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LXV

Der Landsitz der Pastons lag genau so wie der Landsitz der Piercens oberhalb des Flusses, nur ein paar Meilen weiter nach Norden. Um dort hinzukommen, fuhren sie durch den Ostausgang des Pierceschen Guts und durch das kleine Dutch-Colonial-Dorf Leydensburg, dessen Bürgermeister Joels Vater war, und das größtenteils der Familie Pierce gehörte.

»Schade, daß Paps nicht in die Politik 'reingegangen ist«, wisperte Joel, als sie durch das laubige, alte Dorf fuhren. Auf der angenehmen Straße standen noch ein paar von den einsamen, weißen Häusern aus der Zeit der ersten holländischen Siedler. »Die Leute hier verehren ihn; ein Mann wie er könnte alles erreichen, was er nur wollte, wenn er bloß eine Kandidatur annähme.«

Es war das erstemal während dieses Besuchs, daß Joel von seinem Vater gesprochen hatte, und mit einem Gefühl scharfen Überraschtseins fiel es nun Eugen auf, daß er seit seiner Ankunft Mr. Pierce nicht zu Gesicht gekriegt hatte. Er fragte sich, wo Joels Vater wohl wäre, erkundigte sich aber nicht nach ihm. Er erinnerte sich nun auch daran, daß Joel bei gelegentlichen Erwähnungen öfter im Ton des resignierten Bedauerns von seinem Vater gesprochen hatte, – in jenem Ton, in dem man von jemandem spricht, der Begabungen besaß, sich Möglichkeiten verscherzt hat, und dessen Leben in nichts zerronnen ist.

Hinterm Dorf fuhren sie nordwärts. Sie sausten auf einer betonierten Staatsstraße an Bäumen, Feldern, Wäldern und dann und wann einem Haus vorbei und kamen schließlich an eine Mauer, die einen Großgrundbesitz abgrenzte. Es war das Gut der Pastons. Sie bogen alsbald in eine von Merksteinen flankierte Einfahrt ein und fuhren dann auf einer Allee weiter. Die hohen, sommerlich belaubten Bäume wölbten sich im Bogen über dem Weg. Es war Nacht geworden, der Mond stand noch nicht hoch. Eugen sah neben dem Weg Stahlschienen blitzen, und als die Fahrt alsdann mehrmals an Lichtungen vorbeiging, konnte er deutlich eine Schmalspureisenbahn entdecken, eine Anlage, die in jeder Beziehung vollkommen war mit Dämmen, Steinschotterbett, Aufwärtskurven, Einschnitten, Überführungen und sogar mit Tunnels, – aber das alles war so klein im Maßstab, daß es ihm eher wie ein Riesenspielzeug vorkam. Er fragte, was es wäre, und Joel antwortete:

»Das ist Hunters Eisenbahn.«

»Hunters Eisenbahn?« fragte Eugen verdutzt. »Aber braucht er denn hier 'ne Eisenbahn?«

»Oh, brauchen tut er sie nicht«, wisperte Joel. »Sie nützt keinem Menschen was. Er spielt damit.«

»Spielt damit? ... Aber wieso denn? Ist es am Ende doch keine richtige Eisenbahn?«

»Aber freilich«, erklärte Joel, der über Eugens Staunen lachen mußte. »Wirklich 'ne wunderbare Sache, in jeder Beziehung vollkommen – mit Tunnels, Stationen, Brücken, Signalen, Blockstellen –, alles vorhanden wie bei einer regelrechten Eisenbahnlinie – nur eben im Spielzeugmaßstab.«

»Aber die Maschine ... die Lokomotive ... wie geht denn die? Wird sie aufgezogen wie bei einem Spielzeug oder elektrisch betrieben oder wie?«

»O nein«, antwortete Joel. »Es ist 'ne regelrechte Lokomotive – kaum höher als drei Fuß, würde ich schätzen –, aber mit Dampf betrieben und überhaupt ganz wie eine richtige Lokomotive. Wirklich faszinierend ... Du solltest sie mal fahren sehn.«

»Aber – aber wie fährt er sie denn? Ist denn auf so einem kleinen Ding Platz?«

»Ja, er geht schon rein«, sagte Joel und lachte wieder. »Aber nur mit knapper Not. Gewöhnlich läuft er nebenher. Der Platz ist knapp bemessen für einen Erwachsenen.«

»Einen Erwachsenen?! ... Du willst also sagen, daß Mr. Paston diese Eisenbahn für sich selber gebaut hat?«

