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XLVII

In jenem ersten Jahr in New York war er dreiundzwanzig. Nach den Monaten des irren Umhertreibens, der Betrunkenheit und der Verhaftung waren seine Geldquellen am Versiegen, und die achtzehnhundert Dollars Jahresgehalt, die er als Instruktor an der Universität bekam, dünkten ihn ein fürstlicher Lohn – ein unglaublicher Gunstbeweis des Schicksals.

Obschon er diese Anstellung auf einem der üblichen Wege erlangt hatte – er war von der Lehrernachweisstelle der Harvard-Universität vorgeschlagen und von einigen seiner Professoren brieflich empfohlen worden –, so quälte ihn doch unablässig der Gedanke, daß er nicht tauge und nicht genug wisse. Er befürchtete ständig, seine Unzulänglichkeit würde entdeckt und er selbst fristlos entlassen werden.

Er war in ein billiges Hotel in der Nähe der Universität gezogen. Wenn er nachts in seiner kleinen Wohnzelle zu Bett ging, dachte er an die Klasse, vor der er am nächsten Tag wiederum stehen würde, und das kalte Giftmaul der Furcht fraß ihm dann am Herzen und in den Eingeweiden. Wenn die Stunde des Unterrichts näher rückte, begann er zu zittern wie ein Kranker. Die Etappen des Wegs – von der Wohnzelle zum Fahrstuhl, aus der Sterilität der mit Kacheln belegten Hotelhalle hinaus in das staubdurchwirbelte Licht und die Heftigkeit der offnen Straße, von dort in die gellenden, häßlichen Korridore der Universität, wo man mit Leib und Seele ertrank in den schwärmenden, schreienden, keifenden Fluten bernsteindunklen Judenfleischs, von dort in das Klassenzimmer, das mit den Korridoren verglichen ein Sanktuarium war, weil sich in ihm nur eine kleinere Horde aufhielt, dreißig oder vierzig lachende, schreiende, kreischende Juden und Jüdinnen im dicken Dunst ihrer heißen, schwärzlichen Körpergerüche, ihrem starken Weibergeruch von Spalt, Scheide, Achselhöhle und billigem Parfüm, ihrem harten Männergeruch, der ranzig, schal und sauer war – die Etappen dieses Wegs legte Eugen in einem Zustand schwindliger Benommenheit zurück, Schritt für Schritt tat er mit Angst und Entsetzen, mit beklommenem Herzen und schwimmendem Blick; es war ihm speiübel und so grauenhaft zumut, wie es einem Verurteilten auf dem Gang zum elektrischen Stuhl sein mag. Täglich spürte er aufs neue unerklärliche Schicksalsdrohungen, ein nahes, namenloses Verhängnis, eine unmittelbare Katastrophe in der Luft.

Woher ihn diese Ängste und bösen Ahnungen eigentlich bedrängten, hätte er nicht zu sagen vermocht. Es kam vor, daß die Klasse mutwillig und zuchtlos aufbegehrte, daß er vierzig hämischen, zänkischen, finster höhnischen Gesichtern gegenüberstand, – Gesichtern von Studenten und Studentinnen, die seine Unerfahrenheit spürten und loslärmten, ganz so wie Rosse es merken, wenn eine unsichre Hand sie lenkt, und durchgehen. Sein Entsetzen wurde dann erhöht durch die Vorstellung, gerade in so einem Augenblick könne der Dekan der Fachschaft eintreten oder der Superintendent, der die Arbeit und die Methoden der Instruktoren zu überwachen hatte, ein Geschöpf mit einem schiefen, vertrockneten Gesicht, einem konvulsiven Adamsapfel, einer Denkungsart von obszönstem Puritanismus und der Angewohnheit, beim Sprechen den hageren Bauch und die Lenden erotisch zu winden.

