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LXVII

Als Joel ihn zur Bahn fuhr, war es für Eugen wie eine – und zwar durchaus nicht angenehme – Rückkehr in eine Welt, der er seit Jahren fern geweilt hatte. Sie kamen ins Städtchen, sausten schnell die Bahnhofstraße hinunter, und die kleinen, nach einer »neuen« Architektur gebauten Holzhäuser mit den dürftigen Vorgartenrasen und die zementnen Bürgersteige und Gartenmauern machten ihm einen billigen, windigen, trübseligen Eindruck: – sie wirkten »neu« und standen da wie der bildgewordne Ausdruck eines Menschendaseins, das genauso wurzellos, seiner selbst unsicher und kläglich aufgedonnert war wie diese angestrichenen Holzkästen.

Es war Sonntag, und als sie vor dem Papier- und Zeitungsladen eines Griechen hielten, beobachtete Eugen ein paar Kleinstadtgalane, die dort, angetan mit ihrem billigfeinen Sonntagsstaat, geziert und bescheidwisserisch schmunzelnd, herumstanden. Als Joel ausstieg, versuchten die Burschen nonchalant dreinzublicken und sich möglichst leichthin weiter miteinander zu unterhalten, aber ein gewisses gespanntes Unbehagen lag auf ihnen und hielt sie im Bann, bis Joel weitergegangen war. Joel aber hatte keine Notiz von ihnen genommen und überhaupt nicht das geringste getan, was dieses Unbehagen hätte verursachen können.

Auf dem mit Steinkies bestreuten Platz vor dem Bahnhof standen mehrere Automobile – meist große, luxuriöse Wagen –, die mit ihren blanken, glitzernden Leibern im heißen Sonnenschein wie mechanische Rieseninsekten aussahen. Ihr Wesen hatte etwas Schablonenhaftes, eine metallische und unmenschliche Art, sich zu wiederholen, die Eugens Gemüt – er hätte nicht zu sagen vermocht warum – mit einem unbestimmten Gefühl von Verdruß und Verlassenheit erfüllte. Genau wie nun hatte er in den letzten Jahren oft empfunden, hatte er mit einer belästigenden, heimsucherischen Eindringlichkeit oftmals gespürt, daß »etwas« ins Leben hereingebrochen war, etwas »Neues«, wie er es nicht näher bezeichnen konnte, etwas Störendes und Finsterliches, das irgendwie seinen Ausdruck gefunden hatte in der mächtigen, verdrießlichen und unmenschlichen Präzision dieser glitzernden, schablonenhaften, mechanischen Rieseninsekten. Übereinstimmend mit dieser Empfindung war eine andre, die die Menschen selber betraf: es schien Eugen, auch die Menschen hätten sich gewandelt, »etwas Neues« wäre in ihre Gesichter gekommen, und obschon er es nicht bezeichnen konnte, so empfand er doch kraft einer starken, untrüglichen Intuition, daß es da war, dieses »etwas«, das ins Leben hereingebrochen war und auch das Leben und die Gesichter der Menschen verwandelt hatte. Und der Grund dafür, daß ihn diese Entdeckung störte, ja, sogar in furchterregender Weise störte, lag darin, daß dieses »neue Etwas« so offenbar vorhanden und dennoch gleichzeitig so undefinierbar war; ferner darin, daß sich die Wandlung in den wenigen, kurzen Jahren seines eigenen Lebens vollzogen hatte, also in der Tat »in den letzten paar Jahren«, während er, Eugen, gerade unter jenen Menschen, an denen sie geschehen war, gelebt, geatmet und gearbeitet hatte; und schließlich darin, daß er den »Augenblick« des Einbruchs nicht beobachtet hatte, denn in seiner intensiv buchstäblichen, fast fanatisch konkreten Vorstellung glaubte er, da müsse ein »Augenblick« gewesen sein, ein Moment der Krisis, eine kleine, durch die Aufzeichnung überlieferbare, meßbare Zeitspanne, in dem dieser Wandel übergangsmäßig eingetreten wäre. Deshalb denn spürte er nun diese beunruhigende, namenlose, beinah entsetzliche Verlassenheit; ihn dünkte, der Wandel im Leben und in den Gesichtern der Leute habe sich gerade vor seiner Nase, unmittelbar vor seinen Augen vollzogen, und er, Eugen, sei dabeigestanden und habe nichts davon gemerkt, und nun, nachdem es da war, in diesem Augenblick, in dem seine gesamte Fähigkeit, zu erkennen und wahrzunehmen, auf dieses »neue Etwas« in den Menschengesichtern prallte, sah er klar und deutlich, daß die Leute schon seit mehreren Jahren so ausgesehen hatten, ohne daß er doch wußte wieso.

