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LXXXVIII

Auf der Rückfahrt nach Paris hatten Eugen und Starwick ein Abteil für sich; sie saßen einander gegenüber, sprachen wenig, blickten düster zum Fenster hinaus in das graue, kurzlebige, nun schnell dahinschwindende Wintertagslicht. Als der Zug über die vielen Weichen in der Nähe der Eisenbahnwerkstätten am Gare St. Lazare rumpelte, konnte man in den Fenstern der hohen, fahlen Häuser neben dem Geleisstrang Licht und Leben und manchmal Gesichter sehn. So erfaßte Eugen mit schnellem Blick ein Zimmer; – mitten im Raum im Schein einer beschirmten Hängelampe stand ein runder Tisch mit einer dunklen Decke, und an diesem Tisch saß ein dunkelhaariger Junge von zehn oder zwölf Jahren, den Kopf in die Hände gestützt, und las in einem Buch, während eine Frau geschäftig Teller auf den Tisch stellte und Bestecke auflegte. Als der Zug dann ständig langsamer fuhr, sah Eugen ganz oben im Dachgeschoß eines alten Hauses, das hart neben dem Bahnkörper aufragte, eine Frau, die gerade zum Fenster kam, zu einem Kanarienkäfig aufblickte, der im Fensterrahmen hing, hinaufgriff und den Käfig vom Haken nahm; die Frau hatte das derbe, etwas gedunsene und irgendwie altmodische Aussehen der Huren aus der Renoirperiode; trotzdem, Eugen war es, als könne er sie sein Lebtag gekannt haben.

Auf den toten Geleisen standen dunkel und stumm ganze Ketten von leeren Personenwagen, und nun, als der Bahnhof näher kam, schnauften mehrere Vorortzüge vorbei; vollbesetzt mit Leuten, die nach Feierabend nach Hause fuhren. Manche von diesen Zügen führten jene kleinen, zweistöckigen Personenwagen, die man in Paris so oft sieht; stets wenn Eugen diese komischen Doppeldecker sah, kam ihn das Lachen an; aber trotzdem, nun, vollgepackt mit heimfahrenden Franzosen, erschienen auch sie ihm wie etwas Immergekanntes. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr und hielt, sah Eugen auf einem der Nachbarbahnsteige einen fahrtbereiten Sonderzug. Es war dies so ein Sonderzug, wie er die Passagiere der großen Atlantikdampfer von Paris an die Piere der Anlegehäfen bringt, und da stand er, schlank wie ein Panther und schlurrend wie eine Riesenkatze, da wartete er, blitz und blank, üppig, fahrtfertig, ein luxuriöses Schleudergeschoß, und rief sofort und vollkommen das Bild jener Welt der Macht, des Reichtums und des Wohllebens auf, für die er geschaffen war. Sah man diesen Zug an, dann erblickte man im Geist das Erdreich der Wohllebenden; – man sah die Welt der großen Hotels und der berühmten Kurplätze, man sah erregende, herrlich gebaute, mächtige, weißbrüstige Ozeandampfer, die klaren, zweckförmigen Linien und die Schnittigkeit, die Schornsteine des furchtbaren Getriebs. Und dazu sah man Frankreichs dunkle Küste, die aufgrellenden Leuchttürme, die grauen, festungsartigen Uferwälle, die Kette der harten, dünngesäten Laternen, und jenseits, jenseits sah man den unendlichen Wurf und Schwall stürmischen Meers, die ungeheure Nokturne der schnittigen, grellen Dampfer auf der Fahrt durch die Unendlichkeit, und auf immerdar jenseits, jenseits sah man sich leicht abhebend die morgendliche Küste Amerikas, und dann die Wälle und Zinken des umfabelten Felseilands, legendären Rauch in den Lüften, Stein und Stahl: – die furchtbare Weltstadt.

 

Eugen und Starwick waren ausgestiegen und gingen auf dem Bahnsteig unter der erregt plaudernden Menge.