»Na, aber doch freilich!« Joel wandte sein Gesicht vom Steuer weg und starrte Eugen erstaunt an. »Von wem dachtest Du denn, daß ich rede?«

»Ei ... ei nun – als Du ›Hunter‹ sagtest, dachte ich, Du meintest nicht ihn selber, sondern vielleicht seinen Jungen ... oder ein Kind aus seiner Verwandtschaft ...«

»Ach nein, keineswegs«, wisperte Joel und lachte wieder über das verdutzte, bestürzte Gesicht seines Begleiters. »Mit dem Kind magst Du recht haben ... sie ist für ein Kind gebaut ... aber dieses Kind ist Hunter Paston selber ... Siehst Du«, erklärte er ruhigen Ernstes nach einer kurzen Pause, »Hunter hat einen Maschinenfimmel. Alle Maschinen – Lokomotiven, Flugzeuge, Motorboote, Automobile, Dampfjachten – begeistern ihn toll. Er liebt alles, was mit Maschinen zu tun hat, was mit Maschinen betrieben wird. Er ist immer so gewesen, schon als kleiner Junge war er so ... Und es ist so schade um ihn«, meine Joel nun in jenem Ton, den er angeschlagen hatte, als er von seinem Vater sprach. »Es ist geradezu eine Schande, daß er nichts mit seinen Gaben anfangen konnte ... Wenn er nicht all das viele Geld hätte, war er ein großartiger Mechaniker geworden. Ganz bestimmt.«

Aber nun schien eine Reihe von Lichtern durch die Bäume, das Murmeln und Gebrumm vieler Stimmen kam näher, sie sahen die glitzernden Umrisse geparkter Automobile, sie waren in der Einfahrt. Das Haus der Pastons war ein ziemlich düster wirkender Bau aus altem braunem Stein, ein viereckiger, ungeheuer solid gebauter, grimmig-großartig imposanter Riesenkasten, dessen architektonischer Stil zwar von Frankreich ausgeliehen, aber unterwegs durch so eigenartige und unerklärliche Abwandlungen gegangen war, daß von der angebornen Anmut und Leichtigkeit, die er einst gehabt haben mochte, nichts mehr übrigblieb. Der Bau war klobig, häßlich und überladen – er drängte einem den Gedanken auf, das New Yorker Hauptpostamt hätte Kinder bekommen, und hier wäre ein Beweis dafür.

Eine breite Veranda ging auf allen vier Seiten ums Haus herum, und auf der stromwärts gelegenen Verandaseite waren nun Freunde und Gäste der Familie Paston in großer Anzahl versammelt. Auf den weiten Rasenplätzen, die vorm Haus am Uferhang lagen, hatte sich noch eine andre, größere Gesellschaft gelagert. Diese Menge setzte sich zusammen aus Leuten aus dem Nachbarstädtchen und Leuten, die auf dem Gut der Pastons und andern großen Gütern in der Umgegend angestellt waren. Auf beiden Gruppen, nicht nur auf der kleineren Gruppe der Reichen auf der Veranda, sondern auch auf der größeren Gruppe auf dem Rasen, lag eine fröhlich-heitre, kindlich-glückliche, erwartungsvoll-gehobene Stimmung, und ein hochherziges, eigenartiges Bewegtsein einte alle Anwesenden. Von dem geheimnisdunklen Hangrasen herauf kam das Gemurmel von Hunderten von freudig-erregten Stimmen, die alle durcheinanderschwirrten, kam sprudelndes, leises Gelächter, kamen die Laute des plötzlich erregten, gespannten Interesses. Und dieselbe Stimmung, dieselbe Laune, derselbe Geist, dieselbe Gemütsbewegtheit – eine schlecht und recht demokratische, freundlich-warme, wesensschlichte, erwartungsfroh gehobene Gemütsbewegtheit – brachte auch ihr Beschwingendes unter die Leute auf der Veranda. Als eine Gruppe für sich betrachtet sahen diese Leute ausgezeichnet aus. Unter den jüngeren Männern waren viele hochgewachsene, stattliche, schöne und starke Menschen, die Mädchen waren lieblich, und von den Frauen waren viele schön. Auf den meisten Gesichtern waren Selbstbewußtsein, natürlicher Anstand, Lebenssicherheit und Charakterfestigkeit zu lesen. Wie Eugen wußte, stellten diese Leute jene kleine Gruppe der fabulös Reichen dar, deren Namen bei ihren Mitbürgern überall in den Vereinigten Staaten zu Haushaltsworten geworden sind, und dennoch – ob es nun das natürlich Demokratische des Anlasses war, jene fast kindisch herzliche Vorfreude, die der Nationalfeiertag, der Fourth of July, und seine Raketenfeuer, in den Gemütern wieder zu erwecken pflegt, und dazu die Weite und Wärme, die Größe und Selbstverständlichkeit der Szene, der heimatlichen Erde ... oder ob das Lebensgefühl dieser Kreise wirklich warm, frei und freundlich war, – jedenfalls: hier war keine Spur von anmaßendem, hoffärtigem, kaltem oder kränkendem Gesellschaftsgetu zu bemerken. Die Zusammenkunft hier auf der Frontveranda des alten, düstern, viktorianischen Hauses war von ganz genau der gleichen Art, die sommerabendliche Zusammenkünfte auf den Vorderterrassen der Häuser in kleinen Städten stets für Eugen gehabt hatten. Er fand mit einem Gefühl des unglaublichen Erkennens heraus, daß ihm die Szene augenblicklich vertraut war, und erwartete fast, wie er sie so oft und vor nun so langer Zeit zu Haus auf der Terrasse gehört hatte.

