnreif der ›New York Times‹.«

Sie nickte zustimmend.

Die Posse wurde täglich toller. Und weil diese phantastische Lage ihm ein wenig über das Weh hinweghalf, an dem er seit der Trennung von Ann, Elinor und Starwick dauernd litt, blieb er immer wieder einen Tag länger in Orléans, ohne eigentlich zu wissen, warum er blieb, ohne aber auch einen Grund dafür zu finden, weshalb er wegfahren sollte, und doch gewissermaßen hypnotisch festgehalten in diesen ausgefallnen Umständen, in die ihn der Zufall so schnell verstrickt hatte.

Morgens, wenn er herunterkam, pflegte die alte Frau auf ihn zu warten und sich begierig-eindringlich danach zu erkundigen, was er am Abend zuvor getrieben habe.

»Sind Sie gestern abend noch ins Café gegangen, mein Lieber? ... Was haben Sie getrunken, eh? ... So, einen Pernod, vier Cognac, Kaffee ... So, und Zigaretten haben Sie auch gekauft ... Und was hat das alles zusammen gemacht? ... Einundzwanzig Francs! ... Aber, mein Lieber, das ist zuviel, viel zuviel«, gluckte sie betrübt und traurig. »Sie werden Ihr ganzes Geld in den Cafés ausgeben, und dann haben Sie nichts übrig zur Weiterreise! ... Sagen Sie«, ein neugieriges Glitzen erschien in den alten Augen, »waren viele Leute dort? ... War es voll? ... Viele Weibsleute? ... Sie haben doch wohl mit keinem von den Mädchen dort gesprochen?« fragte sie scharf.

Er sagte, doch, das hätte er.

»Hätten Sie nicht tun sollen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Was wollte die Person denn von Ihnen? Sie sollten wohl mit ihr kommen, wie?«

»Nein, so weit sind wir nicht gediehen. Sie bat mich um 'ne Zigarette.«

»Und Sie haben ihr eine gegeben?«

»Na freilich.«

»Aber kein Geld! Sie haben ihr kein Geld gegeben!« forschte sie fiebrig.

»Nein.«

»Haben Sie ihr was zu trinken bestellt? ... Für wen war denn all der Cognac?«

»Nein. Der Cognac war für mich.«

»Wieviel Geld haben Sie noch, mein Junge? ... Legen Sie sich Rechenschaft über Ihre Ausgaben ab? ... Haben Sie gestern wieder einen von Ihren Expreßschecks gezogen?«

»Ja, das hab' ich.«

»Wie hoch? Zehn Dollars?«

»Ja.«

»Hätten Sie nicht tun sollen«, sagte sie betrübt. »Bargeld in der Hand gibt sich schnell aus.« Sie schnippte mit den Fingern. »Comme ça! Ça file! Ça file! Sie geben nicht genug auf Ihr Geld acht. Sie rechnen Ihre Ausgaben nicht nach ... Versprechen Sie mir etwas, bitte, mein Junge!« sagte sie ernst und bang. »Versprechen Sie mir, nicht all Ihr Geld auszugeben, so daß Sie dann hier auf dem trocknen sitzen ... Sie dürfen hier nicht stranden ... Gelt, das werden Sie nicht tun? ... Wieviel Geld haben Sie denn noch übrig? ... Sagen Sie's mir!« verlangte sie gierig. »Zählen Sie nach, zählen Sie nach!« heischte sie habsüchtig. »Nehmen Sie Ihr Scheckbuch 'raus und lassen Sie mich sehn, wieviel Sie übrig haben!«

