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LXXXII

Eines Nachts in einem kleinen Bistro oben auf dem Hügel des Montmartre traf Starwick einen jungen Franzosen, der alsdann auf mancherlei Wegen, Abwegen und Abenteuern sein Gefährte wurde. Es war gegen vier Uhr morgens. Starwick hatte sich auf der üblichen Runde durch vergoldete Vergnügungszufluchten, ein paar Cafés und einige von den weniger anziehenden Kneipen des Stadtbezirks sehr betrunken. Elinor und Ann hatten ihn heimbringen wollen, er aber war unbotmäßig geworden, hatte sich mit ihnen überworfen und zog seitdem ziellos von einem Ausschank zum andern.

Die beiden Frauen ließen nicht locker. Als Starwick ihre Begleitung abgelehnt hatte, hatten sie Eugen gebeten, mit ihm zu gehn und auf ihn achtzugeben. Eugen – zwar kaum weniger betrunken als Starwick, aber nun gestärkt vom Stolz und dem Pflichtgefühl, wie sie das Vertrauen zweier liebenswerter Frauen einem jungen Mann zu verleihen vermag – zog also mit und trank ebenfalls, bis es schließlich so weit war, daß sich alles in seinem Bewußtsein verwischte und sich wie ein Taumelrad aus üblen Gesichtern vor seinen Augen drehte. So wurden ihm die Vorgänge in jener Nacht zu einem verschwommenen Ganzen, dessen er sich später erinnerte wie einer Abfolge splitternder Lichtfetzen auf einer Kette aus Dunkelheit, als einer Flucht fixierter, unausstehlich greller Augenblicksbilder innerhalb einer großen Leere aus Uninnerlichem. Unter diesen Bildern war eines, das auf immerdar in Eugens Gedächtnis bleiben und ihn in Visionen heimsuchen sollte. Es war dies die Erinnerung – oder vielmehr das erinnerte Wissen um die beiden Frauen Elinor und Ann, die im Dunkel warteten, die sich nie näherten, aber sich immer in der Nähe hielten und so den beiden Betrunkenen, Starwick und ihm, durchs blinde Gewebe der Straßen, durchs irre Kaleidoskop der Nacht folgten. Eugen war, als hätte er sie nicht gesehn, nicht bemerkt und doch immer gewußt, sie wären da. Und dieses erinnerte Wissen um die beiden Frauen war es, an das sich das endgültige, traurige Wahrbild anschloß, das Eugen in den Folgejahren tausendmal heimsuchen sollte. Er und Starwick waren aus einer der Bars gekommen, die mit ihrer Grelle ins Dunkel auf dem langgestreckten, steilansteigenden Hügel barsten, und nun torkelten die beiden an geschlossenen Schaufenstern und alten dunklen Häusern entlang der grellen Einladung des nächsten Ausschanks entgegen.

Plötzlich wußte Eugen, Elinor und Ann wären bestimmt hinter ihnen. Er wandte sich auf einen Augenblick um, und da sah er sie, wie sie langsam hinter ihm und Starwick hergingen, – allein, geduldig, seltsam ausdauernd. Die lange, stille, nächtliche Straße, zu beiden Seiten steil eingefaßt von alten Häusern, einige davon mit heruntergelass'nen Schaufensterläden, – und auf dieser Straße die Gestalten der beiden Frauen, die langsam im Dunkeln hinter Starwick und ihm hergingen,– – dieses Bild erschien Eugen in späteren Jahren wie eine leidvolle Legende dessen, was aus dem Leben dieser beiden Frauen werden sollte, was aus so vielen Leben überhaupt wird. Dieses Bild brannte ihm im Gedächtnis mit einem trauervollen, dunklen, heimsucherischen Glanz, es löste sich in der Tat ab von den Namen, den Personen, dem identischen Vorfall und stand für etwas Wesentliches, Immerdardauerndes, Unwandelbares, – es wurde ein Daseinswahrbild fruchtloser Liebe und vergeudeter Hingabe, Wahrbild der Liebe, die zu nichts führt, des schönen Lebens, das sich verzehren und zerrütten muß in der brachen Zuneigung zu einer verlornen Seele, zu einem kalten, unerwidernden Herzen. Dies alles nämlich war trauervoll ins Wesen dieses Bilds gewirkt und wurde nun lesbar in den ruhigen, anmutigen, liebenswerten Gestalten der beiden Frauen, die – so stark, so geduldig, so unendlich treu – langsam hinter zwei betrunkenen Burschen hergingen auf einer schiefen, abschüssigen Straße und in der Leere der Nacht.