Er dachte nun an die Gesichter von Leuten, die zehntausendmal durch das brüllende Dunkel der Untergrundbahntunnel geschleudert und, die faulige Luft dort atmend, dem erschütternden Geknirsch und dem rasenden Radau solang preisgegeben worden waren, bis ihnen die Ohren ertaubten, bis ihnen die Zungen zu Raspeln und die Stimmen metallisch wurden, bis ihnen die Haut und die Nervenenden dick und schwielig und durch Abtötung erbarmungsvoll der kreischenden und krachenden Umwelt angepaßt wurden. Er dachte nun an die toten, dumpfen, glanzlosen Augen von Menschen, die zu weit und zu oft im sausenden Wurfgeschoß großer Züge dahingebraust, die in surrenden Maschineninsekten so schnell dahingesaust waren auf den harten, rohen Bändern der betonierten Landstraßen, daß die Erde nun so sehr für sie verloren war, daß sie sie überhaupt nicht mehr sahen mit ihren verdrossenen, immer verzweifelt sucherischen Augen, – Augen, die im blinden Entsetzen, der endlosen Vervielfachung, der ständigwährenden Bestürzung der fließenden und flutenden millionenfüßigen Menge so lange nach dem Menschen gesucht hatten, daß Leben, Glanz und Jugendfeuer aus ihnen entwichen waren und sie nun auf ihrer immerdardauernden Suche nach dem Antlitz des Menschen im Menschenschwarm nur noch die blinden, leeren Wände von Gesichtern sahen und somit nie wieder des Menschen lebendiges, liebendes, strahlendes und erbarmungsvolles Antlitz sehen würden.

So blind und leer waren auch die Gesichter der Leute, die Eugen nun auf dem Bahnsteig dieser Kleinstadt am Hudson River warten sah, – er sah da zwei Dutzend Gesichter aus dem bastardisierten, anonymen Kompositum ähnlicher Gesichter, die Amerika erstellen, und mit einem jähen, blendenden Erkenntnisblitz des Entsetzens ward er gewahr, daß dies genau die Gesichter waren, die er »in den letzten paar Jahren« überall und allenthalben tausendmal gesehn hatte.

Er hatte sie in ihrer letzten und größten Pflanzstadt gesehn, im kolossalischen Lager der unzähligen Untergetauchten, in der ungeheuersten Kolonie des großen, bastardisierten und anonymen Kompositums, aus dem sich Amerika erstellt. Dort hatte er sie gesehn, auf immerdar dahingeschleudert vom brüllenden Bogen der großen Brücke in der unaufhörlichen Flucht sausender Wurfgeschosse, eine unbezifferbare Flut in großen, schnöden Insekten aus Maschinerie, sich auf immer bohrend durch den riesigen, labyrinthischen Horror der spurlosen Dschungel ungezählter Straßen, durch den Dreck, den Rost, das Geschwärm, die Heftigkeit und das Grauen der Fulton Street, am Zusammenlauf vieler Verkehrsstränge, an der nackten Drohung der Straßenecken vorbei, durch das überlaufene, konzentrische Chaos der Borough Hall, in insektenhaft surrender Flucht durch die Clinton Street, die Henry Street, die Bedford Section, weiter durch das flache, grenzenlose Geschwiemel, das »Flatbush Section« heißt, unterm breiten, feuchten Licht dichtverhangner Himmel, durch zehntausend dreckige, speckige, namenlose Straßen, die ein ungeheures, spurenloses Geschwummer bilden, – und am entsetzlichsten war ihm dies gewesen: – eine Flut namenloser Gesichter, wurzelloser und unbezifferter Leben, die auf immer blind vorbeieilte in heißen Insekten aus Maschinerie durch jene breiten, weiten, glänzend-öden Avenuen, die auf beiden Seiten flankiert wurden von zahllosen neuen Wohnbauten, Greueln aus Backstein und Stuck, – Avenuen, grade und brutal, wie Speichen an einem Rad durch das labyrinthische Chaos der Dschungel Brooklyn gelegt, – Avenuen, die Gott weiß wohin führten, nach Coney Island, zu den Badestränden, nach den Außendistrikten des spurenlosen Stadtgespinsts, nach dem unbekannten Kontinent Long Island, – Avenuen, die, ganz gleich wohin sie führten, stets und ständig überfüllt waren mit dem blinden Entsetzen dieser unbezifferbaren, vorbeigeschleuderten Gesichter, dem blinden Entsetzen dieser wurfgeschoßartig vorbeisausenden Maschineninsekten, dem blinden Entsetzen der ständig bewegten, unendlich wandelbaren Flucht dieser unbekannten, namenlosen Leben, die immerdar weiterfuhren, immerdar verloren waren, Gott weiß wohin unterwegs.

