Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLIX

Am Ende der Unterrichtsstunden, am Endesende, wenn alle gesprochen hatten, wenn die heiße, pralle, ungestüme Woge weitergerollt, der letzte Hall trappelnder und trippelnder Tritte im Korridor verhallt und das letzte Keifen und Heischen und Raunzen von Stimmen in der Stille erstorben war, wenn nur noch der Geruch von Erschöpfung, Verbrauchtheit und Überdruß blieb, in dem Wände, Tische, Bänke und das ganze Klassenzimmer müde, gelassen und entlastet aufzuatmen schienen, dann, am Endesende, am Ausgebrannten-Kerzenstummel-Ende des Tages stand Abraham Jones da und wartete unerbittlich wie das Schicksal auf Eugen. Da und dann stand und wartete Abraham Jones, grimmig, grau, ohne Lächeln, mit dem Qualblick hinter ominös blinkenden Brillengläsern, ein Bild jiddischer Melancholie und Unzufriedenheit, und Eugens Herz wurde dumpf und stumpf, wenn er jenen nur ansah. Während des Unterrichts saß Abraham Jones in der drittvordersten Reihe. Er saß da wie eine Nemesis von Hohn und Verachtung, wie ein erbarmungsloser Zensor von Eugens Unwissen und Unzulänglichkeit, und Eugen ging es so, daß selbst auf der Höhe eines leidenschaftlichen Begeistrungsflugs der Anblick dieses trübselig-unzufriednen Gesichts mit dem weiten Ackerland eines peinlich jüdischen, potenzierten Intellektualismus genügte, um ihm das Blut gerinnen zu machen, um ihm das Herz zu erfrieren, um ihm die Feuerfunken im Hirn zu ertöten, um ihm die Zunge so zu verdicken, daß sie nur noch eines stammelnden, zusammenhanglosen Gemummels fähig war. Eugen wußte nicht, was dieser Mensch wollte, was er erwartete, welche Art von Belehrung er seiner würdig erachte; Eugen wußte bloß, daß er nichts tat, was jenem paßte, daß in jeder Linie dieses trübsalgrauen Zensorengesichts geschrieben stand, der Unterricht sei unzulänglich und unangemessen. Nachts dachte er entsetzt an dieses Gesicht: dieser Guhlenkopf, an einen Geierkörper angerenkt, fegte hinter ihm her durch die Gefilde eines elenden Schlafs, eine beflügelte, heiserverhängnisvoll krächzende Furie. Nie zuvor war Eugen von der Verzweiflung zu solch erschöpfend intensiver Arbeit getrieben worden: Nacht für Nacht schwitzte er Blut über hohen Stößen Heften und losen, gebündelten Blättern, auf denen die Haus- und Klassenarbeiten seiner Schüler standen. Er las das dumpfe, unachtsame, triviale Zeug, das sie schrieben, er las es zwei- und dreimal, setzte alle Beistriche, Strichpunkte und Punkte ein, verbesserte alle Rechtschreibungs-, Grammatik- und Interpunktionsfehler, die er fand, schrieb lange, mühselige Kommentare und Kritiken zu den einzelnen Arbeiten, stand sogar plötzlich, aus heimgesuchtem Qualschlaf geschreckt, auf, um diesem oder jenem eine bessere Note zu geben. Und am Ende, am untilgbaren Ende stand stets eine Drohung: die wöchentliche Arbeit, die Abraham Jones abgegeben hatte. Mit Furcht und Zittern ging Eugen daran. Abraham Jones schrieb die besten Arbeiten in der Klasse. Die Grammatik war makellos, der Wortvorrat war groß, der Ausdruck war präzis, die Sätze waren klar und kräftig gebaut, die Gedanken waren richtig, subtil und standen in logischem Zusammenhang. An jedem Standard gemessen, war die Arbeit außerordentlich, an Grad und Qualität war sie unverkennbar verdienstlich. Und doch war es Eugen angst und bang, wenn er an diese paar Seiten ging. Noch ehe er sich durch den ersten Absatz durchgeschafft hatte, stöhnte er vor Verdruß, seufzte er laut auf vor Verzweiflung. Er stand auf und rannte stampfend im Zimmer hin und her wie ein Mensch, den Zahnschmerzen rasend machen. Er begann wieder zu lesen, er warf sich aufs Bett, stand auf, rannte im Zimmer umher, steckte den Kopf in kaltes Wasser, – aber alles half nichts. Es war seine Pflicht, die Arbeit zu Ende zu lesen, und er las sie zu Ende, aber es war geistige Plackerei und schwerste Verdrießlichkeit. Es war so, als solle er Kreide fressen oder aus einem Pflasterstein Süßigkeit zuckeln, oder als würde er in einem Ozean aus Spülwasser ersäuft, oder als würde er gezwungen, an gekochtem, ungewürztem Spinat eine Schlemmermahlzeit zu halten. ›Abe‹, d. i. Abraham, schrieb über verschiedenartige und weit auseinanderliegende Dinge, und alles, was er schrieb, war gut. Er schrieb zum Beispiel über die Stücke Pirandellos, über dessen »Sechs Personen suchen einen Autor« und über die drei Ebnen der Wirklichkeit in diesem Schauspiel; er bestimmte und analysierte diese drei Wirklichkeitskonzeptionen mit der Fähigkeit und Kraft eines Philosophen, der Feinheit eines subtilen Psychologen, – und für Eugen war das alles dann wie Weinen und Klagen und Zähneknirschen, weil es so gut war, und weil er nicht wußte, was verkehrt daran wäre, und so war es ihm unerträglich, die Arbeit zu lesen. Nun konnte er doch nicht unter Abes Aufsätze schreiben, er, Eugen, fände sie unausstehlich langweilig, es sei denn, er könne den Grund für diesen Befund namhaft machen, und eben diesen Grund kannte er nicht. Infolgedessen bekam Abe allwöchentlich die höchste Note, die Note ›A‹, die Eugen sonst niemandem gab, und diese Note mußte er sich jedesmal abringen; er schrieb sie mit zitternden, zaudernden Händen unter das Blatt. Aber mochte es auch keine bessere Note, keinen schmeichelhafteren Kommentar geben, Abe muckte auf. Grau, trübselig, gequält, unzufrieden, jiddisch stand er am Ende jeder Unterrichtsstunde da und wartete, die losen Papierbogen krampfhaft in der ungeduldigen Hand, gewappnet für den kämpferischen Disput, der da kommen sollte.