Plötzlich grellte das Wahrbild über in die Struktur harter Aktualität: – wieder eine Bar, ringsum heiseres Lachen, hohe Sanguinikerstimmen und sofort das Schema nachtnarbiger, nachtgreller, nachtbleicher Gesichter, – Huren, Taxifahrer, Neger und diese andern, namenlosen, unverkennbaren Existenzen, die von irgendwoher, Gott weiß woher, kommen, die irgendwie, Gott weiß wie, leben, die sich am Morgen in unbekannte Zellen zurückziehn und die nur hier in der heillosen Alchimistenwerkstatt der Nacht ein Dasein fristen, ein Dasein, das kurz wie das der Motten, unheimlich wie der Blick aus Schlangenaugen ist.

Eugen fand sich selber wieder, als er, schwer auf dem Zinkblech des Schanktischs lehnend, ein paar weiße, schlaff-aussehende Männerarme, die schmutzige Schürze, das schmutzige Hemd, das schmutzig-übernächtige Gesicht und die dunklen, mißtrauischen Augen des Barkellners anstarrte. Heisere Stimmen, Rufe, Flüche und Gelächter umschwirrten und umdröhnten ihn, und plötzlich hörte er neben sich Starwicks Stimme, die betrunken, ruhig, unheimlich still sagte:

»Monsieur.« – Die Stille seiner Stimme schnitt wie ein Messer durch den ganzen Schwaden aus Lärm ringsum. – »Monsieur, du feu, s'il vous plaît.«

»Aber gern, monsieur! Warum nicht?« antwortete jemand ruhig darauf. Englisch mit starkem französischem Akzent. Eine drollige, angenehme Stimme.

Eugen drehte sich halb um und sah Starwick, der linkisch nach vorn geneigt, eine Zigarette zwischen den Lippen, vor einem jungen Franzosen stand, der ihm aufmerksam seine brennende Zigarette entgegenhielt und ihm so Feuer gab. Starwicks Zigarette ging schließlich an, er paffte unbeholfen, richtete sich wieder auf, lüftete den Hut zum Gruße und bedankte sich mit betrunken-ernster Gewichtigkeit:

»Merci. Vous êtes bien gentil.«

»Aber wofür denn?« sagte der junge Franzose wiederum drollig und mit einem leichten Achselzucken. »Das ist nichts.«

Und als Starwick nun anfing, ihn mit ernsten, betrunkenen Augen anzusehen, gab der Franzose den Blick zurück mit einem Blick, der vollkommen gesammelt, freundlich, gut gelaunt und drollig fragend war.

»Monsieur?« sagte er höflich, als Starwick ihn weiter anstarrte.

»Ich glaube«, sagte Starwick langsam in seiner merkwürdigen manierierten, beinah weibisch klingenden Stimme, »ich glaube, ich mag Sie sehr gern. Sie sind ein sehr gütiger, ein sehr freigiebiger Mensch und insgesamt eine sehr großartige Person. Ich bin Ihnen enorm dankbar.«

»Aber«, sagte der Franzose drollig überrascht und zog leichterstaunt die Schulter hoch. »Isch 'abbe nix getann fir Sie. Sie verlangenn nach du feu, nach Feuerr – und isch Ihnenn es gebbe. Freit mich, wenn Sie das habenn gerrn, – aber –« Wieder zuckte er die Achseln mit einem zynischen, aber ungemein gewinnenden Humor. »– so serr großartisch ist das nicht.«

Er war ein junger Mensch, bestimmt nicht über dreißig, ein wenig mehr als mittelgroß, von schlanker, nervös behender Gestalt und mit einem schmalen Gesicht mit ausgesprochen gallischen Zügen. Es war ein angenehmes, sehr gewinnendes Gesicht, eine scharf zynische Intelligenz war in ihm ausgedrückt, und der dünne Mund war ganz lebendig von einem humorvollen Weltverständnis, von jenem witzigen, höflich zynischen Unglauben der französischen Rasse, und auch der Verkehrston, die Gebärdung und überhaupt alles an diesem Mann war beredt von diesem Unglauben der Rasse, einer Eigenschaft, die sich vollkommen höflich äußert, die spitzen Augenbrauen hochgestellt und ein verbindliches: »So? Glauben Sie?« sagt, aber die Feststellung ohne ihr beizupflichten annimmt und so – zwar ohne Einwand und Verwahrung, aber auch ohne Zustimmung – höflich bleibt.