Ja, das war es – blind, verzweifelt, unaussprechlich spürte er es – ja, das war es, was dieses Aussehen – das »neue Aussehen« –, das entsetzliche, undefinierbare, widerlich schnöde und anonyme Aussehen in die Gesichter der Leute gebracht hatte. Dies war es, das aus den lebendigen Gesichtern das Spiel und den Blitz der Leidenschaft, die Freude und das augenblicksholde, liebliche, quecksilbrige Leben genommen hatte, das den Gesichtern nun dieses verstumpfte, abgetötete, betäubte und verhärtete Aussehen gab.

Das war es, was den Leuten das »neue Aussehen« gegeben hatte, was aus dem Menschen das gemacht hatte, was er nun geworden war, was aus den Leuten hier auf dem Bahnsteig das gemacht hatte, was sie waren, und nun, da Eugen diesem »Es« wieder ständig gegenüberstehen und in es zurückgeworfen werden sollte, nun, nachdem er nach drei Tagen der Bezauberung und Verwunschenheit die neuentdeckte, glorreiche Welt verlassen mußte, um brutal zurückgestoßen zu werden in die blinde, brutale Bestürztheit, die namenlose Sterbensqual und das Geschwel des Lebens, aus dem er gekommen war, nun schien ihm, er könne dem nicht gegenübertreten, könne nicht dorthin zurückkehren, es wäre zu hart, zu sehr erfüllt von Pein und Schweiß und Todesweh und Grauen, zu häßlich, zu grausam, zu vergeblich, zu gräßlich, als daß er es ertragen könne.

Nie mehr! Nie mehr! Und nicht zu ertragen! Auf drei Tage – drei zauberisch schnellbeschwingte Tage – jenes verwunschene Leben zu entdecken, in das er sich als Kind hineingeträumt hatte, – auf drei kurze magische Tage ein Herr im Leben sein, geschätzter Freund und angesehener und beliebter Gefährte großer Männer und herrlicher Frauen, – auf drei heimsucherisch und unerträglich holde Tage den magischen Bezirk des Amerika seiner Knabenträume zu entdecken und zu besitzen, das schicksalsschönste, beste und glücklichste Leben, das wahrste, schönste und richtigste Leben, das Menschen je gekannt hatten, – und es sich im Augenblick der Besitzergreifung entreißen lassen müssen – und bloß dies wieder sein: ein Namenloser, der weltstadtwärts im großen Wurfgeschoß eines Zugs geschleudert wird zusammen mit andern, gleichviel Namenlosen in die blinde, brutale Bestürzung! Eine Stimme klang sehr weit weg, donnerte ihm im Ohr durch den Schlachtlärm des betäubten Universums, als er rief:

»Joel! Joel! Es war so schön hier bei Dir – Joel –«

Und plötzlich sah er, wie die hohe Gestalt des Freundes zurückwich, zurückschreckte, sah er den Ausdruck von etwas Augenblicklichem, Aufgescheuchtem, Abgeschloss'nem, Endgültigem in dessen Gesicht, in dessen Augen, und er hörte das hurtige, scharfe Gewisper Joels, der schnell sagte:

»Ja! ... Es war schön, daß Du kommen konntest! ... Und leb wohl nun ... Auf Wiedersehn am – –«

Und schon hörte Eugen nichts mehr, und er wußte, daß dies Lebwohl endgültig und unwiderruflich war, ganz gleichgültig wie oft und auf wie lange er und Joel in Zukunft einander wiedersehen würden.

