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LXXXIV

Den ganzen Tag über schlief Eugen den Schlaf eines Betäubten, einen traumlosen Schlaf, in den kein Laut drang. Als er aufwachte, war es wieder Nacht. Und so waren Nacht und Nacht aneinandergekettet, aber durch den tiefen, leblosen Erschöpfungsschlaf schien alles Letztvergangene – die seltsame, alptraumhafte Furchtbarkeit der vorherigen Nacht und der schnelle, kaleidoskopische Taumel der zwei vorhergehenden Tage – in eine heimsucherische, beunruhigende Ferne gerückt, und alles, was sich in dieser nahvergangenen Spanne ereignet hatte, hatte für Eugen nun die trauervolle Endgültigkeit der unwiderruflichen Zeit. Plötzlich war ihm, als wäre das Leben, das er mit Ann, Elinor und Starwick geführt hatte, abgetan und erledigt. Aus irgendeinem merkwürdig quälenden, völlig unerfindlichen Grund hatte er das Gefühl, er würde die drei nie wiedersehn.

Er stand auf, zog sich an, ging hinunter. Er sah den alten Gely, dessen Frau, dessen Töchter, die Hausmagd Marie und die kleine Concierge, und ihm schien nun, alle diese Leute sähen ihn so sonderbar und merkwürdig an, mit einem so kummervollen, traurigen Wissen im Blick, und eine namenlose Erregung packte ihn und verödete ihm das Herz. Es war jene unsägliche Angst, die er immer empfand – die vielleicht alle Menschen empfinden, wenn sie einen oder zwei Tage weggewesen sind, jene Bangigkeit, die einem Ahnungen von schlechter Botschaft und unbekanntem Mißgeschick eingibt. So drängte es Eugen nun, die Leute im Haus zu fragen, ob sich jemand nach ihm erkundigt hätte (wer es gewesen sein könnte, wußte er nicht) oder ob eine Nachricht für ihn gekommen sei (wer ihm eine geschickt haben könnte, wußte er ebensowenig), und eine fast fiebrige Energie trieb ihn, diese Leute anzugehn, sie sollten ihm sofort sagen, was für ein Mißgeschick ihn in seiner Abwesenheit heimgesucht habe. Aber er fragte nicht, und noch draußen auf der Straße verstörte ihn dieser eigenartige, ihn peinigende Ausdruck, den er in den Augen dieser Leute erkannt zu haben glaubte, ein Ausdruck, von dem er meinte, er habe ihn schon öfter beobachtet, ein Ausdruck, der, so schien ihm, von einem Geheimwissen, von außermenschlichen, chemischen Beziehungen zeugte, von Gemeinsamkeiten im Leben anderer sprach, vor denen er ein Fremdling blieb.

Draußen die Straßen lagen im Nebel, die alten Pflastersteine glänzten feucht mit einem stumpfen Schein, die Laternen brannten trüb in den Dunstschwaden, und ungesehn, geschwind, mit dem schrillen Getute ihrer kleinen Hupen sausten die Taxis auf dem Fahrdamm vorbei.

Alles schien Eugen geisterhaft und phantomisch, die Pariser Straßen hatten die unvertraute Wirklichkeit von Straßen, die man nach jahrelanger Abwesenheit wiedersieht oder nach einer langen, schweren Krankheit wieder begeht.

Er aß in einem kleinen Speisehaus in der Rue de la Seine, und unbehaglich gemacht durch die trübselige Beleuchtung, die hohen, alten Häuser, die leeren Straßen im Quartier Latin, in dessen engen Durchfahrten nur dann und wann einmal ein wütendes kleines Taxi tutend in Richtung der Seinebrücken und des großen, grellheiteren Nachtbetriebs sauste, verließ Eugen schließlich den düstern Stadtbezirk, der ihm vorkam wie ein Wahrbild jener ruhlosen Vereinsamung, die ihn plagte, und ging über die Brücke und verbrachte den Rest des Abends mit einem Buch in einem der Cafés in der Nähe der Magasins du Louvre.

