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LXXIV

Am Tag vor seiner Abreise hatten die Rhodes Scholars Eugen zum Mittagessen eingeladen. Das war ein feines Mahl; sie aßen in den Räumen des Kollegienhauses; die Gastgeber hatten ordentlich in die Geldbeutel gegriffen, waren zum Küchenchef gegangen und hatten diesem gesagt, er solle es an nichts fehlen lassen und bis zum Äußersten gehen. Vor dem Essen leerten die jungen Männer zusammen eine Flasche guten Sherry, bei Tisch tranken sie das starke, braune, süffige Ale des College, und zum Kaffee dann schlossen sie das Gelage mit Portwein ab, jedermann eine Flasche.

Es gab eine feine, dicke, schmackhafte, mahagonifarbne Suppe; dann erschien eine Riesenplatte hochgeschichtet mit delikaten, goldbraunen Seezungenschnitten; dann gab es einen zarten, duftigen, saftigen Hammelbraten, köstlicher als jedes andre Hammelfleisch, das Eugen je gegessen hatte, und dazu rotes Johannisbeergelee, gutgewürzten Rosenkohl und Salzkartoffeln, und zum Schluß eine tadellose Apfeltorte, dicken Rahm dazu, scharfen Käse und spröde Biskuits.

Das war ein feines Mahl, und nach Tisch waren sie alle in jubelseliger Frohlaune. Sie waren herrlich bezecht und glücklich, sie hatten jenen goldnen, warmen, körperwohligen und allerschönsten Rausch, wie er nur von gutem, schwerem Wein, glattem Ale und herrlichen, reichlich genossenen Speisen kommen kann; sie waren in jenem Zustand, den wir, wenn er uns ankommt, sofort erkennen als den der seltenen, der unbezahlbaren, der unstrittigen Daseinsfreude, als etwas, das stärker ist als Philosophie, als einen Schatz, der keinen Preis hat, als Entgelt genug für alle Sorgen, Verdrüsse und Enttäuschungen des Lebens und als einen bei weitem besseren Lehrer, als es Thomas von Aquin je gewesen sein kann.

Sie alle waren junge Männer, und als das Mahl vorüber war, waren sie alle so glorreich und sieghaft betrunken, wie nur junge Männer betrunken sein können. Es schien ihnen nun, daß sie nichts Unrechtes tun und keinen Irrtum begehen könnten, und daß das ganze Erdendasein ein Festzug des Entzückens wäre, der nur um ihretwillen stattfände. Glück, Besitz und Erfolg dünkten ihnen sicher. Und die Rhodes Scholars empfanden nun auch nicht länger die alte Angst, die Verwirrung und Einsamkeit, die Gefühle bittrer Minderwertigkeit und seelischen Verlassenseins, die sie seit ihrer Ankunft in England empfunden hatten.

Schönheit, Alter und Größe ihrer Umwelt wurden ihnen nun wie nie zuvor offenbar; es dünkte ihnen ein unfaßbar schönes und glückliches Los, in einer solchen Umwelt zu leben, und das Leben ringsum hatte nichts Fremdartiges und Ausländisches mehr für sie, denn sie hatten das Gefühl, daß sie es selber gewinnen und es zu ihrem eignen machen würden, dieses Leben unter den besten und glücklichsten Menschen der Welt.

Was Eugen anlangt, so dachte dieser nun frohlockend und mit unerträglichem Verlangen an seine Abreise, aber es war nicht die Freude des Entlassenseins, die ihn bewegte, sondern es war so, daß ihm alles ringsum nun glückhaft und herrlich und schön schien und ihm wie ein Wahrzeichen unaussprechlicher Zukunftsfreuden vorkam; und tausend Bilder von fahrenden Zügen schwärmten in ihm auf, Bilder von der kleinen bunten Freudigkeit der bequemen und pünktlichen englischen Eisenbahnen, Bilder von einem in Nebel verlornen England, auf dem vierzig Millionen Menschen herumliefen, einem England, das plötzlich gar nicht mehr trübselig war, sondern unendlich klein und schön und nah, so klein, daß er es mit einem Schritt durchschreiten und mit einem Sprung ermessen könnte, einem England, das ihn bereichern und erfüllen und auf immer sein eigen sein sollte mit all der Freudigkeit, all dem Geheimnis und all dieser magischen Kleinheit.