Und im gleichen Augenblick, in dem sich das Tor zwischen ihnen auf immer zutat, in dem er, Eugen, wußte, daß es nie wieder aufgeschlossen werden könne, verspürte er ein herzzerreißendes Mitleid mit seinem Freund, denn er sah nun irgendwie, daß jener verloren war, daß es für jenen nun nichts mehr gab als die beweglichen Schatten an der Wand, die Vorspieglungen der Circe, jene Welt aus Mondlicht, Bezauberung und buntem Rauch, die die »Leute am Hudson« für die Welt schlechthin hielten. Auf drei Tage hatte Eugen ja selber die Mohndüfte dieser ganzen, glorreichen Unwirklichkeit eingeatmet, und in diesen drei kurzen Tagen war ihm die Welt seiner Herkunft – seines Vaters Erdstoff, Blut, Schweiß, stinkender Lehm und bittre Todesangst, die Welt der Gewalttätigkeit, der Plackerei, des Daseinskampfs, der Grausamkeit und des Furchtbaren – phantomisch geworden wie ein böser Traum ... ja, so phantomisch war ihm diese von namenlosen Wesen mit Kötergesichtern überschwärmte Welt mit all ihrer Häßlichkeit geworden, daß er das wilde, heiße Geschwel und Geschwiemel, die unbändige Wütigkeit der endlosen Weltstadt nicht mehr ertragen zu können glaubte. Tappend, schwitzend, schiebend, fluchend wieder seinen Weg suchen zu müssen durch die unaufhörlichen, anprallenden Fluten auf dem schmutzigen Pflaster, gestoßen und geschubst zu werden im blinden Getriebe und betroffen, bestürzt, betäubt und erschöpft zu sein, den unstillbaren Durst des Suchers und den unersättlichen Hunger und die ganze schwarze Verzweiflung dieses brachen, unfruchtbaren Bemühns, dieses vergeblichen, nie endenden Kampfes zu spüren, – und dem entgegengehen zu müssen, dem entgegengehen zu müssen!

Zu hart, zu schmerzlich, zu viel verlangt war es, – er konnte dem nicht entgegengehen! – und als er schnöd angewidert, vor Ekel erschaudernd zurückschrak, da hörte er den Donner des Zugs auf den Schienen – und ward sich bewußt, er müsse dem entgegengehen.

Er stand noch eine Weile am Fenster des abfahrenden Zugs, winkte dem auf dem Bahnsteig stehenden Joel ein Lebewohl zu und sah dann dessen hohe Gestalt davongehn. Der Zug fuhr schneller, fegte scharf am Ufer um eine Schleife des Stroms, der Bahnhof und die kleine Stadt entschwand, und alsbald, von weitem und nur für die paar kurzen Augenblicke, die der Zug am Fuß des magischen, vertrauten Hügels entlangbrauste, sah Eugen stolz da droben das große, weiße, von edlen Bäumen umschirmte Haus stehn. Dann war auch dies vorbei. Er blickte sich um, ließ seine Augen auf- und abgehn in dem schmutzigen Eisenbahnwagen, in dem die Luft dick war vom beißenden Geruch wohlfeiler Zigarren und starken Tabaks.