Ähnliche Vorstellungen von Schimpf und Schande drängten sich ihm zu Tausenden ins Bewußtsein. Gleichzeitig aber begann ein störrischer Groll in ihm zu glosen, ein Haß auf die namenlose, unbegründete, irrsinnige Furcht. Was war diese Furcht, die wie vom Himmel herab auf die Stadt drückte, die in alle Bahnen des Lebens einbrach, die mit gellem Mißklang die Musik des gesunden Herzschlags und des kreisenden Blutes störte, die wie Gift die Säfte durchsetzte, die ins Gedärm kroch und die Lenden der Männer verdorren machte? Was war dieser graue, lippenlose Schatten von Angst und Bangigkeit, der ständig auf allem lag, der allenthalben lesbar war in den Gesichtern, den Bewegungen, den verhetzten Blicken der Leute, die die Straßen beschwärmten? Was war diese Macht, die den Menschen die Freude stahl, die sie um das siegesmächtig brausende Weltlied betrog, die sie um ihr Leben und ihres Daseins Herrlichkeit geprellt in den Erdenstaub trieb?

Überall im Stadtgetriebe merkte Eugen, wie die Furcht, dieser große Schwindel, die Menschen um ihr Leben betrog, sie an ihrem Leben bedrohte. Tausend Bilder von Grausamkeit und Rohheit, von Feigheit und Ehrlosigkeit ließen sich da beobachten. Als die hohe, weinfunkelnde Feiermusik des Herbsts, von Tod und Leben, von Abschied und Wiederkunft dröhnend, verklungen war und der stumpfe, harte, mürrischgraue Winter einzog, konnte man feststellen, wie Freude und Hoffnung im Leben der Stadt starben und wie das Barometer des Hasses, der Furcht und der Giftigkeit stieg. Man sah das in den Gesichtern der Leute, sah wie es ihnen am Fleisch zehrte und ihnen das Blut verseuchte. In die Augen der Instruktoren auf der Universität kam ein böses Glitzen, ihre Haut war gelb und grün von Giften, die Luft um sie war wie durchwebt von den dichten Fadengespinsten des Neids und der Gehässigkeit. Sie magerten ab vor Argwohn, wurden krank vor Mißgunst, weil ein andrer befördert wurde, weil eines anderen Gedicht in einer Zeitschrift stand, weil ein andrer gut gegessen und getrunken oder bei einer schönen Frau gelegen hatte, weil ein andrer lebte und nicht starb. Sie waren mit dem Haß der Angst geladen auf Professoren und Fakultätsdekane. Sie zitterten und erblaßten, wenn der Mann, der sie angestellt hatte, bloß vorüberkam, und war der Mann dann vorbeigegangen, dann wisperten sie mit bebenden Lippen: »War er schon bei Ihnen? ... Hat er was wegen nächstem Jahr gesagt? ... Stellt er sie nächstes Jahr wieder ein? ... Hat er was über mich gesagt wegen nächstem Jahr? ...« Wenn der Mann zu ihnen kam, grüßten sie ihn mit untertänigster Demut, sobald er den Rücken gekehrt hatte, kicherten sie aufs unanständigste über ihn. Untereinander lächelten und spotteten sie mit haßglitzenden Augen. Keiner sprach ein offenes Wort. Sie ergingen sich in verlogenen, zweideutig-spitzen Redensarten, sie heuchelten, schwindelten, betrogen, sie schmachteten in der Gifthitze ihrer furchtsamen Gehässigkeit, sie atmeten Haßluft in ihre giftigen Lungen.

Als es Winter geworden war, hörte Eugen auf den Straßen tausendmal tausend Worte von Haß und Tod, höhnisches Gefauch, leere Verwünschung, Worte des finstersten Mißtrauens und der argen Verleumdung. Er erkannte, wie die Gemütsvergiftung am Werk war im Leben von Millionen Leuten, er sah, mit welcher Verderbtheit und Schadenfreude alles aufgegriffen wurde, was mit der Entehrung, der Niederlage oder dem Kummer eines Menschen zu tun hatte, er erlebte, mit welch stichelndem Hohn jede Tat begrüßt ward, die für Mitgefühl, Ehrlichkeit oder Erbarmen zeugte. Nachts in den glitzernden, unfruchtbaren, schmutzigen Straßen fiel das schnöde Licht fahl auf die schwärzlich bleichen Gesichter einer Million Ratten des Fleischs, und tags, in der trüben, haßgeladnen Universitätsluft lag das grelle, erbarmungslose Licht auf den giftigen Gesichtern der Ratten des Geistes.