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war ein Rohrpostbrief von Elinor da. Sie schrieb ihm:

»Lieberchen, wo bist Du? Erholst Du Dich noch vom letzten großen Bummel, oder hast Du uns fallenlassen, oder ist sonst was los? Wir sind ganz furchtbar gespannt! Möchtest Du nicht kommen und uns sagen, daß nichts los ist und uns heut um halb eins zum Mittagessen abholen? Wir erwarten Dich im Atelier. – Elinor.« Darunter stand in einer runden, beinah kindlichen Handschrift: »Wir möchten Dich gern sehn. Du hast uns gestern sehr gefehlt. – Ann.«

Aber- und abermals las Eugen diese beiläufigen Zeilen; er lachte übermütig, er schlug mit den Fäusten in die Luft, und dann las er die Worte wieder. Die ganze Freude, die alte, unmögliche Freude war wieder in ihm lebendig geworden. Er sah sich im Zimmer um und fand das Zimmer, fand alles im Zimmer gut und bewohnbar. Er trat ans Fenster und blickte hinaus; ein zitronengelbes Sonnenlicht lag auf den alten, fahlen Mauern, auf den Dächern und Schornsteinen von Paris; alles blinkte vor Gesundheit und Hoffnung und Arbeit und Morgenlust – und das alles nur, weil ihm zwei Mädchen aus Boston in Neu-England einen kleinen Brief geschrieben hatten.

Zärtlich hielt er das windige Papier des Rohrpostbriefs in der Hand, ganz so, als hielte er ein heiliges Pergament, das viel zu alt und kostbar war für eine rauhe Behandlung. Er hob den Brief sogar an seine Nase und roch daran, und ihm war, er röche den subtil sinnlichen Weibsgeruch, den verführerisch erregenden, untastbar und herrlich blumenhaften Duft, den diese beiden Frauen auszuströmen, mit dem sie allem, was sie berührten, einen Anhauch sieghaft freudiger Zärtlichkeit zu verleihen schienen. Er las die paar barschen Worte, die ihm Ann geschrieben hatte, als wären sie Dichtung von bannender Magie; jene gleichmütige, stumpfe, tonlose Unbeugsamkeit, die stets in ihrer Stimme war, konnte Eugen heraushören, und aus den schlichten Worten las er tausend begrabne Bedeutungen heraus, – las er die Zärtlichkeit eines abgründigen, schlichten, unberedten Wesens, dessen Gefühle zu tief für die Sprache sind, das keine Worte für sie besitzt.

Als er ins Atelier kam, fand er dort die beiden Frauen vor, die auf ihn warteten. Starwick aber war nicht da. Ann war wie immer ruhig und sachlich barsch. Elinor war beinah ausgelassen heiter, jedoch von einer Heiterkeit, hinter der Eugen sofort eine tiefe Verstörtheit spürte, eine zerrüttende Angst, die unverhohlen aus den besorgten Augen sprach.

Die beiden erzählten Eugen, Starwick habe nach der Rückkehr von Reims das Atelier verlassen, um Alec zu treffen und habe sich seitdem nicht mehr sehen lassen. Auch gehört hatten sie nichts von ihm, und nun, am zweiten Tag nach seinem Verschwinden, hatten sie ganz offenbar Angst um ihn.

Aber während des Mittagessens – sie aßen in einer kleinen Gastwirtschaft in der Nachbarschaft, gleich beim Bahnhof Montparnasse – führte Elinor ein schnelles, heiteres Gespräch und bestand darauf, von Starwicks Verschwinden als von einem großen Schabernack zu sprechen, als von einer Sache, die ihm ganz ähnlich sähe.