Die Klasse kam abends zusammen, und nach dem Unterricht gingen die Studenten und Studentinnen gruppenweise weg durch den leeren, widerhallenden Wandelgang, wandten sich dann und klapperten die Treppe hinunter zum Hauptportal. Das große Gebäude war verlassen und voll müder Echos. Eugen und Abe hörten noch vereinzelte Geräusche; die Tür an einem Fahrstuhl wurde zugeschlagen, und alsbald erdröhnte das Dynamogebrumm der aufwärtstreibenden Maschinerie. Jemand ging über den großen Korridor im Erdgeschoß, die Schritte hallten auf den glattgebohnerten Marmorfliesen, es wurde gescheuert, ein Eimer rasselte. Durchs ganze Gebäude ging es wie ein schwächerwerdender elektrischer Strom, so, wie wenn die Glimmfäden in einer Glühbirne matter brennen. Geschmack und Geruch dieser Mattigkeit drangen Eugen in Mund und Nase; ihm war, als wäre er mit der Zunge an eine noch warme, aber ausgebrannte Taschenlampenbatterie gekommen; es roch wie der Geruch von Rad und Schiene, wenn eine Trambahn knirschend um eine Kurve fährt; es roch, wie eine heißgelaufene Lokomotive riecht. Auch dem Körper teilte sich die Erschlaffung mit, und zwar so, als wären die Lebensströme am Versiegen, als wäre das Fleisch trocken und ohne Saft; Eugen hatte Schmerzen im Kreuz, ein Gefühl von Impotenz in den Lenden; der schale Säuregeschmack des Ausgebranntseins erfüllte ihn.