Der Mann war angezogen, wie viele junge Franzosen damals angezogen waren; es war dies ein Stil, der das Apachenhafte mit bunten, billigen Zutaten der damaligen Herrenmode zusammenbrachte. Seine Kleider waren nett, aber billig gearbeitet. Er trug einen Filzhut, dessen breiter Rand nach der Pariser Fasson an den Seiten hochgekrempt war, einen Mantel, der an den Schultern auswattiert und um die Taille scharf eingeschnitten war; die Hosen hingen kurz und sahen zu knapp aus, weil sie kaum bis an den oberen Rand der Schuhe reichten. Er trug Gamaschen und einen bunten, ziemlich auffallenden Schal, der lose geknebelt war wie eine Krawatte und Hemd, Kragen und Halsbinde völlig verdeckte. Er rauchte eine Zigarette: er zog den Rauch langsam, süchtig, kennerisch ein, die Lider gesenkt und die dünnen Lippen grausam und bitter verzogen, was seinem scharf= zügigen Gesicht einen finster apachenhaften Ausdruck verlieh.

Starwick rief nun mit einer hohen betrunknen Stimme im Ton leidenschaftlicher Versicherung aus:

»Aber ja! Ja! Ja! – Sie sind eine großartige Person – eine ganz tolle Person – Ich mag sie enorm gern ...«

»Freut mich«, sagte der Franzose höflich und zuckte wiederum beinah unmerklich die Achseln.

»Aber ja! Sie sind mein Freund!« rief Starwick leidenschaftlich. »Ich mag Sie. Sie müssen mit mir trinken.«

»Wenn Sie wollenn ... freilich!« Der Franzose, höflich einverstanden, wandte sich an den schmierigen Barkeeper, der die drei unentwegt aus dunklen, mißtrauischen Augen angestarrt hatte, und bestellte mit harter, scharfer Stimme: »Une fine.« Er wandte sich fragend an Eugen: »Und Sie Monsieur? Nehmen Sie auch noch einen?«

»Nein, jetzt nicht.« Eugens Glas war noch nicht leer. »Wir – wir haben beide schon was zu trinken gehabt.«

»Sehe ich«, sagte der Franzose höflich, aber mit einer schnellaufflackernden, zynischen Heiterkeit auf den dünnen Lippen, wie sie keiner Ausdeutung bedurfte. Er hob sein Glas, sagte höflich:

»A votre santé, messieurs!« und trank.

»Hören Sie!« rief Starwick. »Nun sind Sie unser Freund und müssen uns bei Vornamen nennen. Ich heiße Frank, er heißt Eugen. Und Sie?«

»Isch heiss Alec«, sagte der junge Franzose höflich. »So werde isch gerufenn.«

»Das ist ja vollkommen!« rief Starwick begeistert. »Ein prächtiger Name! Ein wunderbarer Name!« Er wandte sich an den schmierigen Barkeeper mit dem häßlichen Blick: »Ecoutez! Je pawnse qu'il faut encore du cognac«, erklärte er betrunken und machte eine wirre benebelte Gebärde mit dem Arm. »Encore du cognac, s'il vous plaît!« Während der Barkeeper stillschweigend aus der Flasche, die auf dem Schanktisch stand, die drei Gläser füllte, wandte sich Starwick in einem gefährlichen Heiterkeitsausbruch an Alec und schrie: »Cognac auf immer, Alec! Cognac für Sie und mich und für uns alle auf immer! Nichts wie Trunkenheit, herrliche Trunkenheit, göttliche Dichtertrunkenheit auf immer!«

»Wenn Sie wollenn«, sagte Alec mit einem höflich ergebnen Achselzucken.

Es war vier Uhr, als sie aufbrachen. Arm in Arm torkelten sie hinaus auf die Straße, Starwick stützte sich schwer auf Alec und schrie besoffen:

»Nous sommes des amis! Nous sommes des amis éternels! Mais oui! Mais oui!«

Die ganze dunkle und stumme Straße hallte wider von seinem besoffnen Geschrei.