Starwick wandte sich um, peinlich errötend, und sagte in einem beklommenen, manierierten Ton:

»Hör mal! Werd' ich Dich wiedersehn?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Eugen rauh. »Falls Du mich aufsuchen möchtest, nun, ich nehme an, ich werde in nächster Zeit wieder in meinem alten Quartier zu finden sein.«

»Und dann? – Wo wirst Du dann hingehn?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Eugen brüsk. »Ich hab's noch nicht überlegt. Zunächst muß ich auf Geld warten, ehe ich was unternehme.«

Starwick errötete tiefer; es war ihm anzusehn, daß er verlegen war. Nach einer Weile fragte er wieder:

»Hör mal! Wo gehst Du denn jetzt hin?«

»Weiß ich nicht, Francis«, sagte Eugen rauh. »Ich denk, ich fahr in mein Hotel und stell meinen Handkoffer ab und guck mal nach, ob mein Zimmer noch da ist. Für den Fall, daß wir uns nicht wiedersehn, sag' ich Dir jetzt Lebwohl.«

Es war nachgerade peinlich zu beobachten, wie verlegen Starwick war.

Nach einem kurzen Schweigen fragte er wieder:

»Hör mal! Stört's Dich, wenn ich mitkomme?«

Es störte Eugen in der Tat. Er wünschte allein zu sein, er wünschte, sobald als möglich der Gegenwart Starwicks und der häßlichen Erinnerungen, die sie ihm erweckte, ledig zu werden. Er sagte ruppig:

»Freilich kannst Du mitkommen, wenn Dir's Spaß macht; bloß seh' ich nicht ein warum. Falls Du ins Atelier fährst, können wir ein Taxi zusammen nehmen, und Du kannst mich vorm Hotel absetzen. Falls Du aber auf dieser Seite auf später verabredet sein solltest, seh' ich nicht ein, warum Du mit über die Seine fährst.«

Starwick wurde feuerrot im Gesicht vor Scham und Demütigung. Das Sprechen schien ihm schwerzufallen, und als er nun Eugen ansah, bemerkte dieser jäh betroffen ein unverhohlenes, geradezu irrsinniges Verzweifeltsein in den Augen des andern.

»Dann hör mal!« sagte Starwick. Er benetzte seine trocknen Lippen. »Könntest Du mir mit etwas – – mit etwas Geld aushelfen, bitte?« Ein sonderbares Entsetzen, etwas Flehentliches stand in seinen Augen. »Ich brauche es sehr dringend«, sagte er verzweifelt.

»Wieviel denn?«

Starwick schwieg zunächst. Dann murmelte er:

»Fünfhundert Francs würden mir genügen.«

Eugen überschlug schnell: – Fünfhundert Francs waren damals rund dreißig Dollars, und das war ungefähr die Hälfte seines gesamten Barbestands. Er sah Starwick in das verzweifelte, gedemütigte, flehentliche Gesicht, und eine unbändige, rachsüchtige Freude durchfuhr ihn. Die fünfhundert Francs würden es wert sein.

»Schon recht!« nickte er kurz und ging weiter. »Komm mit mir ins Hotel, ich stell' die Handtasche ab, und dann wollen wir sehn, wo wir meine Schecks eingelöst kriegen.«

Starwick war eifrig einverstanden. Und von diesem Augenblick an spielte Eugen mit ihm wie eine Katze mit einer Maus. Sie nahmen ein Taxi, fuhren über die Seine in Eugens Hotel. Starwick wartete unten, während Eugen mit seiner Handtasche auf sein Zimmer ging; er hatte versprochen, in einer Minute wieder unten zu sein, nachdem er sich ein bißchen gewaschen hätte, ließ sich aber nun bequem volle dreiviertel Stunden Zeit dazu. Als er dann wieder ins Erdgeschoß kam, war Starwick sichtbar unruhiger geworden; er ging ungeduldig auf und ab, hatte eine Zigarette nach der andern geraucht. In der gleichen, müßiggängerischen und rasendmachenden Manier verließen sie das Hotel. Starwick fragte, wo sie hingingen. Eugen antwortete fröhlich, zunächst einmal zu Nacht essen, und zwar in einer kleinen Speisewirtschaft auf der andern Seite der Seine. Als sie dann über die Brücke hinweg und unter den großen Bogen des Louvre hindurchgegangen waren, war es so weit, daß sich Starwick vor Gereiztheit ständig die Lippen biß. Im Restaurant bestellte Eugen ein Diner und eine Flasche Wein; Starwick lehnte es ab zu essen; Eugen drückte sein Bedauern hierüber aus und speiste in aller Gemächlichkeit. Als er geendet hatte und gerade noch ein paar Nüsse aufknackte, war Starwick beinah irrsinnig. Er fragte ungeduldig, wo sie hingingen, und Eugen antwortete in verweisendem Ton:

»Nun, Frank, wozu die Hast? Du hast ja noch die ganze Nacht vor Dir! So sehr kann's doch nicht drängen! Warum also nicht noch ein Weilchen hierbleiben? Das ist doch ein hübscher Ort. Sag selbst, ob es nicht wahr ist. Meine Entdeckung übrigens!«

Starwick sah sich um und sagte:

»Ja, der Ort ist schon recht, denk' ich, das Essen sieht gut aus, wirklich, weißt Du, – aber mein Gott!« fauchte er erbittert. »Wie doof! Wie doof!«

»Doof?!« sagte Eugen tadelnd und setzte eine feinerstaunte Miene auf. »Frank, Frank, was für eine Sprache! Und das aus Deinem Mund! Spricht so der Dichter, der Künstler, der Gefühlige und Verständige, der Menschenfreund? Ist das vielleicht groß, fein, tollschön, was?« höhnte er. »Spricht so der Franzosenfreund, der Mann, der hier mehr zu Hause ist als in seiner Heimat? Ei Frank! Das ist Deiner unwürdig! Ich dachte, jeder Atemzug, den Du tust, sei mit Liebe zu Frankreich gesättigt, jeder Schlag, den das Herz in Deiner Künstlerbrust tut, sei bekräftigt von stolzem Mitgefühl mit den Einwohnern dieses edlen Lands. Ich dachte«, höhnte er, »Du würdest diesen Ort lieben, würdest ihn ›schlichthin tollschön‹ und › sehr großartig‹ und › höchst ergetzlich‹ finden, und nun rümpfst Du die Nase über die Leutchen und findest sie so doof, als ob sie ein Haufen verdammter Amerikaner wären! Doof! Ei, wie können sie überhaupt doof sein, Frank? Du siehst doch, daß Du Franzosen vor Dir hast! Guck Dir zum Beispiel den Jungen da an!« Er deutete auf einen Kellnerburschen von vielleicht achtzehn Jahren, der geräuschvoll das benutzte Geschirr von einem Tisch auf ein Auftragbrett stapelte ... »Ist das vielleicht keine ›süße‹ Person?« fuhr er bösartig, höhnend auf Starwicks Ausdrucksweise hinzielend, fort. »Und da ist etwas sehr Großartiges und ungemein Ergreifendes in der Art, wie er diese Teller und Schüsseln aufeinandertürmt.« Eugen war nun absichtlich parodistisch in Starwicks manierierten Akzent verfallen. »Ich meine, das Ganze ist doch da! Wirklich, weißt Du, es ist wie das Bild des Cimabue im Louvre, das wir beide so schätzen, weißt Du, das mit der Madonna und den vielen Madönnchen drumherum. Ich meine, die Art, wie er seine Hände gebraucht! Da schau nur!« balzte Eugen verzückt, als der Kellnerbursche sich mit einem dicken, stumpfen Finger kräftig unter der verschnupften Nase hin- und herfuhr. »Nun, Frank, wo, frag' ich Dich, wo könnte man so was in Amerika finden?« fragte Eugen ekstatisch. »Ich meine, die Anmut, die Haltung und Gehaltenheit, die vollkommne Selbstunbefangenheit, mit der dieser Bursche sich grad mit dem Finger unter der Nase her – oder wär's richtiger, zu sagen – mit der Nase über den Finger hinweg fuhr! Hah! Hah! Hah! Wirklich, Frank, ich bin schon ganz verwirrt, ich weiß schon nimmer, wie ich es ausdrücken soll! Wirklich, die Bewegung ist so schön und flüssig, – schwer zu sagen, was da eigentlich hin- und herfährt, der Finger oder die Nase. Ich meine, das Ganze ist doch völlig unglaublich ... höchst erstaunlich, wie die Bewegung immer wieder auf sich selbst zurückkommt, ganz wie bei einer Fuge, weißt Du«, und dem andern ernst ins Gesicht blickend fragte er tiefsinnig? »Du siehst doch, wie ich es meine, nicht wahr?«