Er dachte mit derselben Freude an das ungeheure, rauchige Gewebe London, an das glatte, starke Ale, das er dort in einem Ausschank kriegen konnte, an die Plätze, die alten Höfe, die vom Alter berußten Geheimnisse und an die nebelgedämpfte Fremdheit von zehn Millionen vorübergehender Männer und Frauen. Er dachte an das schnelle, behagliche Wurfgeschoß des Luxuszugs über den Ärmelkanal, sah die Kaie, die Boote und Schiffe auf dem Wasser, die Dunkelheit der einfallenden Nacht, spürte den plötzlichen Anprall der wilden Schlagwellen außerhalb des Hafens, sah, wie England entschwand und die grellen Leuchtturmfeuer Frankreichs näher kamen, wiederum Kaie, die kleinen, durcheinanderlaufenden Gestalten und die fremden dunklen Gesichter der Franzosen, hörte die erregten Zungen, erlebte die immerausländische, zaubrische, zeitverwunschne Fremdheit des Landes, der Leute, der Gesichter; und dann dachte er an Paris, an das heimwehhafte, feingesponnene, unvergleichlich erregende Weben des Pariser Lebens, an den Duft und Geruch dieser Stadt, an das seltsame Opiat ihrer Zeit, an die Wiederentdeckung von Speise und Trank und der weißen, fleischigen, üppigen Hurenleiber.

Die jungen Männer waren alle freudentoll und frohlockend und hoffnungsvoll, und ein unbesiegbarer Glaube überkam sie, als sie der Herrlichkeit, der Mysterien und all der Dinge gedachten, die die Welt in ihrer Tiefe und Unerschöpflichkeit denen, die danach greifen, wie einen Hort bereit hält; und sie schrien und sangen und schüttelten sich die Hände und brüllten vor Lachen, und die Zweifel, die Ängste und das Wirrsalsdunkel, die sie zu andern, jüngeren, selbstgewisseren Zeit umfangen hatten, waren verflogen.

Dann gingen sie aus. Sie schritten über die Felder hinter den Kollegienhäusern, und die Felder waren feucht und grün, und die Bäume standen rauchgrau und bläulich verhängt von zaubrischen Nebelschleiern, und diese Flur kam ihnen ganz unglaubhaft bekannt und vertraut vor, und der ausgetretene Feldweg, den sie einschlugen, war wie ein Feldweg, den sie millionenmal gegangen waren.

So kamen sie schließlich zu dem kleinen, gewundnen Strom, zu dem vollfließenden, kleinen Strom der dunklen Zeit und der angehorteten Geschichte, dem stillen, schmalen, tiefziehenden Flüßchen, das so unheimlich ist in der Vollkommenheit seiner Maße, und das nun lautlos vorüberglitt, an dem feuchten, frischen Grün der Felder vorbei, die es mit der süßen, gepflegten Anmut der Vollkommenheit umsäumten.

Dann, auf dem anderen Ufer, gingen sie auf dem Uferpfad stromaufwärts, bis sie zu der Stelle kamen, wo die Rudermannschaften warteten, die Mannschaft von Merton voran, die Mannschaft eines andern Colleges dahinter. Die Studenten der beiden Kollegien standen begierig beisammen auf dem Startplatz neben den Booten, riefen den Ruderern zu und warteten auf das Signal.