In Eugens Herz begann ein störrisch-wütiger Groll zu glühn und zu glosen, – ein maßloser Haß auf den Haß, eine Angst vor der Angst, ein mörderisch-heftiges Begehren, die Gespenster des Tods und der Unfruchtbarkeit zu erdrosseln. Sein Widerstand, zunächst noch passiv, wurde täglich erbitterter und kampflustiger, wenn er mit ansah, wie Menschen sich von den lebendigen Ratten überwinden, von der hochstaplerischen Furcht kleinkriegen ließen. Und Schritt für Schritt wurde er in seinem Widerstand bestärkt durch eine felsenfeste Überzeugung, durch ein hartnäckiges, unwandelbares Gedächtnis, das nun unglaublich geschärft erwachte und aus den Meerestiefen der Vergangenheit die glänzenden Fische von Millionen lebendigen Augenblicken im Netz heraufbrachte. Das Rauschen von Waldbächen in der Nacht, das Rascheln von kühlen Maishalmen im Dunkel, das Donnern großer Räder auf den Schienen, der gleichmäßig-ruhige Ton von Stimmen nachts auf einem Kleinstadtbahnhof, der Stachel der Lust und der lautlose Schrei der Verzückung eines Jungen vom Lande, wenn er, nachts wachliegend in der oberen Schlafstatt der Pullmankoje, über dem Schütterstoß der Räder, die ihn zum erstenmal der Weltstadt entgegentragen, hört, wie sich die milchigen Schenkel der schönen Frau in der unteren Schlafstatt sehnsüchtig sinnenschwer im Schlafe regen, – – Dinge wie diese, das wußte Eugen, hatte es auf Erden gegeben, Dinge wie diese gab es allem Hohnlachen zum Trotz, Dinge wie diese würde es immer geben. Und solche Tatsachen, zusammen mit tausend andern ihrer Art – – dem unglaublichen Zauber der Pfirsichblust im April, dem Geruch von Flüssen nach dem Regen, der unsäglichen Herrlichkeit eines frischergrünten Baums auf einer Stadtstraße in der Frühe eines Maitags erlebt, dem Vogelsang, der allmorgendlich wieder dem Licht entgegenschallt, einem Schrei, einem Blatt, einer vorüberziehenden Wolke – ... Tatsachen, so glänzend wie Heringsschwärme auf blitzender See, so handgreiflich wie Nägel, um mit ihnen das Fell der Falschheit an die Wand zu nageln, so wirklich wie der April und wie alles Magische, wie und wo und was es auch immer sei, ... – solche Tatsachen kamen ihm nun zurück im wutgrellen Licht seines erweckten, unwandelbaren Gedächtnisses.

Ein mörderischer Haß auf die Hasser, die Höhner, die Schwindler, die Betrüger und auf alle die wandelnden Vorgeblichkeiten des Todes stand in ihm auf. Er beschloß, die Phantome der Furcht und der Schande, die ihn so namenlos bedrückten, zu töten. Er gelobte es sich, im Herzen der Fülle keinen Mangel zu leiden, sich die Knöchel nicht blutig zu schlagen an den vier Wänden seiner Wohnzelle, die große Schulter seiner Stärke und Kraft nicht zu brechen in Rammstößen gegen schnöde Mauern und nicht wie ein Verdammter unaufhörlich und fruchtlos auf einer Million Straßen herumzulaufen, auf denen es keine Wendung, keinen Aufenthalt und auch keine Tür zum Eintreten gab. Er wußte, für ihn gäbe es Erde, auf die er den Fuß setzen, Speise, mit der er seinen Hunger stillen, und Trank, mit dem er seinen Durst löschen könne. Er wußte, es gäbe die jubelhafte Wirklichkeit der starken, goldnen Freuden für all die wilde Leidenschaft seines Glaubens und Begehrens. Er schwor sich, daß er letzthin zu Türen und Häfen gelangen würde; er wußte, er würde nicht darben und verderben in der Ödnis; und die giftigen Ratten des Fleisches und des Geistes sollten nie in der Wüste seine Gebeine benagen.