Das große, häßliche Gebäude atmete langsam in der Müdigkeit lebloser Gegenstände, die allzusehr mit menschlichen Lebensströmen geladen worden sind. Es war heimgesucht von einer Öde und Leere, von der Abwesenheit der vielen tausend Leute, die es am Tage überall mit ihrem lärmenden, heißen, heischenden Leben durchschwärmt hatten. Die Luft war geatmet, aber und abermals geatmet worden; die Wände, die Einrichtungsgegenstände, der Fußboden, kurz, alles im Hause schwitzte gewissermaßen von nervöser Ausgemergeltheit. Wenn Eugen an einem solchen Abend die Treppe hinuntereilte, begleitet von dem unentwegt disputierwütigen Abe, der sich nicht abschütteln ließ, dann haßte er dieses Gebäude mehr, als er je im Leben ein Gebäude gehaßt hatte. Der Bau schien getränkt mit dem Andenken an fruchtlose Arbeit und harschen Hader, an Furcht, Haß und Verdruß, an überreizte Nerven, Herzklopfen und müdes Fleisch, er schien zu brüten, beladen mit einer grauenhaften Last von Menschenweh und beschwert mit Gram. Eugen haßte dieses Gebäude, wie ein Mensch einen Ort haßt, an dem ihm eine furchtbare körperliche oder geistige Demütigung widerfahren ist, wie ein Mensch das Zimmer haßt, in dem er seinen Bruder sterben sah, wie ein Mensch die Hausung haßt, aus der Liebe und die Geliebte entflohn sind. Die Gespenster von Schmerz und Dunkelheit saßen auf den leeren Stühlen, der Geist der Sterilität schwebte über den Schreibtischen. Trockner Haß und Hirngift hatten sich auf die Stühle der Instruktoren gesetzt, und darum bebten sie vor Angst auf ihren Plätzen, darum wurde es ihnen so kaltgehässig ums Herz, und darum schnürte einem der Ekel die Kehle, drang einem das Angewidertsein in die Eingeweide. Die Furcht glitt wie ein Schemen um Tischkanten und Stuhlbeine, sie fiel zu Boden und krabbelte und wackelte dort herum wie ein knochenloses Wesen. Und der Jude mit dem grauen Gesicht, der neben Eugen ging, machte, daß die müden Lichter matt brannten, und daß der Überdruß eine Zunge, die Verzweiflung eine Farbe bekam.

Die beiden eilten die Treppe hinunter und verließen den Bau beinah wie Flüchtlinge. Das schwere Tor fiel hinter ihnen zu und machte ein Echo in den Hallen. Sie traten hinaus aufs Pflaster, auf den Platz und blieben sofort stehn. Hier waren sie in einer anderen Welt, und ihre erschöpften Körper tranken neue Lebenskraft ein. In frostbissigen, kalten, stillen Winternächten war der Himmel manchmal eigenartig klar und stand großbestirnt über dem hohen, aufstrahlenden Glanz und der nördlich kalten Leidenschaftlichkeit von New York. Es war, als wären Sternenpollen und demantglitzernder Sternenstaub von trunkner Hand übers Firmament gestreut worden. Als Eugen aufblickte, war auf einmal alle Müdigkeit vergangen, aller Verdruß bereinigt. Ein überwältigendes Begehren, die Schönheit und alles Wesentliche zu besitzen und in sich einzubeziehen, erfüllte ihn. Er würde Künstler werden, er würde im Mahlstrom zu leben wissen. Die Dunkelheit bedräng ihn mit Macht- und Besitzgefühlen, sein Geist schwang sich auf über die Stadt, über die Erde, er spürte, wie Friede, Kraft und Gewißheit ihn besaßen, er trank die Luft in großen Zügen in seine Lunge, er sah die hohen Mauerklippen der Metropole grell im Juwelenschmuck der harten, hingestreuten Lichter, er wußte, er könne alles besitzen, und die sieghafte Freude durchbrauste ihn. Und dann fürchtete er sich freilich nicht mehr vor dem Juden mit dem grauen Gesicht, der neben ihm stand.