»Alec et moi, nous sommes des frères, nous sommes des artistes! Nichts soll uns trennen! Non! Jamais! Jamais!«

Ein Taxi, das ein paar Häuser weiter im Dunkel gewartet hatte, fuhr nun schnell vor und hielt am Rinnstein. Ann und Elinor saßen drinnen. Elinor machte die Tür auf und sagte gütig:

»Frank, komm! Steig jetzt ein! Wir fahren heim.«

»Mais jamais! Jamais!« gellte Starwick hysterisch. »Ich geh nirgends hin ohne Alec! Wir sind Brüder – Freunde – er hat eine Dichterseele.«

»Sei doch kein Blödel, Frank!« ermahnte ihn Elinor. »Du bist betrunken, also steig jetzt in das Taxi da, und wir fahren heim.« Sie sprach leis, aber es war etwas Klares, Gebieterisches in ihrer Stimme.

»Mais oui!« schrie Starwick. »Je suis ivre! I am drunk! Ich werde stets betrunken sein. Trunkenheit auf immer für Alec und mich!«

»Hören Sie mal«, sagte Elinor leis und verbindlich zu dem Franzosen. »Könnten Sie nicht bitte weggehn und ihn allein lassen? Er ist so betrunken, daß er nicht weiß, was er tut; er muß wirklich jetzt nach Hause.«

»Aber freilich, madame«, sagte Alec höflich. »Ich geh schon.« Er wandte sich an Starwick und sprach ruhig mit einem dünnen, gewinnenden Lächeln: »Ich glaub', Frank, es ist besser, wenn Du jetzt heimgehst, meinst Du nicht?«

»Aber nein! Aber nein!« schrie Starwick leidenschaftlich. »Ich geh nirgends hin ohne Alec! ... Alec!« rief er und klammerte sich mit der Verzweiflung eines Betrunkenen an den Franzosen. »Du darfst nicht gehn! Du sollst nicht gehn! Du kannst mich nicht allein lassen!«

»Morgen vielleicht«, sagte Alec lächelnd. »Wär es nicht bessehr, wenn wir morgen zusammen gehn? Ich glaub', dann wird es Dir viel bessehr sein.«

»Nein! Nein!« schrie Starwick versessen. »Jetzt! Jetzt! Alec! Du kannst mich nicht allein lassen! Wir sind Brüder! Wir müssen einander alles erzählen ... Du mußt mir alles zeigen, was Du kennst, was Du gesehn hast ... mußt mich Opiumrauchen lernen, mich dorthin mitnehmen, wo die Opiumraucher hingehn ... Alec! Alec! J'ai la nostalgie pour la boue ...«

»Oh, Frank, hör' doch auf mit diesem blöden Gerede! Steig ein, komm, wir fahren heim!«

»– Aber nein! Ich geh nicht mit ohne Alec! Aber nein! Alec und ich gehn zusammen! Er hat versprochen, mir ein paar Sachen zu zeigen, die er kennt ... die dunklen Mysterien! Die unteren Tiefen!« ereiferte sich Starwick schrill.

»Oh, Frank, um Gottes willen, jetzt steig doch ein! Stell' Dich doch nicht so albern an!«

»– Aber nein! Ich geh nicht ohne Alec. Er muß mitkommen, er will mir ein paar Sachen zeigen ...«

»Aber ich werde sie Dir ja zeigen, Frank!« sagte Alec gewandt. »Nur, heut nacht, – nein! non!« Er sprach mit fester Stimme, machte eine entschiedne Gebärde. »Es ist ausgeschlossen. Ich warte 'ier auf jemand, den ich treffenn muß. Isch'abe Verrabredung, – ja! Morgenn, wenn Du willst, treffen wir uns 'ier! Heut nacht, – non!« Seine Stimme war hart und scharf im Ton der unwiderruflichen Absage. »Isch kann nicht. Ausgeschlossenn.«

Nach unendlichem Bitten und gutem Zureden und nachdem Alec ihm fest versprochen hatte, er würde ihn nächste Nacht auf einen Bummel durch die »unteren Tiefen« mitnehmen, war es schließlich so weit, daß Starwick einstieg. Aber dann unterwegs, als sie den Hügel hinunterfuhren, quer durch Paris, durch die dunklen, stillen Straßen und über die Seine ins Quartier Latin, hörte Starwick nicht auf, sich wie ein Verrückter in Lobeserhebungen über Alec zu ergehn, die andern seiner ewigen Freundschaft mit Alec zu versichern, von dem ihn nun nichts mehr trennen könne. Schnell bog das Taxi in die Rue des Beaux Arts und hielt vor Eugens Hotel. Nervös ungeduldig warteten die beiden Frauen darauf, daß Eugen ausstiege, Elinor drückte ihm schnell den Arm mit den Worten:

»Gut Nacht, Lieber. Wiedersehn morgen früh. Vergiß nicht, daß wir nach Reims fahren!«

Aber als Eugen ausstieg, war ihm Starwick gefolgt. Starwick rannte betrunken nach der Straßenecke, er schlug mit seinem Spazierstock auf die Rolläden vor den Schaufenstern und schrie so laut er nur konnte:

»Alec! Alec! Où est Alec? Alec! Alec! Mon ami Alec! Où êtes-vous?«

Eugen rannte hinter Starwick her und holte ihn ein, als er gerade um die Ecke der Rue Bonaparte verschwand und in Richtung auf die Seine zurückgehn wollte. Mit gutem Zureden, hauptsächlich aber mit reiner Körperkraft brachte er Starwick zurück ins Taxi, dessen Chauffeur schnell rückwärtsfahrend mit der Verfolgung Schritt gehalten hatte. Eugen schlug die Tür hinter dem Rasenden zu, und als das Taxi abfuhr, hörte er durch einen Nebel von Betrunkenheit Elinors schnelles: »Dank Dir, Lieberchen ... hast Dich glänzend benommen ... morgen ...« und Starwicks Toben: »Alec! Alec! Wo ist Alec?«

Schnell fuhr der Wagen auf der stillen, leeren Straße davon, dem schmalen Band, das ein paar Laternen dürftig beleuchteten, das von hohen, alten Häusern mit geschlossenen Fensterläden steileingefaßt war. Eugen ging zurück zu seinem Hotel, läutete die Nachtglocke und wurde eingelassen. Er wohnte fünf Treppen hoch, und als er den gefährlichen Anstieg mit seinen vielen Wendungen stolpernd bewerkstelligte, sah er wie in einer Momentaufnahme des Bewußtseins den kleinen Hausmeister und dessen Frau, das aus seinem ewig gestörten Schlaf aufgeschreckte Paar, das sich nun in einer Art Schutzumarmung umklammert hielt und aus dem elenden Alkoven, wo es nächtigte, ihm nachsah, als er die Stufen hinauftaumelte, – eine Augenblicksschau von zwei bleichen, hageren Gesichtern und erschreckten Augen.

Eugen kletterte die gewundene Treppenflucht hinan, ließ sich in sein Zimmer ein, knipste das Licht an und warf sich sofort, von der Betrunkenheit stumpfsinnig erschöpft, auf sein Bett.

Ihm schien, er hätte da noch keine fünf Minuten gelegen, als er drunten auf der Straße Starwick hörte, der mit dem Spazierstock auf die Tür schlug und besoffen die Namen Eugen und Alec schrie. Eine Minute später hörte Eugen, daß Starwick die Treppe herauf gestrauchelt kam. Eugen stand auf, öffnete die Tür und fing Starwick gerade beim Hereintaumeln in seinen Armen auf. Starwick tobte, er war vollkommen von Sinnen und sich seiner Handlung nicht länger bewußt. Er fing an, mit seinem Stock auf das Bett loszudreschen und zu schreien:

»Da! – Und da! – Und da! – Raus, raus, verdammter Fleck und mach ein Ende mit Dir ... Der Fremdling – der, den ich nie kannte – der Fremdling bist Du geworden – raus! Raus! Raus!«

Er wandte sich an Eugen, lugte ihn mit versoffnen, blutunterlaufenen Augen an und fragte:

»Wer bist Du? – Bist Du der Fremdling? – Bist Du der, den ich nie kannte? – Oder bist Du ...?« Seine Stimme ging in ein Sabbern über, er sank in einen Stuhl und seufzte. Und dann stand er doch wieder auf, blickte sich wild um, schlug abermals mit seinem Stock auf das Bett und schrie laut:

»Wo ist Eugen? Wo ist der Eugen, den ich kannte? – Wo? – Wo? – Wo?« Er torkelte zur Tür, riß sie auf und kreischte: »Alec! Wo bist Du?«