»Vollkommen verrückt, natürlich!« rief sie lustig auflachend aus. »Aber so was ist ganz typisch für ihn. Freilich! Das sieht ihm durchaus ähnlich. Oh, er wird schon wieder erscheinen«, versicherte sie ruhig und vertrauensvoll. »Wartet nur 'nen Tag oder zwei, und schon wird er wieder dastehen, und dann wird er ein Abenteuer gehabt haben, wie es sonst kein Mensch auf der Welt außer Francis Starwick haben kann ... Ich meine«, rief sie, »so, wie er neulich nachts diesen Alec aufgelesen hat! Letzthin wahnsinnig natürlich!« erklärte sie heiter. »Aber schließlich, so ist er. Er wäre nicht der Frank, wenn er sich anders benähme!«

»Ich finde die Sache gar nicht zum Spaßen«, erklärte Ann barsch. »Mir scheint sie ziemlich verrucht auszusehn. Wir wissen nicht das geringste über diesen Franzosen, nicht, wer er ist, was er tut, nicht mal, wie er heißt. Nach dem bißchen, was wir wissen, kann er einer der ärgsten Verbrecher in Paris sein.«

»Ach, das weiß ich, meine Liebe, ... aber komm doch nicht gleich auf so ausgefallene Vorstellungen!« begehrte Elinor auf. »Der Mann, dieser Alec, ist ganz ungefährlich. Dergleichen Leute liest Frank immer auf, und immer stellen sie sich als ganz harmlos heraus. Aber selbstverständlich«, rief sie überzeugt wie jemand, der einen lästigen Gedanken abwehrt, »aber selbstverständlich ist die Sache völlig harmlos! Es ist ja lächerlich, daß Du Dich so unsinnig aufregst!«

Aber obschon sie das alles so nachdrücklich versicherte, waren ihre Augen sorgenvoll, ja schmerzlich bestürzt von einer beinah unverhohlenen Angst.

Eugen trennte sich nach dem Mittagessen von den Freundinnen, nachdem er sich mit ihnen zum Nachtessen verabredet hatte. Starwick war nicht zurückgekommen. Nach der Mahlzeit gingen die beiden Frauen zurück aufs Atelier, um dort Starwicks mögliche Heimkehr zu erwarten. Eugen aber ging auf die Suche auf den Montmartre; er hatte Elinor und Ann versprochen, er würde sie sofort verständigen, wenn er Starwick anträfe oder irgendwelche Nachrichten über ihn einziehen könne. Auf dem Montmartre machte Eugen die Runde durch Starwicks meistaufgesuchte Lieblingslokale; aber dort hatte der Gesuchte sich seit dem letzten gemeinsamen Besuch nicht mehr blicken lassen. Ganz am Schluß ging Eugen in das kleine Bistro in der Rue Montmartre, wo Starwick seine Bekanntschaft mit Alec gemacht hatte. Eugen fragte den Barkeeper mit den dunklen, mißtrauischen Augen, ob er Alec oder Starwick in den letzten drei Tagen gesehn habe. Der Mann erwiderte mürrisch, keiner von den beiden wäre dagewesen. Trotzdem, Eugen blieb. Er trank einen Cognac nach dem andern an der Bar und wartete, während das Lokal sich mit mysteriösem Nachtgeschwärm und Nachtgezücht füllte und wieder leerte, bis um vier Uhr in der Früh. Nachdem dann weder Starwick noch Alec erschienen waren, nahm sich Eugen ein Taxi und fuhr durch Paris zurück zum Montparnasse. Als er ins Atelier kam, waren die beiden Frauen noch auf und warteten; er gab ihnen die enttäuschende Nachricht, und ging dann weg, nachdem er sich auf den nächsten Mittag mit ihnen verabredet hatte.

Den ganzen nächsten Tag über warteten sie. Es ward nun schmerzlich offenbar, daß sich die beiden Frauen trübe Gedanken machten. Ann sprach unverblümt davon, die Polizei zu benachrichtigen. Gegen sechs Uhr abends, als sich die drei gerade heftig darüber stritten, was sie nun unternehmen sollten, um Starwick ausfindig zu machen, wurden Schritte draußen hörbar, und alsbald trat der Gesuchte, von dem Franzosen Alec begleitet, ins Atelier ein.