Er nahm die kleine, schmale Hülle heraus und klappte den Deckel auf. Das Einstecksel, ein Heftchen amerikanischer Expreßschecks, war schon recht dünn geworden. Er blätterte mit dem Finger um, tat es so schnell er konnte, denn dies Nachzählgeschäft gemahnte ihn an die herbe Wirklichkeit, an die er sich nur unwillig erinnerte. Nicht nur, daß ihm von Natur aus der Geldsinn abging, er war auch noch in jener Glücksalspanne des Lebens, in der einem jungen Mann hundert Dollars genauso viel bedeuten wie eine Million. Tatsächlich, zwanzig Dollars taten es ihm schon! Hatte er sie, in hellen, windigdünnen Fünfzigfrancsscheinen in der Tasche und saß, eines guten, vor kurzem verspeisten Essens eingedenk, noch wohlig warm vom Wein, etwas Schlürfbares in Reichweite, sinnlichträgen Wollustgedanken hingegeben, auf einer netten Kaffeehausterrasse, dann konnte sich kein Millionär auf Erden reicher vorkommen als er. Dann lag die ganze Erde vor ihm aufgerollt in Fernsichten aus Freude, Lust und Geheimnis, und in der maßlosen Unvernünftigkeit dieser Bezauberung war er sicher, die Zukunft könne für ihn nichts anders enthalten als ein schönes und begnadetes Leben aus lauter Erfolg und Glück ... und wenn sich dann zufällig einmal der Gedanke Geld einstellte, wurde er schleunigst abgelehnt aus der triftig unbeweisbaren Überzeugung heraus, Geld würde man schon haben, wenn man's brauchte, Geld würde wunderbarerweise wie Manna vom Himmel herunterfallen, Geld könne man in Menge auf mancherlei seltsame und entzückende Weise kriegen jederzeit, wenn man es brauche.

Nun hatte die Gräfin auf ihre eindringliche, harte, weltkluge Art wieder an diese mißtönige, beunruhigende Wirklichkeit erinnert, der der junge Mann so gar keinen Geschmack abgewinnen konnte. Während die alte Frau, die habsüchtig-gierigen Augen unverwandt auf die Schecks geheftet, zusah, blätterte er schnell und unwirsch um, nannte ihr schroff die Gesamtsumme, klappte das Scheckbuch zu und schob es brüsk wieder in die Tasche.

Sie schüttelte den Kopf, als er das Ergebnis der Zählung kundgab, und erklärte traurig-vorwurfsvoll:

»Ah! Was für eine Vergeudung! Mit dem, was Sie in der letzten Woche ausgegeben haben, wäre eine französische Familie einen Monat lang bequem ausgekommen.«

Er zog kurz und scharf die Luft ein und zuckte wie ein Getroffner, denn jählings hatte ihn ein namenloses Gefühl von Scham und Schuld durchbohrt, ein Gefühl persönlicher Unwürdigkeit, das ihm mahnend seine Mutter – ihre endlose Plackerei und ihr Sparen am Kleinsten und Allerkleinsten – ins Bewußtsein brachte. Er empfand dies Gefühl, obschon es seine Mutter nun zu beträchtlichen Besitztümern und recht viel Geld gebracht hatte, und obschon sie trotz ihrer knappen, knauserischen Wirtschafterei im kleinen bei ihren Grundstücksankäufen eine Verschwendung trieb, die seinen Aufwand für Sinnendinge wie Essen, Trinken, Bücher, Reisen und Weiber weit übertraf. Dieses seltsame, mit Verstandesgründen nicht zu erklärende Scham- und Schuldgefühl war, das wußte er, ihm nicht allein eigen; es war vielmehr tiefverwurzelt im Lebensgefühl der meisten Amerikaner aus seiner Bekanntschaft. Es war etwas, das beinah weiter zurückreichte als Zeit und Gedächtnis, etwas, was immer zur Art gehört hatte, was im Blut lag, was geradezu aus der Luft eingeatmet wurde, – eine gegebene Empfindungsweise, kraft deren man dafür hielt, jedes Leben, das nicht auf einträgliche Arbeit gegründet, das nackt und unverhohlen dem Vergnügen, dem Nichtstun, der Muße, der Erfüllung sinnlicher Selbstsüchte ergeben war, sei unwürdig und eine Schande.