Trotzdem, – das Gefühl, als sei er am Ertrinken und ginge unter im Menschenschwarm, kehrte täglich wieder. Und jeden Tag begann für ihn einer der ältesten und schicksäligsten Kämpfe, der Kampf des Menschen gegen die Masse. Jeden Tag rüstete er sich mit wilder Entschlossenheit und gürtete seinen Geist, ehe er auf die Straße trat, und jeden Tag, geschlagen, gejagt, entsetzt, zitternd zog er sich endlich wieder in die vier Wände seiner Zelle zurück und wußte weiter nichts mehr, als daß er aus einem Mahlstrom kam, einem Mahlstrom von Lärm, Bewegung und Heftigkeit und von lebendigem Gewebe, das gleichsam entstrahlt und entsaftet, das entpersönlicht und charakterlos war, einem Mahlstrom, der auf dem abgetretenen Pflaster wirbelte und strudelte, der sich hinwälzte wie eine Lavaflut aus talgigem Fleisch, dunklen, toten Augen und grauen Filzhüten. Insbesondere aber waren es die grauen Filzhüte, deren er sich dann erinnerte, ... diese am laufenden Band hergestellten sauberen, billigen Kopfbedeckungen aus grauem, gestärktem Filz, alle in derselben Weise getragen, alle im selben Winkel schief aufgesetzt und meistens Gesichter von derselben Talgigkeit beschattend, ... diese Millionen wandellos grauer Punkte, die auf- und untertauchten und sich endlos auf tausend Straßen fortbewegten. Diese auf dem Gewog von Verdruß und Unfruchtbarkeit obenauf schwimmenden grauen Filzhüte waren, so schien ihm, das Wahrzeichen und die Uniform einer Rasse mechanischer Geschöpfe, die dem Wesen nach einen eigentlich unmenschlichen Bestandteil der Stadtsubstanz darstellten, nicht anders wie Stahl, Stein und gebrannter Lehm. Ihm schien in der Tat, diese Geschöpfe wären aus demselben einen Material gemacht, wären mit derselben einen allgemeinen Energie geladen wie die Gebäude, die Tunnels, die Straßen, die Kraftwagen, und gingen vorüber, würden in Tunnels geschoben, in die Straßen getrieben, an einer Stelle weggezogen und an einer andern Stelle aufgehäuft, würden in Portionen und Raten ausgeteilt und gehörten zellenmäßig an eine Million von Bestimmungsorten. Sie kamen ihm vor wie tausend schwärmende, himmelschreiende Haufen von hirnlosen, unwissenden Automaten in einem unverständlich geregelten Riesenbetrieb.