Während dieser höhnischen Parodie war Starwicks Gesicht tiefdunkelrot entflammt, er begegnete Eugens Blick mit harten Augen und sagte kalt und bündig:

»Durchaus! ... Wenn Dir's nichts ausmacht, könnten wir vielleicht jetzt gehn und ...« Er errötete noch tiefer und schloß mit peinlicher Beschwerlichkeit: »... Du könntest tun, was Du gesagt hast.«

»Aber freilich!«, rief Eugen, sofort in eine andere Parodie auf Starwicks Ton und Manier verfallend. »Sofort! Gleich! Toute de suite! ... Wie wir hier hüben sagen! ... Nun, da hast Du's ja!« erklärte er begeistert, »da hast Du's, Frank! ... Dieses ›Toute de suite!‹« murmelte er hingerissen. »Ja, ›toute de suite!‹ ... Keineswegs: ›sofort!‹ ... Keineswegs: ›Gleich!‹ ... Keineswegs: ›Unverzüglich!‹ ... Sondern: ›Toute de suite!‹ ... Ah, Frank, wie verschieden das von unsrer groben Muttersprache ist! Quel charme! Quelle musique! Quelle originalité! ... Ich meine, das Ganze ist eben da! ... Wirklich, weißt Du!«

»Durchaus«, sagte Starwick kalt und bündig. Er blickte Eugen mit harten, erbitterten Augen an. »Könnten wir jetzt gehn?«

»Mais oui, mais oui, mon ami! ... Aber erst möchte ich Dir noch eine Bekanntschaft vermitteln ... mit jenem edlen Jüngling dort, der sich die Nase in so schlichter, ungezierter Haltung wischt und es so ganz und gar französisch tut! ... Ich kenne ihn gut, wir Künstler haben ja den Hang zum Gemeinen, n'est-ce pas? Gar manchesmal und oft hab' ich mit ihm geplauschet! ... Ei, Frank, Du wirst ihn lieben wie einen Bruder ... Das ganze große Herz Frankreichs schlägt unter dieser Kellnerjacke. Und ah! Welche Grazie! Sein gallischer Witz blitzt wie von schwirrenden Rapieren! Hei! Solch ein schnelles, humorvolles Verständnis ... Ecoutez, garçon!« rief Eugen. Der Bursche wandte sich überrascht um, und dann, als er der beiden jungen Männer ansichtig wurde, verzog sich sein voller Mund langsam zu einem freundlich dummen Lächeln. Er kam begierig an den Tisch, ein plumper, achtzehnjähriger Bengel mit einem klobigen, dicklippigen Gesicht und stumpfen, derben Bauernhänden, die Fingernägel fast ganz in die Nagelhaut eingekrustet. Er hatte eigentlich kein dummes Gesicht; in dem Gesicht war vielmehr das langsame verwunderte Verstehn eines Menschen, der schwer von Begriff ist, nicht beobachtet, aber sich geduldig ernst bemüht und tierhaft gutmütig ist; es war ein kräftiges Gesicht von gesunder, dunkler Farbe.

»Bonsoir, monsieur«, sagte er hinzutretend. »Vous désirez quelque chose?« Er grinste, sah Eugen fragend, dumpf vertrauensvoll an.

»Aber ja, mein Junge! ... Ich hab' grad mit meinem Freund über Sie gesprochen, er möchte Sie kennenlernen. Er ist Amerikaner wie ich, aber ein wahrer Freund Frankreichs. Und so hab' ich ihm erzählt, wie sehr Sie Amerika lieben.«

»Aber ja, aber ja!« rief der Junge ernst aus, eifrig auf das angeschlagne Thema eingehend. »La France und l'Amérique sind von den wahren Freunden, n'est-ce pas, monsieur?«

»Sie haben Vernunft! Es ist, wie Sie sagen!«

»Vashingtawn!« platzte der Junge jäh heraus, einer glücklichen Eingebung folgend.