Sie waren alle da, und Eugen wußte augenblicklich, daß er jeden von seinen Mitreisenden schon eine millionmal gesehen und sie alle von jeher gekannt hatte. Sie waren alle da: – der Grieche aus Cleveland mit seinem billigen hellbraunen Anzug, knallgelben Schuhen, gestreiften beigefarbnen Socken, mit dem billigen Papiermaché-Handköfferchen, in dem bestimmt beigefarbne Hemden und das zweite Paar Hosen zu dem Anzug waren, mit seinem haarigen, von Runzeln durchzognen, blatternarbigen, übernächtigen Gesicht, den trübschwarzen Augen, einer Stirn, die nicht höher war als ein Finger breit ist, dieser drohend niedrigen Stirn, die er nun schmerzlich-geduldig furchte, als er die sensationellen Mysterien in der Zeitungsspalte ›Kurznachrichten‹ zu ergrübeln versuchte. Sie waren alle da: zwei Taubstumme, die sich in der Zeichensprache unterhielten; ein junger Neger aus Harlem mit seinem safranhäutigen Mensch, das ganz in zwei Farben ausstaffiert war, lohgelb und lavendelblau, vom Hut herunter bis auf die Halbschuhe, Größe dreiundvierzig; zwei junge Brooklyner Judenschwengel mit ihren Schickseln, die einander gegenüber saßen, denn sie hatten die bewegliche Rücklehne an einer der doppelsitzigen Polsterbänke in der ›Day Coach‹ gegen die Fahrtrichtung gestellt; ein Chorus Girl vom burlesken Ballett mit gefärbtem, strohfahl unnatürlichem Haar, einem falschen, mageren, leeren, geschminkten, kleinen Hurengesicht, angezogen mit der kitschigen Feinheit, die ihrem ganzen Wesen entsprach; ein junger Italiener mit pomadeschwarzem, tadellos lacklederglatt zurückfrisiertem Haar, der mit dem Hürchen sprach, die Lider halb gesenkt mit einem schiefen, lüsternen Seitenblick und dicken blassen Lippen, auf denen ständig das träge, fette Schmunzeln sinnlicher Selbstsicherheit lag, die Kiefer langsam beschäftigt mit dem Kaugummiklümpchen im Mund; ein Mann mit einem starken, gewöhnlichen, um die Kinnbacken abgehagerten, anonymen Gesicht, dem Ansehn nach ein Arbeiter, nett, sauber, gleichgültig angezogen, ein in braunes Papier eingeschlagenes Bündel im Gepäcknetz über seinem Platz; und schließlich noch ein junger, brünetter Ire mit einem zähen, gemeinen Gesicht, einem hitzigen, grausamen, angetrunknen Gesicht, rote Feuerpünktchen im Blick, der unablässig vor sich hin fauchte, fluchte, drohte, zum Raufen herausforderte mit einer Stimme, die scharf, ruppig, händelsüchtig, nackt durch die rauchblauen Schwaden raspelte und schnitt.

Die jungen Juden schlabberten vor Lachen, der ganze Wagen schallte von ihrem lärmenden Geschrei, glattzüngig, schnell, behend, begierig Anerkennung heischend, zogen sie einander auf und gaben einander drauf, schmierig-vielsagend lächelnd mit zynischem Hohn und beißendem Witz, der danebentraf. Das aufgeblondete Hürchen lieh sein Ohr den hypnotischen Verführungen des dicklippigen, Schlitzaugen machenden Italieners; auf dem geschminkten, kleinen Gesicht spielte ganz leicht ein sittsam-unzüchtiges Lächeln, die feine junge Dame hatte freilich keine Ahnung von dem, worauf der Italiener anspielte, sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was der Mann wollte, sie erhob sich, zwängte sich an seinen langsam zurückgezognen Knien vorbei und ging mit gezierten Schrittchen den Gang hinunter nach dem kleinen Wandschrank am Ende des Wagens, in dem die Frauentoilette war, während er ihr langsam kauend, fettig schmunzelnd mit einem berechnenden Schätzerblick aus den halbgeschlossenen Augen folgte. Die Lady trat ein, verschloß sich in dem schalen Gestank des Gelasses, blieb einige Zeit, und als sie wieder herauskam, strich sie sich geziert das Kleid über den Hüften glatt und kam sittsam-züchtig lächelnd mit Stelzschritten den Gang entlang auf ihren galanten Kavalier zu, der sie mit halbgeschlossenen Augen, langsam Gummi kauend, mit den blassen, dicken Lippen schmunzelnd begrüßte und wiederum langsam die Knie, an denen sie sich vorbeizwängte, zurückzog. Von den beiden Taubstummen war einer ein kleiner, dunkelhaariger Mensch mit einem Frettchengesicht, der andere ein großer, schwerfälliger Kerl mit den mächtig breiten Schultern, die man oft an Krüppeln findet, und einem langlippigen, grausamen Mund in einem brutalen Gesicht; die beiden beobachteten die Szene mit Abscheu. Sie sahen die Fahrgäste einen nach dem andern an und taten sie in ihrer wendigen Fingersprache einen nach dem andern ab. Dabei schnitten sie bösartige Grimassen, lächelten sie höhnisch, verkrampften sich ihre Mienen vor Ekel und Haß. Sie sahen die Mitreisenden an, und dann machten sie beredte Handgebärden, die von Vernichtung und schnellem, gewaltsamem Tod sprachen; sie stießen mit grausamen Daumen nach unten, wie jemand, der dem Feind den Todesstoß gibt, fuhren sich mit schnellem Finger vorm Hals her, wie jemand, der einem andern die Gurgel schlitzt. – Und alles war ganz so, wie sich's Eugen im voraus gedacht hatte.