Von der Stachelrute der Verzweiflung, der Furcht vorm Versagen und vor der Entehrung, einem Gefühl des Allein- und Verlassenseins getrieben, grimmig entschlossen, nicht in Staub und Schutt unterzugehn, solange er noch eine Hand heben oder einen Atemzug tun könne, tat er Titanenarbeit. Er lernte seinen Beruf, er fand sein Leben wieder ... Er hagerte ab bis auf die Knochen, er wurde ein verrückter, besessener Eiferer, aber er ward ein guter Lehrer, und der Tag kam, an dem er wußte, er brauche nicht länger in Angst und Scham zu atmen, er habe sich durchgerungen, er sei seines Lohnes wert und könne seiner Klasse ruhig ins Auge sehn. Er stellte sich vor die schwärzliche Schwarmhorde und leerte den Gehalt seines Daseins restlos aus; er betete, schwitzte und beschwor wie ein Prophet, ein Dichter, ein Priester, alles was an Leben, an Gefühl, an Wissen und Kenntnis in ihm war, ganze Schätze aus Gedicht, Leidenschaft und Glauben schüttete er hin; er drang ins Hirn des Dumpfesten wie ein Chirurg und fachte den Funken im Herzen des Dümmsten zu Glut, aber dieser Abraham Jones, dieser graugesichtige, jiddische Inquisitor, heftete sich ihm störrisch an die Fersen. Je mehr Eugen gab, desto mehr wollte Abe haben. Er zehrte, seine Grauheit mit unersättlicher, vampirischer Gefräßigkeit nährend und mehrend, an Eugens Leben und hatte doch nie ein Wort des Lobs, ein Sätzchen des Danks, eine Silbe der Anerkennung.

Statt dessen traten seine sauertöpfische Unzufriedenheit, seine störrische Geringschätzigkeit täglich offener hervor. Er ließ seiner Unverschämtheit die Zügel schießen und schlug über alle Stränge. Er frohlockte im Hochgefühl seiner grausamen, krähenden, jüdischen Herrschaft über Eugens gebeugten und schmerzenden Geist. Er ging Tag für Tag mit Eugen nach dem Unterricht weg, und was er dann vorbrachte, war eine lange, mürrische Anklage gegen Eugens Unterricht, dessen Lehrweise, dessen Kompetenz. Warum Eugen der Klasse keine besseren Aufsatzthemen stelle; warum er nicht ein besseres Lehrbuch einführe an Stelle des schlechten, nach dem er nun arbeite; warum in der Lektüre, die Eugen der Klasse angegeben hatte, einer Liste von Gedichten, Theaterstücken, Biographien und Romanen, die nichts tauge, die Namen jüdischer Schriftsteller wie Ludwig Lewisohn und Salom Asch fehlten; warum Eugen, der mit seinen Studenten sprach, bis ihm Herz und Hirn schlapp und krank waren, den Kursteilnehmern nicht mehr private Beratung zuteil werden lasse; warum er nicht mehr expositorische und weniger deskriptive Themen aufgebe, mehr Abhandlungen und weniger Erzählendes wähle – kurz, warum er nicht alles ganz anders mache –, so lautete die Anklage, die erbarmungslos, eindringlich, unnachgiebig, Tag für Tag um einige Punkte erweitert, von Abe gegen Eugen vorgebracht wurde. Und während Groll, Ärger und Entschiedenheit in Eugen zu brennen und leuchten begannen, wuchs die Überzeugung, dies sei nicht länger zu ertragen; kein Lebensunterhalt, kein Lohn, keine Stellung sei diese dem undankbaren Genörgel preisgegebene Plackerei wert, und dem unausstehlichen Zustand müsse ein Ende bereitet werden.

Eines Abends, als Abe den Eugen von der Universität zum Hoteleingang begleitet hatte und gerade wieder im vollen Schwung und Schwang mit seiner mürrischen Klage war, fiel ihm Eugen plötzlich kurzangebunden ins Wort und fragte: »Sie mögen meinen Unterricht nicht, nicht wahr, Jones? Sie halten nicht viel von meiner Art und Weise zu lehren, nicht wahr?«

Diese Frage überraschte Abe, denn seine Klagen waren stets in einem säuerlich unpersönlichen Tenor gehalten. Eine endgültige, direkte Bezichtigung hatte er nie gewagt.