»Aber ja! Aber ja!« gellte Eugen begeistert. »Lafayette!«

»Pair- shing!« Verzückt rief der Bursche den Namen des Generals Pershing aus. Und dann, leidenschaftlich proklamierend, wiederholte er: »La France et l'Amérique!« wandte sich langsam an Starwick, verschränkte die kurzen, stumpfen, dicken Finger, hielt die Hände dicht unter Starwicks Nase, schüttelte bekräftigend den dicken Kopf und rief: »C'est comme ça! ... La France et l'Amérique!« Er schüttelte die dicken, verschränkten Finger heftig vor Starwicks Nase und erklärte: »Mais oui! Mais oui! ... C'est toujours comme ça!«

»O Du mein Gott!« stöhnte Starwick und wandte sich ab. »Wie doof! Wie letzthin unaussprechlich stur!«

»Monsieur?« fragte der Bursch und blickte mit stumpfer, verständnisverwirrter Miene auf den schwergeprüften Starwick, der ihm den Rücken zukehrte.

Starwicks einzige Antwort war ein abermaliges Stöhnen. Er ließ einen Arm kraftlos über die Stuhllehne fallen, und sein Körper sackte zusammen in eine Haltung erschöpfter Verdrossenheit. Der Kellnerbursch blickte Eugen mit geduldiger, beunruhigter Miene an. Eugen sagte erklärenderweise:

»Er ist tiefbewegt ... Was Sie sagten, hat ihn bis auf den Grund erschüttert!«

»Ah-h!« rief der Bursch aus. Das jähe Licht des Verständnisses blitzte beglückend in seiner Miene auf, und nun, noch begeisterter, eifriger und mit heftigerem Kopfnicken seine Erklärung bekräftigend, versicherte er:

»Mais c'est vrai! C'est comme je dis! ... La France et l'Amérique –«, tönte es aufs neue.

»O Gott!« stöhnte Starwick überwältigt und winkte, ohne sich umzudrehn, mit dem baumelnden, ermatteten Arm ab. »Sag' ihm, er soll weggehn!«

»Er ist tief erschüttert«, erklärte Eugen. »Mehr kann er nicht ertragen!«

Ernst und mit einem Ausdruck ungeheurer, innerer Befriedigung sah der junge Mensch Starwicks kummervoll abgewandten Rücken an und wollte nun gerade seinen Triumph noch weiter treiben, als der Gaststättenbesitzer ihn ärgerlich rief und ihm befahl, sich an seine Arbeit zu scheren und die Herren nicht zu belästigen.

Der Bursche trat offenbar widerwillig ab, aber er tat es nicht, ohne nochmals heftig mit dem Kopf nickend zu proklamieren: »La France et l'Amérique sont comme ça!« wobei er sich äußerst ernsthaft gebärdete und seine dicken, zum Sinnbild der Völkerfreundschaft innig verschränkten Finger abschiedlich schüttelte.

Als er weg war, blickte sich Starwick gemüdet um und sagte entgeistert:

»Mein Gott! Was für ein Ort! ... Wie hast Du nur hierhergefunden? ... Wie Du das nur ausstehn kannst?!«

»Aber schau Dir doch den Burschen an, Frank! ... Ich meine, ist das nicht lieblich?« spottete Eugen. »Ich meine, da ist etwas so Großartiges, so Schlichtes, so Ungekünsteltes in seinem Benehmen. Wirklich vollkommen erstaunlich, wirklich, weißt Du!«

Der arme Kellnerbursch war in der Tat ganz trunken von seinem jähen, ungewohnten Erfolg. Nun, als er weiterhin Tische abräumte und Geschirr auf das Auftragbrett türmte, war zu beobachten, daß er andauernd den dicken Kopf bekräftigend schüttelte und vor sich hin murmelte: »Mais oui, mais oui, monsieur! ... La France et l'Amérique ... Nous sommes de vrais amis!« Von Zeit zu Zeit unterbrach er sich bei seiner Beschäftigung, um seine dicken Finger zu verschränken und somit die Festigkeit der Völkerfreundschaft bildlich darzustellen, wozu er sein: »C'est toujours comme ça!« murmelte.