Und dann, gerade als die Rhodes Scholars Eugen auf den Rücken klopften und ihm überschwenglich herzhaft zuriefen: »Sie müssen mit uns laufen! Müssen für unsre Mannschaft brüllen! Sie gehören jetzt zu Merton«, – da krachte der Schuß, die Ruderer legten sich wütig in die Riemen, die Blätter stachen rasend ins kalte, graue Wasser, und die Wettfahrt ging los. Und die beiden Rudel junger Männer liefen hurtig und leichtfüßig neben den Booten her und brüllten, schrien und gellten den Mannschaften ihres Colleges Mut zu.

Eugen, der begierig mitlief, fühlte sich zunächst stark und gewandt. Er verspürte einen luftigen Auftrieb im Körper. Leichten Tritts, langschrittig und mühelos lief er mit, sein Atem ging glatt und ohne Beschwer, und die hurtigen Füße der laufenden Trupps dröhnten dumpf vor ihm, um ihn und hinter ihm auf dem hartgetretenen Uferweg, und das donnerte ihm angenehm ins Ohr, und er fühlte sich wieder so sicher in seiner Kraft und Leistungsfähigkeit, und er dachte, er wäre einer von diesen Studenten und könnte mit den andern bis ans Ende der Welt und wieder zurück rennen, ohne daß es ihm etwas ausmache.

Er dachte, er habe die mageren Sehnen und die Ausdauer eines Jungen wieder, habe den sturmgeschwinden Flug, die Schnelligkeit, die harte Fiber, die federnde Spann- und Prallkraft eines Jungen wiedererlangt oder aber sie überhaupt nie verloren, sondern unvermindert behalten. Aber dann stahl sich ihm eine bleierne Schwere in die Glieder, er verspürte die erste Müdigkeit nach der Anstrengung, eine sich verdickende Trägheit in den Beinmuskeln, eine Benommenheit wie von Gewichten stechend in den Fingerspitzen, und nun konnte er auch nicht mehr so scharf und forsch die ruderschwingende Mannschaft schräg drunten auf dem Fluß und die gewandten Läufer ringsum ins Auge fassen.

Störrisch entschlossen trampelte er mit aller Anstrengung voran. Das Herz schlug ihm wie ein Hammer an die Rippen, der Atem ging hart und heiser im Rachen, die Zunge lag ihm dick und taub und geschwollen im Mund, und blinde Kleckse schwammen ihm vor den Augen. Er konnte seine eigne Stimme hören, die ihm nun so unbekannt, so entrückt, so spukhaft unwirklich klang, als spräche jemand in ihm und schnaufte rauh heraus: »Come on, Merton! ... Come on, Merton! ... Come on, Merton!«

Nun war auch das leichtfüßige Getrappel ringsum nicht mehr da, es war vor ihm, es war verhallt. Er konnte auch die Bootsmannschaften nicht mehr sehn, konnte nicht erkennen, ob sie noch da waren. Er lief blind und verzweifelt weiter, sah, hörte, rief nichts mehr, eine gequälte, bleierne Kreatur, auf der eine Million bleierner Stunden und müder Mühsale lasteten, er trampelte schwerfällig, blind und sinnlos voran, unter grauen, zeitlosen, unsterblich verdrießlichen Himmeln dahin, über eine graue, schnöde Erde von ungeheuer planetarischer Leere dahin, durch eine Leere, in der es weder Schatten, noch Stand, noch Obdach gab, wo es nie einen Ort der Rast geben würde, einen Raum, oder eine Tür zum Eintreten, durch eine ungeheure Leere, in der er sich auf immerdar blindlings und verdrossen voranschaffen mußte.

Dann plötzlich umringten ihn wieder Stimmen, und er spürte starke Hände, die ihn packten. Er wurde angehalten, bekannte Gesichter schwärmten auf ihn zu durch die schwimmenden Kleckse graublinder Leere. Er konnte wieder seine eigne, heisere, spukhaft-unwirkliche Stimme hören, die herausschnaufte: »Come on, Merton!«, er konnte wieder seine Freunde sehen, die grinsend, lachend, schreiend um ihn herumstanden, die ihn schüttelten und riefen: »Halt! Das Rennen ist 'rum! Merton hat gesiegt!«


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