Er torkelte hinaus auf den Vorplatz, und da stand er einen Augenblick sehr gefährlich am Geländer und stierte mit schwankem Blick in die schwindelnde Tiefe des Treppenhauses. Eugen sprang ihm mit einem Satz nach, packte ihn, riß ihn zurück auf die Stiege, und nun fielen sie, taumelten sie zusammen die Treppe, die ganze, fünf Stockwerk hohe Treppe hinunter bis ins Erdgeschoß. Es war eine Reise so wahnwitzig und krampfig, wie man sie nur in Alpträumen erlebt, ein Abrutsch, dessen sich Eugen später wie einer Irrsinnsabfahrt auf einem Korkziehergewinde entsann, eine Abfahrt, unterbrochen durch blindes Hintaumeln an krachende Geländer, begleitet vom Geratter von Starwicks Spazierstock an den Geländerstangen, von blinden Spreiz- und Stolpergebärden und dem Auftauchen von verschwommenen Gesichtern auf jedem Treppenabsatz, denn dort warteten die nüchternen Hausgäste des Monsieur Gely in atemloser Stille in ihren offenen Zimmertüren. Die beiden langten schließlich im Erdgeschoß an unter so allgemeinem Gott sei Dank und nach solchen Stoßgebeten für ihre Sicherheit, wie sie in Gely's Hotel bestimmt nie zuvor vernommen worden waren.

Ein mächtiger, ungeheurer und einhelliger Erleichterungsseufzer rauschte auf im dunklen Steilschacht des Treppenhauses. Aber noch lag eine weitere Gefahr vor den beiden. Am Fuß der Treppe stand eine monströse, anderthalb Meter hohe Vase, die, nach ihrem Glanz zu schließen und nach der liebenden Fürsorge, mit der sie täglich von der Hausmagd Marie poliert wurde, der Stolz des Etablissements sein mußte. Starwick torkelte im Vorbeigehn gegen das Postament, die Vase wackelte bedenklich, und als sie gerade langsam am Umkippen war, hörte Eugen Madame Gely's Stoßseufzer und deren leises: »Mon Dieu! Ça tombe, ça tombe!« und dann ein lautes, vereintes »Ah-h-h!« der Dankbarkeit, als er die Vase mit beiden Händen auffing und sie sacht und sicher auf ihren Platz zurückstellte mit einem inneren Siegesgefühl, wie es etwa ein Luftakrobat empfinden mag, wenn er gerade nach dem Sprung ins Leere mit den Händen die Stange am fliegenden Trapez gepackt hat. Als er aufblickte, sah er den alten Gely und dessen Frau mit fetten, bestürzten Gesichtern aus ihrer Wohnung herausgucken und auch das Hausmeisterehepaar, das mit angsthellen Augen hinter den Vorhängen seines Verstecks lugte.

Endlich waren sie wieder draußen auf der Straße. In der Rue Bonaparte riefen sie ein vorbeikommendes Taxi an. Als sie wieder auf dem Montmartre ankamen, fing hinter der Kirche von Sacré Cœur schon der Morgen zu grauen an. Nachdem sie noch ein paar Gläser starken, schlechten Cognacs getrunken hatten, nahmen sie wieder ein Taxi und sausten durch Paris zurück. Als sie schließlich im Atelier ankamen, war es bereits ganz Tag geworden.

Die beiden Frauen waren auf. Sie hatten gewartet. Starwick murmelte etwas, hielt sich die Hand vor den Mund, eilte ins Badezimmer und spie. Als er sich ausgekotzt hatte, wankte er ins Atelier zurück, taumelte auf Anns Couch zu, fiel wie ein Sack auf das Lager und war im selben Augenblick schon in einen tiefen, ohnmächtigen Schlaf gesunken.

Elinor betrachtete ihn eine Weile mit einem gleichzeitig belustigten und nachdenklichen Gesicht. »Und nun«, erklärte sie vergnügt, »gilt's, ihn aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken.« Sie lächelte ihr feines, helles Lächeln, aber die Linien um ihren Mund waren grimmig gespannt, und ihre Augen waren hart. Sie trat vor die Couch hin, und herabblickend auf Starwicks ausgereckte, beschmutzte Gestalt, flötete sie süß: »Steh auf, Darling! Frühstückszeit!«

Er stöhnte matt und legte sich auf die andre Seite.