Aber wenn er auch aus diesem wüsten ungleichen Kampf mit den herkulischen Kräften der Weltstadt sich täglich zurückzog, wenn er auch bebend und getroffen und erschöpft wieder in seine Klause kam, so geschah es doch nie mit dem Gefühl der entscheidenden Niederlage oder mit dem Wunsch zur endgültigen Flucht. Sein wütiger Stolz bäumte sich nur noch heftiger auf nach jeder Verwundung, sein Glaube wuchs störrisch an den Widerständen, sein Geist, von Demütigungen übersättigt, spuckte dem Versagen ins Gesicht, seine Seele, dunkel hinabgedrückt auf den Meeresboden blinden Entsetzens, tauchte fauchend von Haß und Trotz wieder auf. Täglich schlug sie ihn, die unsehende, schreckliche Masse, täglich trieb sie ihn in seine Zelle zurück, so betäubt und getroffen von dem wüsten, widerwärtigen, hirnlosen Getös der Straßen, daß er nicht mehr denken, noch fühlen, noch sich entsinnen konnte, und Stund um Stunde dann schwamm seine Seele herauf aus den Meeresdschungeln der Tiefe. Und jede Nacht stellte ihn das mitleidvolle Heilmittel der Dunkelheit wieder her. Um Mitternacht schließlich, in der brütenden Stille, wenn er tiefversunken war, wenn er wie ein Tier im Käfig auf und ab ging, wenn sein Geist sich aufschwang über den Anger des Schlafs, dann hörte er den Herzschlag von sechs Millionen Menschen. In Millionen Zellen lag der Schlaf auf den Gesichtern von sechs Millionen Schläfern, und in der Nacht, im Dunkel, in der lebendigen Stille waren die Schlafgesichter von Snodgrass, Weisberg und O'Hare so fremd und dunkel wie seines. Er sah die Weltstadt mit dem Riesengesträng ihrer tausend Straßen, er hörte das lange, tiefe Tuten der Schiffe vom Hafen, und dann erlebte er die Stadt als ein Ganzes. Er schaute sechs Millionen Schläfer in nachtummauerten Zellen und den Gürtel aus Meer und Strom um die Insel. Er sah dies Bild deutlich, als stünde es geprägt auf einer Goldmünze in seiner Hand, er konnte sich das vorstellen, so einfach wie man sich einen Apfel vorstellen kann. Eine jubelnde, freudige Gewißheit wallte in ihm auf. Er wußte, sein Hunger könne die Erde verschlingen, sein Hirn und sein Auge könnten die Schau von zehntausend Straßen, zehn Millionen Gesichtern in einem Zug hinunterschütten. Er wußte, daß er eines Tags die Masse überwinden und verschlingen würde, daß ein Mensch mehr wäre als eine Menschenmillion, stärker als eine Mauer, größer als ein Tor, höher als ein neunzigstöckiger Turm.

Auf dem wurzellosen Pflaster bedrängte ihn die Menge der Unzähligen, er ertrank in der grauen, gräßlichen Flut, und wie die wiederkehrende Erinnerung an ein Waldvogellied tönte in ihm das Gedächtnis seiner Vorfahren auf, die zwei Jahrhunderte lang allein in der Wildnis gelebt hatten, gestorben waren und begraben lagen, die Gebeine in achtzig verschiedene Richtungen weisend über den Kontinent. Und gleichzeitig schwoll dann jäh eine wilde Entschlossenheit auf in ihm, und er schwor, er werde den Tod und das Nichts und alle Greuel der schnöden, namenlosen Furcht aus dem Felde schlagen. Er schwor es kranken Herzens und bebender Lippe, mit Eingeweiden voll Übelkeit und einem angewiderten Magen, in dem ein trübsalbitterer Kaffee wie säuerliches Spülwasser grollte und knurrte. In jenen Monaten nämlich war jedesmal, wenn der Unterricht bevorstand, sein Gefühl von Angst und Bängnis, von drohendem Ruin und schimpflicher Entehrung so groß, daß es einen verdammungswürdigen Sieg über die reine, gesunde Musik des Fleischs, über die frohlockende Freude von Hunger und Durst davontrug, so vollständig und verwüstend, daß er bereits Stunden zuvor nicht imstand war, einen Bissen zu essen.