Der Arbeiter mit dem starken, gewöhnlichen Gesicht und dem netten, sauberen Anzug saß still da und blickte still zum Fenster hinaus mit einer versorgten Miene und stillen, müden Augen, und der junge Ire brodelte von Betrunkenheit und Mordgier, und die Lust, Blut fließen zu sehen, bäumte sich in ihm auf, und rote Feuerpünktchen glitzten in seinen kleinen Augen, und der Zug fuhr und fuhr, und der junge Ire streute ständig seine raspelnden Flüche in die blauen Rauchschwaden, fauchte seine Drohungen in all der idiotischen Dumpfheit einer schmutzigen, blödsinnigen Profanität, einer obszönen, im Wortschatz beschränkten Beschwerde: »Ihr verfickten Juden! ... Ihr verfickten Drecksjuden! ... Euch tret' ich, daß die Scheiße aus Euch 'rauskommt! ... Ihr verfickten Bankerte! ... Hey-y! Ihr da! ... Euch verfickte Blödel da mein' ich! ... Was habt denn Ihr da die ganze Zeit zu reden mit Euren verfickten Fingern? ... Hey-y! Du da! Du verfickter Bankert, ich geb' keinen Scheiß auf Dich lange verfickte Latte!«

Es war ganz so, wie es immer gewesen war, ganz so, wie sich's Eugen im voraus gedacht hatte, ganz so, wie er es nie hätte besser vorabsehen können. Der junge, brünette Ire warf mit üblen Flüchen und Drohungen um sich herum, soff seine Flasche aus, und die Fauligkeit und das alte, rote Licht der Mordlust nahmen zu. Und das Kötergezücht lachte und höhnte wie immer, und schließlich verstummte das Kötergezücht plötzlich, als der Betrunkne drohend aufsprang und losschlagen wollte, und der alte Wagenschaffner mit dem versauerten, versorgten Gesicht verhinderte den Betrunknen am Losschlagen, und der junge, brünette Ire setzte sich wieder und fluchte nun auf den Schaffner.

Und das Licht fiel schräger, abschüssiger vom Himmel herein, die alte Abendröte lag mit zaubrischen Feuern auf dem Strom, und der Zug machte ständig sein ungeheures eintöniges Brausen, das wie der Laut der Stille und des Immerdar war, – und nun war nichts mehr außer der ungeheuren Eintönigkeit aus Zeit und Stille und dem Strom, dem heimgesuchten Strom, dem zaubrisch gebannten Strom, der auf immerdar seine großen, lautlosen Fluten aus dem Binnenland zog, der durch aller Menschen Dasein die magische Bahn seiner hehren, heimsucherischen Berückung zog, der Eugens Leben mit verwunschnen Königreichen und Lotoslanden und all den in der Kindheit geträumten Schaubildern von der magischen Erde verband, und der ihn, Eugen, dennoch immerdar vom Zaubrischen fortzog, ihn hinzog in den Schmutz und Schweiß und die Gewaltsamkeit der Stadt, der unaufhörlichen Großstadt, der millionenfüßigen Weltstadt, ihn hinzog nach Amerika.

Der große Strom brannte da im Feuer der abklingenden Abendröte in Eugens Schau, der große Strom lag da im Bann der Stille und des Immerdar, der große Strom floß auf immerdar dahin und war seltsamer als eine Legende und so dunkel wie die Zeit.


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