»Das habe ich nie behauptet«, erklärte er mürrisch und unwillig nach einer Weile. »Ich glaube nicht, daß uns im Unterricht nicht so viel geboten wird, als uns geboten werden sollte. Ich meine allerdings, daß wir einen Haufen mehr geboten kriegen könnten, als wir geboten kriegen. Das ist alles, was ich behauptet habe.«

»Und nun haben Sie ein paar tausend Verbesserungsvorschläge zu machen; das ist es doch, nicht wahr?«

»Ich mußte Ihnen einmal sagen, wie ich eingestellt bin«, erklärte Abe störrisch. »Wenn Sie das ungern hörten, tut es mir leid. Sie wissen doch, wir kriegen das Studium nicht geschenkt. Wir müssen dafür bezahlen, und zwar schwer dafür bezahlen. In dieser Beziehung dürfen Sie sich nichts vormachen lassen«, meinte er mit einem höhnisch-verächtlichen Lächeln, »diese Universität ist eine Goldgrube. Die trustees werden reich bei dem Geschäft.«

»Nun, ich jedenfalls werde nicht reich dabei«, erklärte Eugen. »Ich kriege hundertundfünfzig Dollars im Monat. Das scheint Ihnen wohl zu viel für meine Leistungen?«

»Nun, wir haben ein Recht, das Beste zu beanspruchen, was wir kriegen können«, sagte Abe. »Deswegen gehn wir ja hin. Deswegen geben wir unsern Kies her. Sie wissen ja, die Burschen auf unserer Universität sind nicht reich wie die feinen Jungen, die in Yale und Harvard studieren. Für die meisten bedeutet ein Dollar etwas ... Wir kriegen nicht alles auf der Silberplatte serviert. Die meisten von uns müssen für jeden Cent, den sie hinlegen können, arbeiten, und wenn uns dann irgendein Lehrer nicht sein Bestes gibt, dann haben wir das gute Recht, deswegen aufzumucken ... Das ist mein Standpunkt.«

»Schon gut«, sagte Eugen. »Ich kenne nun Ihren Standpunkt. Nun will ich Ihnen meinen klarmachen. Ich hab Ihnen mein Bestes gegeben, aber es ist Ihnen nicht genug. Und da ich nichts Besseres zu geben habe, bleibt es dabei, daß Sie nichts Besseres von mir kriegen können. Und nun sage ich Ihnen, was Sie tun werden, Jones. Sie werden aus meiner Klasse wegbleiben. Verstehn Sie das?« schrie er. »Und zwar werden Sie von jetzt an wegbleiben. Ich wünsche Sie nie wieder in meiner Klasse zu sehen. Ich werde Schritte tun, daß Sie versetzt werden, daß man Sie irgendeinem andern Instruktor überweist. Mein Klassenzimmer werden Sie jedenfalls nicht wieder betreten.«

»Das können Sie nicht tun«, sagte Abe. »Sie haben kein Recht dazu. Sie haben keinerlei Recht, einen Studenten in der Mitte des Lehrgangs in eine andere Klasse abzuschieben. Ich habe meine Arbeiten gemacht«, sagte er grollend, »und so können Sie mich nicht 'raussetzen ... Ich werde zum Fakultätsausschuß gehn, wenn Sie es tun.«

Mehr konnte Eugen nicht ertragen. Geelendet und verzweifelt dachte er an alles, was er um Abes willen ausgestanden hatte, die Wut begehrte erstickend in ihm auf, der seit Monaten angesammelte Groll kam hoch.

»Ei verdammt noch mal!« begehrte er auf. »Gehn Sie meinethalb zum Fakultätsausschuß oder zu jeder andern verdammten Dienststelle, die Ihnen beliebt. Aber ins Klassenzimmer, in dem ich unterrichte, werden Sie nie wieder kommen. Wenn die Leute mir Sie zurückschicken, wenn sie entscheiden, daß ich Sie in der Klasse behalten muß, dann gebe ich die Arbeit auf. Hören Sie mich, Jones«, schrie er. »Ich will Sie einfach nicht haben. Und wenn Sie mir aufgezwungen werden, schmeiß ich den Bettel hin! Zum Teufel mit so einem Leben! Lieber will ich Kloakenreiniger werden, als Sie in meiner Klasse behalten! ... Sie verdammter Schuft!« polterte er los mit einer Stimme, die heiser und belegt war, weil er kaum noch sprechen konnte vor Wut und ihm die Lichtfetzen blind und trunken vor den Augen schwammen. »Ich hab' alles ertragen von Ihnen, was ich ertragen kann ... Sie verdammter, doofer Geselle, Sie setzen sich da hin und höhnen mich Tag und Tag an mit Ihrer verdammten Judenfresse! Wer sind Sie denn überhaupt? Ein verdammter doofer Kerl, weiter nichts! ... Ei verdammt noch einmal, Jones, Sie haben wahrhaftig keinen Lehrer wie mich verdient! Sie sollten hinknien und Gott danken, wenn Sie einen halb so guten hätten! Sie verdammter ... Kerl! ... Sie! ... Sich vorzustellen, daß ich wegen Ihnen Blut schwitze! ... Scheren Sie sich fort!« gellte er. »Zur Hölle mit Ihnen! ... Ich will Ihr Gesicht nie wieder sehn.«