So kam es denn, daß er, im Gemüt von tausend schimpflichen, grauenvollen Wahnbildern bedrängt, schlaff und an allen Gliedern schlotternd, angeekelt, krank und gelähmt vor der Klasse stand, daß er von dem drei oder vier Zoll hohen Podium herunter mit glasig-toten Augen auf den Sud und Brodem der Gesichter hinabblickte, einzig und allein belassen mit einem kleinen, klaren, glänzenden Etwas auf dem Grund seines Bewußtseins, einer kleinen, reinen Note der Überzeugung und des Glaubens auf dem Grund dieser grauenhaften Meerestiefe von phantasmagorischem Chaos, von Verlassenheit und Wut. Er versuchte dann in einer Stimme, die ihm selber fern, unwirklich und hohl klang, die Klasse zu beschwichtigen, er begann zu sprechen, und eines neben dem andern, jedes auf dem gewohnten Platz, erkannte er die dunkeln, häßlichen, feixenden Gesichter. Und dann wurde er auch, durchs Fenster blickend, der Gestalten in dem gegenüberliegenden Haus gewahr. In den Gebäuden auf der anderen Seite der Straße waren sweatshops, Werkstätten der Kleiderkonfektionsindustrie, in denen um Hungerlohn gearbeitet wird – die Universität pflegte Jahr um Jahr, eins ums andere dieser berüchtigten sweatshop-buildings aufzukaufen und die Werkstätten als Klassenzimmer einzurichten, weil die Zahl der lärmenden, dunklen Studentenhorden aus Gott weiß was für einem phantastisch blinden Grund in immer höhere Tausende stieg. Und nun sah Eugen drüben die bleichen Gestalten der Schneider mit untergeschlagenen Beinen auf den Tischen sitzen.

Und dann kehrten sie wieder, die alten Worte, die unsterblichen Worte, die todlosen Vogellieder auf der Großstadtstraße – sie klangen leis, fern, versunken unter der Grelle und dem wütigen Krach des Weltstadtlebens, sie klangen zunächst phantastisch und unwirklich in diesen Maschinenwerkstätten des Hirns –, und Eugen sprach zu der Klasse mit den Lippen der Herrick, Donne und Shakespeare von all den Dingen, die sich nie wandeln und auf immerdar dauern.

»›Wenn zur Gesellschaft süßem, stillem Denken / Ich mir Erinnerungen herbefehl ...‹« Kleng-a-leng-a-leng-alengaleng! Heftig wie ein unerwarteter Stoß und hart schepperte die Schelle, die das Ende der Lehrstunde anzeigte. Der erste Schlag war genau aufs letzte Wort der Verszeile gefallen, und als es ausgeläutet hatte, zuckte Eugen zusammen, so heftig aus der mächtigen Bezauberung des Wohlklangs aufgeschreckt, als hätte ihn jemand hinterrücks gepufft. Er blickte ärgerlich und bestürzt von seinem Buch auf. Die Klasse, die gekichert hatte, brach in schallendes Gelächter aus. Sogar Mr. Abraham Jones, der wie gewöhnlich in der dritten Reihe rechter Hand saß, lächelte verdrossen hinter seinen blitzenden Brillengläsern. Eugen verlor vollständig die Selbstbeherrschung. Mit beiden Händen hob er den dicken Shakespeareband hoch und schlug damit auf den Tisch. »Ruhe!« brüllte er, »Ruhe!!« Der Befehl war überflüssig, denn angesichts seiner heftigen Gebärde war die Klasse sofort verstummt. Die Studenten und Studentinnen blickten ihn aus schlau-verhaltenen Gesichtern demütig-dumm und stumpfsinnig-betreten an. Er schämte sich bereits seines Ausbruchs, nahm den schweren Band wieder vom Tisch, blätterte mit zitterndem Finger nach dem dreißigsten Sonett und sagte: »Sie können gleich gehn, nur einen Augenblick noch, ich möchte erst das Gedicht zu Ende lesen.«