Jedermann unter den Anwesenden kannte die Familie Pierce; sie wurde herzlich von fröhlichen, lachenden, begierig und erregt durcheinanderredenden Stimmen bewillkommt. Rosalind, Joel und Mrs. Pierce machten einen Begrüßungsrundgang und schüttelten vielen Leuten die Hände, und dann gesellten sie sich schlicht und natürlich zu jenen, denen sie sich aus Gründen der Freundschaft, des Lebensalters oder des Temperaments am meisten verbunden fühlten – Mrs. Pierce zu den Männern und Frauen aus ihrer Generation, also zu den älteren Leuten, und Joel, Rosalind, George Thornton und Carl Seaholm zu den Jungen.

Joel stellte Eugen verschiedenen Leuten vor, er tat es flink, beiläufig, mit unendlicher Anmut und Rücksichtnahme, er machte ihn mit mehreren seiner jüngeren Freunde bekannt und auch mit gewissen älteren Männern, die offenbar die beliebtesten und angesehensten unter den Anwesenden waren. Eugen wurde auch der Mrs. Paston vorgestellt, einer hochgewachsenen und schönen jungen Frau, die blond und sehr schlank war und lieblich aussah, aber wie ein exquisiter Eiszapfen auf ihn wirkte und auch nicht mehr menschliche Wärme oder Leidenschaft zu besitzen schien als ein Eiszapfen. Sie begrüßte ihn mit ein paar kühlen Worten, einem schnellen, kühlen Druck ihrer schnellen, kühlen Hand und einem schnellen, eisigen, aber durchaus nicht unfreundlichen Lächeln, und entließ ihn aus ihrer Aufmerksamkeit, gar nicht ungütig, indem sie sich mit derselben kühlen, lächelnden, eisigen, entrückten Art andern Gästen zuwandte.

Plötzlich begann das Feuerwerk. Aus einer nachtdunklen Busch- und Baumgruppe, ziemlich weit drunten am Uferhang, wurde die erste Rakete abgeschossen – ein furchtbarer, ohrenbetäubender Knall –, das riesenhafte Geschoß mit dem winzigen Lichtpünktchen sauste hoch, barst und erleuchtete den Himmel mit einem Zauberregen fallender Sprühsterne. Ein langgezogenes »Oh–h!« der Erregung, der Schaulust und der erwartungsvollen Vorfreude kam von der Menge auf dem Rasen herauf, kam nicht minder von den Leuten auf der Veranda, die nun alle schnell auf den bereitgestellten Stühlen Platz nahmen. Und augenblicklich war es überall ganz still geworden. Und diese Stille der durchschauerten und gebannten Aufmerksamkeit wurde dann nur noch von Lauten der Bewunderung, des Sichfreuens, der Überraschtheit, des Hingerissenseins unterbrochen, als eine Riesenrakete nach der andern abgeschossen wurde, als immer schönere und großartigere Raketen in unendlicher Reihenfolge schnell nacheinander hochgingen, bis der ganze Nachthimmel mit Feuerblüten loderte, von grünen, roten, gelben, blauen, goldnen, violetten Zaubersternbildern lohte, von sanftberstenden, herrlich auseinanderspritzenden, wie große Fallschirmblumen langsam zur Erde fallenden, von krachenden, puffenden, sich entknospenden, sich entstrählenden, sich abermals zu großen Blumen entwickelnden Sternzauberfeuern leuchtete.