Starwick war in trefflicher Laune; seine Augen waren klar, sein rötliches Gesicht sah frisch aus und glühte vor Gesundheit. Auf alle erregten Begrüßungsfragen, wo er denn sich herumgetrieben habe, lachte er heimlich vergnügt und neckisch und verweigerte die Auskunft. Die Frauen wandten sich an Alec um Bescheid, aber auch Alec erwies sich als unergiebig. Er lächelte sein zwar gewinnendes, aber maliziöses Lächeln, zuckte höflich die Achseln und erklärte: »Isch veiß nickt, ich denk, er vird es sagenn, venn er vill. Und venn nickt –« Wieder lächelte er und zuckte verbindlich die Achseln. Das Siegel dieser launischen Verschwiegenheit wurde nie gelöst. Starwick rückte nie damit heraus, wo er eigentlich gewesen war. Die fünf Leute gingen zusammen dinieren, es wurde ein Freudenmahl, und ein- oder zweimal bei Tisch machte Starwick vielsagende Anspielungen auf Brüssel, worauf ihn Elinor gewandt einem ironischen Kreuzverhör unterzog. Aber statt ihr zu antworten, lachte er einfach sein sprudelndes Kehllautlachen und verweigerte die Auskunft.

Und sie, die sich nun endlich für geschlagen erkannte, lachte plötzlich höchst erstaunt auf und rief: » Vollkommen wahnsinnig, natürlich! Sieht ihm das nicht wieder ganz ähnlich? Also: was hab' ich Euch gesagt? Genau so eine Sache, wie er sie anstellen würde!«

Aber trotz ihres hochgestimmten Leichtmuts, ihres schnellen, hellen Lachens, ihres vornehm überlegenen Gehabens, – in ihren Augen war etwas, was Eugen nie zuvor gesehn hatte: – der Ausdruck einer grauenhaften Enttäuschung und Vereitlung, einer drangsälig quälenden Seelennot. Und obschon sie dem Franzosen stets mit Anmut, Heiterkeit und Charme entgegenkam, obschon sie ihn von nun an als »einen von uns« ansah und öfter begeistert erklärte, dieser Alec wäre »eine vollkommen fabelhafte Person« und sie möchte ihn »so« gern, manchmal, wenn sie ihn anblickte, erschien etwas in ihren Augen, was gar nicht als gut anzusehen war.

Alec wurde der Gast der Gruppe und Starwicks ständiger Gefährte bei allen Unternehmungen. Und überall und auf jegliche Art und Weise erwies sich der Franzose als ein drolliger, gütiger, höflicher, witziger und städtisch zynischer Mensch, als ein Mann von reizenden und einnehmenden Eigenschaften und ein erfreulicher Gesellschafter. Die andern fragten ihn nie nach seinem Namen, nach seiner Herkunft, seinen Angehörigen, seinem Beruf. Seine eigenartige Freundschaft mit Starwick wurde anscheinend als Selbstverständlichkeit aufgefaßt. Alec ging mit auf die tägliche Runde durch Cafés, Restaurants, Nachtlokale und Vergnügungszufluchten, und höflich-anmutig, witzig, verbindlich und reizend, mit einer natürlich-vornehmen Haltung und Gelassenheit nahm er alle Gunstbeweise an. Auch er stellte seinerseits niemals störende Fragen, er war ein geborner Diplomat, ein Taktiker von Kindesbeinen an. Nichtsdestoweniger, der rätselhaft verwunderte, zweifelnde, forschende Ausdruck in seinen Augen wurde von Tag zu Tag deutlicher; sein Schweigen ward sehr beredt, denn die Frage, die in seinen rätselhaft verwunderten Augen stand, ließ sich nicht verhehlen, sie schien dauernd zur Aussprache zu drängen.

Eugen verspürte nun zum erstenmal einen häßlichen, beunruhigenden Zweifel. Er entsann sich nun plötzlich so mancher Dinge, die in seine Cambridger Jahre zurückreichten, und die ihm in der Zwischenzeit vollkommen entfallen waren, an Worte, Phrasen, schnelle, beiläufige Anspielungen und Anwürfe. Diese Dinge blitzten nun in seinem Gedächtnis auf und kehrten ihm ins Bewußtsein zurück. Und manchmal, wenn er Starwick anblickte, hatte er die unheimliche und unangenehme Empfindung, er blicke einen Menschen an, den er nie zuvor gesehen hätte.


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