Die Klasse ward unruhig, ein leises Protestgemurmel ward vernehmbar. Der bitterlächelnde Abraham Jones schüttelte den Kopf und unterdrückte einen trübselig-gleichgültigen Seufzer. Eugen blickte schnell auf, er überflog die Klasse und sah, wie man sich da unterhielt. In der letzten Reihe saß Miss Sadie Feinberg, den vollen Hals halb nach rechts gedreht, und wisperte aus dem Mundwinkel mit Miss Bessie Weismann. Zur Linken, etwas weiter nach vorn, zischelte der zynische Mr. Sidney Osherofsky hinter vorgehaltener Hand dem Mr. Nathan Shulemowitch schnell etwas zu. Und zur Rechten sprach in gedämpften, aber erregten Gurgellauten Mr. Sol Grebenschik auf den Mr. Sam Vucker ein. Tatsächlich waren fast sämtliche dreißig Leute in der Klasse bereits im Gespräch oder gerade dabei, sich in ein Gespräch einzulassen. Nur Abraham Jones und Mr. Boris Gorewitz blieben getreu. Mr. Boris Gorewitz blieb allzeit getreu. Er saß – seinem Lehrer nah, für dessen Nase allzunah – in der vordersten Reihe! Er schrieb nach. Ward Schönheit offenbart, dann lächelte er schummerig, seine weißen, feuchten Zähne entblößend. Wurde Leidenschaft erwähnt, dann zog er eine strenge Denkermiene und war so tief bewegt, daß er sich die Augengläser putzen mußte. Fragte jemand aus der Klasse etwas Dummes, oder ward eine Meinung geäußert, der er nicht beipflichten konnte, dann lächelte er verachtungsvoll, schüttelte nachdrücklich den Kopf, gab ein ziemlich lautes »Na-na-na-na!« von sich und fuhr sich mit der stupsigen Schmutzpfote heftig-ungeduldig durch das dichte, spröde Kraushaar, das von seiner zwiebelförmigen Stirn wie gestrählt nach rückwärts sproßte. Und wenn Mr. Boris Gorewitz dies tat, dann pflegte ihn Abraham Jones erbost und grausam-höhnisch anzugrinsen, um alsdann zu Eugen gewandt ein leises, geringschätziges »Oho-oho!« zu lachen.

Die Klasse war nun so sehr in Privatunterhaltungen vertieft, daß der Instruktor völlig vergessen und sich kaum jemand um dessen zurechtweisenden Wutblick zu scheren schien. Eugen spürte, wie ihm das Blut dunkel und gewaltsam zu Kopfe schoß, er fing an, vor Zorn zu zittern, er merkte, wie ihm die Stirnadern schwollen. Und komischerweise, so, als wären da außergewöhnliche Intuitionskräfte im Spiel, verstummte die Klasse nun. Selbst dem Mr. Osherofsky fiel allmählich auf, daß sich Mr. Shulemowitchs Gesichtsausdruck veränderte, und zwar deutete das Gesicht zunächst an, ohne daß sich auch nur ein Muskel in ihm merklich verzog, daß der Mr. Shulemowitch dem Mr. Osherofsky nicht länger zuhöre, dann wurde der Ausdruck abweisend und besagte, Mr. Shulemowitch wolle in Ruhe gelassen werden, und als schließlich ein Ausdruck nachdenklicher Sammlung in die Miene kam, hörte Mr. Osherofsky unvermittelt zu reden auf; er wandte sein Gesicht, seine kleinen, hellen Augen huschten schnell nach vorn auf Eugen, und dann blickte er schlau und brav in sein Buch.

Derweilen hatte die in ihre Unterhaltung ganz verstrickte Miss Feinberg, die die Rechtsdrehung ihres Oberkörpers gegen Miss Weismann hin längst zu Ende vollzogen hatte, von ihrer Zuhörerin einen warnenden Rippenstoß empfangen, den ein vielsagendes Hochrücken der Augenbrauen und ein Stirnrunzeln begleiteten. Miss Feinberg drehte sich hierauf sofort mit einem schwerfälligen Ruck um und sah Eugen an. Ein Ausdruck der Sanftmut und der Leere kam auf ihr plumpes Gesicht, ein mattes Lächeln erschien an den Winkeln des dicklippig-läppischen Mundes, die Kiefer beschäftigten sich sachte mit einem Kaugummiklümpchen.