Alles dies hatte für Eugen eine heimlich mahnende Vertrautheit, es war Amerika, es war wie etwas Altbekanntes, dessen er sich stets erinnerte, weil er es als Kind oft erlebt hatte. Es brachte ihm wieder die ruhigen Stimmen zurück von Leuten, die auf ihren Sommerveranden gesessen hatten, das knirschende Geräusch des Straßenbahnwagens, der an einer Ecke auf dem Hügel oberhalb seines Vaterhauses gehalten hatte, die Stimme seines Vaters im Dunklen auf der Terrasse vorm Haus, den roten Feuerstrich und Feuerpunkt von seines Vaters Zigarre ... und es brachte ihm jene Donnerstagabende im Sommer zurück, an denen ihn sein Vater in der Tram zu einem drei Meilen entlegenen, kleinen Vergnügungspark am Fluß mitgenommen hatte, wo auf einer Insel unter freiem Himmel ein Kino war, und wo nachher Feuerwerk abgeschossen wurde, und wo er über den Fluß hinblickend und im Fluß gespiegelt das Flackerglissando des fahrenden Nachtzugs gesehn und dessen immer leiser werdenden Donner gehört hatte. Merkwürdigerweise kam ihm gerade das nun mit einer überaus lebhaften und unsäglichen Schärfe als ganzes Erinnerungsbild ins Gedächtnis zurück: er konnte sich an den kleinen, künstlich angelegten See dort im Park erinnern, diesen drei Fuß tiefen See, der ihm so groß und aufregend vorgekommen war, das Bootshaus dort, wo das Seewasser an die Pierposten schwappte, wo die Ruderhaken klinkten, wo die Boote mit einem dumpfen, trocknen Dröhnlaut im Dunkeln aneinanderstießen, er konnte sich daran erinnern, wie die Leute dort im Dunkeln in den Booten saßen, die Gesichter aufwärts gerichtet auf die große, silbrig flimmernde und zitternde Leinwand, die auf einer kleinen Insel im See aufgestellt war, einer baumbestandenen, dichtbelaubten Insel, die ihm so geheimnisvoll und grenzenlos vorkam wie eine Dschungel. Und der Insel gegenüber auf dem Ufer, über die Köpfe der Leute in den Booten hinwegblickend, saß der größte Teil des Publikums auf Holzbänken, und alle Leute waren stumm von einem unersättlichen Durst, und die Blütenblätter von fünfhundert blaßweißen Gesichtern waren sämtlich dem Flimmerzauber auf der Filmleinwand entgegengehoben.

Dies alles kam ihm nun zurück, als er auf der Veranda des Herrschaftshauses mit Mrs. Pierce und Joel und den andern Gästen zusammensaß, und obschon der Ort über alle Träume hinaus glanzvoll, reich und luxuriös war, so hatte doch die glückliche, warme, freundliche Heiterkeit der Leute, hatte doch ihre begierige Vorfreude auf das Feuerwerk der Fourth-of-July-Feier, hatte doch irgend etwas Freies, Herzhaftes und Schlichtes in ihrem Gehaben ihm jene herrlichen Vergnügungsfahrten zu dem kleinen Park am Fluß wieder hergerufen, und er dachte an die überfüllten Trambahnwagen bei der Heimfahrt, an die freundlichen Stimmen, das Lachen, das Zuknallen der Tür, und daran, daß er dann wieder die Stimme seines Vaters auf der Veranda gehört hatte, und daß dann der Schlaf und die Stille gekommen waren, und das alles kam ihm nun zurück in einer unsäglichen Klarheit, und hier drunten floß der Hudson durch die sich groß herniederneigende, leise, über Amerika einfallende Sommernacht, und gerade als er jener Dinge gedachte, da fuhr unten ein Zug am Ufer des Stroms, sauste flüchtig dahin wie ein Wurfgeschoß und war schon vorbei, war augenblicklich, ein Donnerbolz der Hast, weltstadtwärts davongebraust, war sofort verschwunden und ließ nichts zurück außer dem Laut seines Davongefahrenseins, einer Handvoll verlorner, an die Hügel geworfner Echos, und außer dem Strom, dem geheimnisvollen Strom, dem Hudson River in der großen, herniederfallenden Leisigkeit der hellen Nacht, und irgendwie war alles genau so, wie es immer gewesen war, und genau so, wie er es sich gedacht hatte, und genau so, wie es immer sein würde.


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