Nun, als dieses alte, unheilbare Schuldempfinden an ihm riß, zog er düster die Augenbrauen herunter, rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und sprach dann scharf und gereizt zu der alten Frau, die ihn mit betrübten, vorwurfsvollen Augen anblickte:

»Nun ja, das Geld ist ausgegeben, fort ist es, und daran ist nichts zu ändern. Was soll ein Mensch denn Ihrer Meinung nach eigentlich mit seinem Geld anfangen? Es zählen und nachzählen und ihm Gutnacht sagen und es vorm Einschlafen küssen und es dann beim Aufstehn wieder küssen und zählen und nachzählen, um festzustellen, ob ihm auch keins in der Nacht fortgelaufen ist? Wozu ist denn Geld da, wenn nicht zum Ausgeben? Wofür lebt man denn?« fragte er bitter. »Worauf warten Sie denn? Sparen Sie etwa, damit Sie in einem schönen Sarg beerdigt werden können?«

»Aber, mein Junge, die Sache ist doch die, daß Sie einfach zuviel Geld an Essen und Trinken und an die Mädchen hängen. Für solche Dinge geben Sie zuviel aus«, erklärte die alte Frau traurig.

»Und warum sollte ich's nicht?« grollte er. »Wollen Sie mir bitte sagen, wofür ich sonst mein Geld ausgeben sollte? Wissen Sie was Besseres, an das ich's hängen könnte?«

»Hängen Sie es nicht an jene Mädchen im Café; sie sind schlecht, schlecht – sie bringen Ihnen nichts außer Unheil und Schererei. Kommen Sie mit mir!« sagte sie und stand auf. »Begleiten Sie mich heut morgen, ich werde Sie mit zwei netten Mädchen bekannt machen. Das ist bessere Gesellschaft für Sie als jene Weibsleute im Café.«

Er ging mit ihr aus. Die Straßen der alten Stadt, vormittäglich belebt, lagen freundlich im Mostgelb einer dünnen Wintersonne. Viele Leute kannten die Gräfin und grüßten sie respektvoll. Dann und wann stand ein Ladenbesitzer in seiner Tür, grüßte und lächelte gutmütig über den Anblick, den das winzige alte Frauchen an der Seite des jungen Manns bot, der sie wie ein Turm überragte. Manchmal, wenn die Gräfin das Lachen und die spaßigen Bemerkungen der Leute über das ungleiche Paar hörte, wandte sie sich an den jungen Mann und lachte auf eine versonnene und doch ergötzte Art.

»Ah – hah-hah! Sie lachen über uns zwei, mein Junge«, sagte sie. »Sie halten uns für ein komisches Paar ... Un grand garçon, eh?« rief sie einem Mann zu, der in einer Ladentür stand und den jungen Mann der Länge nach mit erstaunten, wohlwollenden Blicken maß.

»Mon Dieu!« rief der Mann. »Qu'il est grand! Il mange beaucoup de soupe!«

Schließlich kamen die beiden zu dem kleinen Hutladen, wo die alte Frau sich einen Hut machen ließ, und traten ein. Die kleine Glocke an der Tür klingelte, und die Besitzerin und ihre Gehilfin kamen beide aus einem durch Vorhänge abgeschlossenen hinteren Raum. Die Hutmacherin, eine fähig aussehende Person, mochte dreißig sein; sie war brünett, hatte ein breites Gesicht und eine kräftige, feste, verführerische Figur. Die Gehilfin war jünger, größer und blond. Die beiden Mädchen, durchaus anziehende Geschöpfe, begrüßten den jungen Mann, ganz wie es die Leute auf der Straße getan hatten, mit Lächeln und gutgemeinten Staunensausrufen. Und dann ging das Geplapper los, und minutenlang war der ganze Laden hell und heiter vom flirrenden Französisch der Frauen; scheinbar redeten und lachten sie alle drei aufgeregt durcheinander, und der junge Mann hörte, wie die Gräfin den beiden Mädchen seine journalistischen Meriten vermeldete, er fing ein paarmal die magische Wendung »The New York Times, le grand journal américain« auf, und dann sahen ihn die beiden Mädchen mit lächelnden Mienen an, und schließlich kam die ältere, die Besitzerin des Ladens, auf ihn zu, maß ihre Höhe an seiner Schulter und erklärte mit einem kurzen, erstaunten Auflachen:

»Mon Dieu! Qu'il est grand!«

Daraufhin machte die Jüngere eine Bemerkung, aber in einem so schnellen Französisch, daß er nicht folgen konnte, und die Gräfin wandte sich befriedigt gluckernd an ihn und erklärte:

»Sie sagen, daß sie Sie hier im Laden brauchen könnten, mein Lieber, nämlich um die Hutschachteln vom obersten Gestell 'runterzuholen. Für sie ist's zu hoch.«

»Mon Dieu, oui!« sagte das jüngere, größere Mädchen, das mittlerweile den Hut für die Gräfin in die Hand genommen hatte und etwas an der Form zurechtbog. »Während Sie den Hut aufprobieren, kann er gleich Hélène behilflich sein, einen Kasten von oben herunterzuholen. Hélène«, rief sie sofort dem andern Mädchen zu, »zeig' doch Monsieur mal, wo wir die Schachteln stehn haben, und sieh, ob er eine herunternehmen kann.«

Er folgte Hélène hinter den Vorhang in die Werkstatt, während die beiden andern Frauen hinter ihnen dreinlachten und weiterschwatzten. Auf dem obersten Brett eines Wandgestells stand eine Reihe von Schachteln, aber als er Hélène ansah und sie fragen wollte, welche Schachtel er ihr reichen solle, lächelte sie freundlich und erklärte gütig:

»Mais non monsieur, nous ne sommes pas sérieuses. Attendez!« Flink war sie auf einen Stuhl gestiegen und griff nun selber nach einer Schachtel. Aber das oberste Brett war wirklich fast außer Reichweite für sie. Sie berührte die Schachtel mit den Fingerspitzen, rückte sie so vom Platz, und die Schachtel fiel herunter. Der junge Mann fing sie auf. Und auch Hélène wäre fast zu Fall gekommen, sie hatte das Gleichgewicht verloren, schwankte in der Schwebe auf ihn zu, und er hob sie vom Stuhl herunter. Einen Augenblick hing ihr kräftiger Körper schwer in seinen Armen. Er setzte sie nur widerwillig ab; sie standen noch eine Sekunde lang Brust an Brust, und ihre Hände lagen leicht auf seinen Armen. Und mit einem anmutigen kleinen Auflachen sagte sie:

»Oh la la! Qu'il est fort!«

Die beiden gingen wieder nach vorn, die Gräfin wurde mit der Hutanprobe fertig, und dann, nachdem die drei Frauen sich zum Abschied noch einmal lachend und redend ausgelassen hatten, ging der junge Mann mit der alten Frau weg. Als er die Ladentür aufmachte, klingelte die kleine Schelle wieder so hübsch und hell; er mußte sich bücken, um sich nicht am oberen Türbalken den Kopf anzuschlagen. Er wandte sich nochmals um zum Lebewohl, heiter und freundlich lächelnd sahen ihm die beiden Mädchen nach. Es tat ihm leid wegzugehn, und er wünschte, er hätte eine Ausrede bereit, um länger dableiben zu können. Hélène sah stark und tüchtig und begehrenswert aus, sie lächelte ihm zum Abschied freundlich zu; er dachte, sie würde sich sicher freuen, wenn er zurückkäme, aber er sah sie nie wieder.

Später erinnerte er sich der beiden Mädchen lebhaft, und bei dieser Erinnerung wurde ihm angenehm warm ums Herz. Er dachte manches Mal an Hélène, an ihre starke, verführerische Gestalt und ihr breites, dunkles Gesicht, und er fragte sich verwundert, welcher Art wohl ihr Leben gewesen sei, ob sie geheiratet habe, was die Zeit ihr wohl gebracht hätte.


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