Während sich diese Beschwichtigungen zutrugen, hatte sich Mr. Gorewitz herumgedreht und seine Klassenkameraden mit einem Blick tadelnden Eifers gestraft. Er zischte laut: »Seht! Seht! Seht!«, und als sich sodann eine lastende Erstummung auf den Raum legte, wandte er sich wieder nach vorn und sah mit verständnisinniger Beileidsmiene zu Eugen auf. Eingedenk jener in Finsternis hausenden Gemüter, die nicht einmal gewillt waren, das Licht einzulassen, schüttelte Mr. Gorewitz verächtlich lächelnd den Kopf. Mochten diese Leute seinethalben in Unwissenheit suhlen, wenn es ihnen Spaß machte, aber Rücksicht nehmen sollten sie auf Leute, die wie er nach dem Wahren und Schönen strebten. Allmählich besänftigte sich sein Gesicht, und ein Anflug von Zärtlichkeit erglomm in den öligen Zügen. Mr. Gorewitz' Blick lag mit Liebe und Ergebenheit, mit der verehrenden Teilnahme eines Geistesverwandten auf Eugens wütendem Gesicht. Dieser beredsame Blick des Studenten sagte: ›Der Dichter, der Prophet, der Seher, der Mensch Deiner Art ist zu allen geschichtlichen Zeiten vom Mob der Philister verhöhnt und mißverstanden worden. Warum also solltest Du leiden, teurer Lehrer? Du stehst über ihnen. Sie werden Dich nie erkennen und wertschätzen können wie ich. Verachte sie, geliebter Meister! Wirf Deine Perlen nicht vor die Säue!‹

Diese Augenbotschaft zartfühlenden Zugetanseins verfehlte jedoch ihre Wirkung bei dem Instruktor. Eugen musterte seine Klasse mit zorngrellen Augen und war eine Zeitlang sprachlos vor Empörung. Schließlich begann er mit leiser, wuterstickter Stimme:

»Wenn jemand vielleicht der Meinung ist, daß ich hier bin ...«

Anscheinend war jemand dieser Meinung, denn in diesem Augenblick ging sacht und listig die Türklinke herunter, und die Tür tat sich ganz langsam, wie von Geisterhand bewegt, auf. Eugen hielt inne. Eine wahre Mordlust begehrte in ihm auf und erschien im Ausdruck seines Gesichts. Leise, mit dem Tritt einer Katze schlich er herzu und stand zum Sprung geduckt neben der aufgehenden Tür, während die Klasse gespannt mit angehaltenem Atem wartete. Ein Gesicht erschien im Türspalt. Es war das Gesicht eines Hilfspedells, der Gangwache hatte, ein Greisengesicht, unsäglich trübselig und sauertöpfisch, ein altes, stumpfes Gesicht mit vertrockneten Hängebacken über dem hageren, hautigen Kinn, einer stumpfsinnigen, verknitterten Stirn über den kleinen, wässerigen Augen. Diese Augen gingen nun mit einem langsamen, mißbilligenden, argwöhnischen Blick über Eugen, über die Klasse, über die Zimmerwände hin. Und dann, sachte und listig, ganz so wie es erschienen war, nämlich als würde es an einem Stock hereingesteckt, zog sich das Gesicht zurück, und die Tür wurde lautlos geschlossen.

Eugen starrte einen Augenblick verdutzt die sich schließende Tür an. Und plötzlich bedrang ihn eine unsägliche, wortlose Heiterkeit und schwellte ihm die Kehle mit berstender Gewalt. Er brüllte auf vor Lachen, und die ganze Klasse stimmte wiehernd ein. Er schmiß das Buch auf den Tisch und rief:

»Machen Sie, daß Sie 'nauskommen! Ich bin fertig! Es ist genug für heute! Gehn Sie! Lassen Sie mich allein!«


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