»Auf! Auf! Auf! Mein Lamm!« Der Ton säuselte zwar lieblich, aber die Hand, die Starwick nun am Kragen packte und ihn hochriß, diese Hand war keineswegs sanft. »Wir warten auf Dich, Liebling! Es ist Morgen, die Stunde naht, beinah ist's schon Zeit! Bedenk' doch, mein Holder, daß wir um neun nach Reims fahren!«

»O Gott!« stöhnte Starwick elend. »Verlang das nicht von mir. Alles, nur das nicht. Ich kann nicht. Ich will überall mit Dir hingehn, wenn Du mich bloß bis morgen in Ruhe läßt.« Er ließ sich wieder zurückfallen.

»Tut mir leid, mein Köstlicher«, sagte sie in einem leichten, vergnügten Ton, aber hart wie Granit. »Aber nun ist es zu spät. Du hättest eher dran denken sollen. Unsre Pläne sind gemacht ... und Du ...« – plötzlich wurde auch ihr Ton hart, furchterregend hart –, »... und Du kommst mit.« Sie blickte ihn noch ein Weilchen mit harten Augen an, dann beugte sie sich vor, packte ihn am Kragen und riß ihn mit rascher Hand wieder hoch.

»Francis«, fuhr sie ihn streng an, »reiß Dich jetzt zusammen und steh auf! Wir denken nicht dran, Deinen Unsinn länger mitzumachen!«

Er stöhnte matt und stand taumelnd auf. Er schien am Zusammenbrechen, seine Erscheinung war so mitleiderregend, daß Ann, die gerade in diesem Augenblick aus dem Badezimmer kam, bei seinem Anblick vor hitziger Teilnahme errötete und Elinor in anklägerischem Zorn zurief:

»Oh, laß ihn in Ruh! Laß ihn schlafen, wenn er will! Siehst Du nicht, daß er halbtot ist? Warum sollten wir ihn mit nach Reims zerren, wenn ihm nicht danach zumut ist? Ohnehin, wir können ja die Fahrt auf morgen verschieben. Was macht's denn aus, ob wir heut fahren oder morgen?«

Elinor blieb lächelnd fest und unbeugsam. Sie schüttelte kurz den Kopf und sagte ruhig: »Nein, das gibt's nicht. Hier wird nichts aufgeschoben. Wir fahren heut, wie es geplant ist. Und Mr. Starwick fährt mit. Er mag nun willens sein oder nicht, er mag dort bei Bewußtsein ankommen oder nicht, aber lebendig oder tot, mitfahren muß er.«

Bei dieser unseligen Verkündigung stöhnte Starwick abermals elend auf. Sie wandte sich an ihn, und im Ton gebieterischer Entrüstung sagte sie:

»Frank! Du mußt jetzt durchhalten! Da kannst Du Dich nicht mehr 'rausziehn! Wenn es Dir nicht gut ist, dann ist das freilich nicht angenehm, aber deswegen mußt Du erst recht durchhalten! Du hast seit einer Woche gewußt, daß wir heut früh fahren, – wenn Du daraufhin die letzte Nacht vor der Fahrt damit verbringst, Dich durch sämtliche Schnapsbuden auf dem Montmartre durchzusaufen, dann ist niemand zu tadeln außer Dir selbst! Diesmal kannst und wirst Du uns nicht aufsitzen lassen.«

Und gestählt und geweckt von der Drohung in ihrem Ton, – diesem drohenden Fordern, das man so oft von Leuten hört, die ihr ganzes Leben zum Teufel gehn lassen, die, weil ihnen die Kraft gebricht, größere und weitere Konsequenzen auf sich zu nehmen, sich versessen auf Unwichtigkeiten versteifen – hob Starwick den Kopf, sah Elinor mit ärgerlichen, blutunterlaufenen Augen an und sagte ruhig:

»Sehr wohl, ich werde mitgehn. Aber ich nehm Dir's sehr übel, daß Du es verlangst!«

»Schon recht, mein Lieber«, sagte sie ruhig. »Wenn Du übelnimmst, nimmst Du übel – Strich drunter! Bloß, wenn man seinen Freunden was verspricht, dann erwarten diese, daß ihnen das Versprechen gehalten wird.«