Eugen drehte sich um und ging auf den Hoteleingang zu. Er war blind und schwach und taumelig vor Wut, und es war ihm gleich, was nun geschähe. Nach Wochen schweren Elends wallte eine Welle der Erleichterung und Freiheit durch seine Adern. Ehe er noch drei Schritte weit weg war, war Abe Jones an seiner Seite, klammerte sich an seinen Ärmel und flehte, bat und bettelte: »Sagen Sie! ... Sie verstehen mich falsch! Wirklich, aufrichtig, Sie haben eine falsche Vorstellung! ... Sagen Sie, ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie es übelnehmen! Es war doch gar nicht so gemeint! Schicken Sie mich doch nicht fort!« bat er allen Ernstes, und plötzlich sah Eugen, daß Abes glänzende Brillengläser beschlagen waren, und daß Tränen in Abes stumpfen, kurzsichtigen Augen standen. »Ich möchte nicht aus Ihrer Klasse weg«, sagte Abe. »Ei, es ist die beste Klasse, in der ich bin! ... Aufrichtig, so ist es! Wirklich, im Ernst! ... Und alle die andern sagen genau dasselbe!«

Er bettelte und flehte, er war dem Weinen nahe. Als schließlich der gute Wille zwischen den beiden wiederhergestellt war, preßte er Eugens Hand und lachte schmerzlich und scheu. Er nahm die beschlagne Brille ab und begann, mit einem Taschentuch die Gläser zu putzen. Das graue, häßliche Gesicht hatte nun den eigenartig nackten, untauglichen, angewelkten, müde-altklugen Ausdruck, der ganz allgemein auf den Gesichtern augenschwacher Leute erscheint, wenn sie die Gläser absetzen. Abes Gesicht war ein gutes und häßliches Gesicht, und ganz plötzlich nun mochte Eugen den Abe sehr gern. Er verabschiedete sich von ihm und ging auf sein Zimmer. Ihm war so wohlig, so leicht, so glückhaft zumut, wie ihm seit Monaten nicht zumut gewesen war, und in dieser Nacht, unheimgesucht, unbeschämt, unverfolgt von Befürchtungen, Furien, Verhängnisgesichten, sank er zum erstenmal seit Monaten traumlos, süß, köstlich in die Tiefen eines abgründigen und lautlosen Schlafs.

Und von diesem Augenblick an, über allen Schicksalswandel, alle Abwesenheiten und Wiederkünfte der Wanderschaft hinweg, durch jedes Ereignis von Gedeih und Verderb, von Not und Wahnsinn im weiteren Verlauf von Eugens Leben in der Stadt hindurch, war dieser Jude Abe Jones, dieses erste Atom aus dem Menschenschwarm, das Eugen in all der Verlassenheit der millionenfüßigen Metropole kennengelernt hatte, Eugens treuer Freund.

Es war nicht die goldne Stadt, die Eugen als Kind in Visionen geschaut hatte, und das graue Reptiliengesicht dieses zinkennäsigen Juden gehörte nicht in den Kreis der Holden, Erhabenen und Glückseligen, von denen Eugen einst geträumt hatte, aber Abe war aus besserem Zeug gemacht, als es das Zeug der meisten Träume ist. Sein Geist war stet wie ein Fels, ausdauernd wie die Erde und schnell wie der Blitz. Der Anblick seines guten, grauen, häßlichen Gesichts konnte für Eugen stets das ganze verworrene Gewebe des Lebens wachrufen, das er in der Weltstadt geführt hatte, das ganze Muster der Wanderschaften und Heimkünfte heraufbeschwören und dazu tausend Erinnerungen an Jugend und Hunger, an Einsamkeit, Furcht, Verzweiflung, an Herrlichkeit, Liebe, Jubel und Freude.


 << zurück weiter >>