»Ace«, sprach Starwick kalt. »Durchaus.«

»Und nun, Frank«, sprach sie etwas gütiger, »warum gehst Du nicht ins Badezimmer und machst Dich ein wenig frisch? Ein bißchen kaltes Wasser über Kopf und Schultern, das dürfte Dir unendlich guttun.« Sie wandte sich an Ann und fragte ruhig: »Bist Du fertig da drinnen?«

»Ja«, sagte Ann bündig. »Es ist in Ordnung. Ich hab' schon alles aufgeputzt.«

Eine Minute lang starrte sie die ältere Freundin mürrisch an, dann platzte sie plötzlich mit ihrem kurzen, zürnenden Lachen heraus:

»Gott!« erklärte sie mit einer üppigen, abgerissenen menschlichen Grobheit, die ihr schön anstand. »So was hab' ich im Leben nicht gesehn! Ich kann nicht verstehn, wie er das Zeug all in sich gehabt haben kann!« Ihre Stimme bebte von einem vollen, schweren, gewissermaßen wütenden Humor. »Es war alles da!« rief sie. »Außer der Spülschüssel!«

Starwick wurde dunkelrot im Gesicht, er blickte Ann an und sagte ruhig, ernst: »Es tut mir leid, Ann. Furchtbar, furchtbar leid.«

»Ach, das ist schon in Ordnung«, sagte sie schnell und mit einer gewissen Zärtlichkeit. »Das bin ich gewohnt. Vergiß nicht, daß ich drei Jahre Lehrzeit in einem Hospital hinter mir hab. Da geht's einem so, daß einem diese Dinge nichts mehr ausmachen.«

»Du bist eine sehr tolle Person«, sagte er langsam und deutlich. »Ich bin Dir schrecklich dankbar.«

Sie wurde rot im Gesicht, wandte sich ab und sagte bündig: »Da, setz Dich, Frank! Es wird Dir gleich besser gehn, wenn Du erst Kaffee getrunken hast. Ich koch' ihn gerade.« Und auf ihre schnelle, vernünftige Art machte sie sich an die Arbeit.

Irgendwie war alles Starke, Großartige und Zärtliche in Anns Wesen aus diesen paar unerheblichen Worten herauszuhören. Wie brüsk und sachlich auch ihre Worte gewesen waren, als sie von der widerlichen Aufgabe, der sie sich gerade unterzogen hatte, sprach, gerade die Bündigkeit dieser Worte und dazu die üppige, menschliche Grobheit in ihrem kurzen, zürnenden Lachen hatten ein Wesen von edler Kraft und Zartheit offenbart, einen Geist, so stark und süß und liebevoll, daß er sich nicht über die schale, tote und snobistische Welt, aus der Ann stammte, sieghaft emporgehoben hatte, sondern auch über die Zimperlichkeit, mit der die meisten Menschen vor einer solchen Aufgabe zurückgeschreckt wären.

Für Starwick stellte Ann das Denkbild gewisser Gottheiten dar, die er aus seinen Kunsterlebnissen kannte: Maya oder eine der großen Erdmütter der Alten oder auch die Göttin des Teilnehmenden Mitleids der Chinesen, mit der er sie oft verglich.

Für Eugen jedoch war ihre Göttlichkeit weniger mythisch, mehr rassenhaft und weltlich. Sie schien ihm einen Teil von seiner Vision des großen Amerika wahrzumachen, sichtbar und fühlbar die weiblichen Eigenschaften jenes schicksalsschönen, guten und glückseligen Lebens vorzutragen, von dem er von Kind auf geträumt hatte, – den Bau jener verwunschenen Welt anzurufen, von der jeder Amerikaner als Kind geträumt hat. Es ist dies ein Leben, das immer gerade eine Handbreit weit weg ist und das wir augenblicklich greifen und zu unserm eignen machen können, sobald wir das bannende Wort wissen, den Schlüssel finden, der uns die Tür auftut. Es ist dies eine Welt, die aus unserm eignen Blut und unsrer eignen Erde herausgeläutert ist, und die von all den Millionen Lichtern und Wettern unsres Landes das Eigenschaftliche wahrt, und wir wissen, daß sie schön sein wird, diese Welt, und unerträglich seltsam und liebenswert, wenn wir sie finden. Schließlich sah Eugen in Ann auch die Fleischwerdung der ganzen, heimlichen Schönheit Neu-Englands, die andere Seite von des Mannes dunklem Herzen, die begrabne Lieblichkeit, nach der es alle Männer verlangt.


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