Dieser Entrücktheitszustand wurde, wie sich bald erwies, dem armen Knaben zum Verderb. Als er nämlich das beladene Auftragbrett hob und es auf einer dicken Hand balancierte, murmelte er nochmals sein: »C'est comme ça!« und machte dabei eine einbeziehende Gebärde mit der freien Hand, und die turmhaft aufgestapelte Geschirrlast geriet aus dem Gleichgewicht und rutschte. Der Junge, bemüht, das Unheil zu verhüten, machte eine verzweifelte Gebärde, und während ein Teil der Last schon zu Boden krachte, fuchtelte und tappte er blindlings ins Leere, um noch ein paar Stücke zu retten, und fiel mit dem Rest des Geschirrs und dem Tragbrett selber zu Boden unter die zerscherbten und zerschebbernden Schüsseln und Teller.

Der Wirt schrie auf wie ein Rasender. Er kam plump herbeigestürzt, ein schwerfälliger, vierschrötiger, feister Bürger Frankreichs in einem schwarzen Tuchanzug. Er kreischte Verwünschungen, seine Schnurrbartborsten stellten sich auf wie die Stacheln eines erzürnten Stachelschweins, sein rotes Gesicht war geschwollen vor Wut und lief blau an.

»Brute! Fou! Imbécile! Salaud! Cochon!« gellte er den furchtsamen Burschen an, der unbeholfen aufstand und ein törichtes, hilflos bestürztes Gesicht machte. »Architect!« Er kreischte diese sinnlose Beschimpfung aus geschnürter Kehle heraus, stürzte sich auf den Burschen und begann, ihn links und rechts zu ohrfeigen und ihn wütend mit großschrittigen Ausfallbewegungen vor sich her zu treiben.

»Ha! Welch eine Anmut, Frank!« bemerkte Eugen grausam. »Wie großartig und schlicht und selbstunbefangen diese Franzosen in allem sind! Ich meine, die Art wie sie ihre Hände gebrauchen«, sagte er ironisch, als der rasende Gastwirt dem unglückseligen Jungen gerade einen gräßlichen, plumpen Stoß versetzte, so daß dieser taumelte und beinah hinfiel. »Ich meine, es ist wie eine Fuge ... wie Cimabue und die frühen Primitiven ... wirklich, weißt Du!«

»Assassin! Criminel!« kreischte der Wirt in diesem Augenblick, und nun versetzte er dem weinenden Jungen einen Schlag, einen so brutalen Schlag, daß der arme Kerl auf Hände und Knie hinstürzte.

»Traître! Misérable scélérat!« keuchte der Wirt, hob ein fettes Bein und trat den am Boden Liegenden.

»Nun, Francis, wo, frage ich Dich, wo könntest Du dergleichen in Amerika zu Gesicht kriegen?« forschte Eugen böswillig, während der gezüchtigte Bursche bitterlich weinend aufstand.

»Gott!« sagte Starwick und erhob sich. »Es ist unsäglich!« Und verzweifelt mahnte er: »Laß uns gehn!«

Sie zahlten und brachen auf. Als sie die Treppe hinuntergingen, konnten sie noch die heiseren, erstickten Seufzer des Kellnerburschen hören, der, das dicke Gesicht mit den dicken, stumpffingrigen Pfoten bedeckend, bitterlich weinte.

 

Wofür Starwick die fünfhundert Francs wollte, wußte Eugen nicht, aber daß jenem viel daran lag, das Geld bald zu bekommen, war klar. Seine Bedrängnis war mitleiderregend, und schon die bittre Mißlaune, die ihn im Restaurant ein- oder zweimal zu offnen Ausbrüchen der Gereiztheit hingerissen hatte, wirkte an einem Menschen seiner Art vollkommen unnatürlich und offenbarte, wie sehr ihm die lange Verzögerung auf die Nerven ging. Nun, nachdem er mehrmals nervös nach der Uhr gesehn hatte, wandte er sich an Eugen, sah ihn an mit einem Ausdruck stillen, aber tiefen Grolls und sagte:

»Hör mal! Wenn Du mir das Geld geben willst, dann wünschte ich, Du tätest es jetzt, bitte! Andernfalls brauch ich es nicht.«

Angesichts dieses tiefen, stillen Grolls verspürte Eugen ein Gefühl der Schuld; er wußte, daß er das Geld versprochen hatte und empfand, daß das quälende Hinausschieben unanständig und gemein sei; er sagte rauh:

»Schon recht, komm mit! Ich werde es Dir sofort geben.«

Sie bogen in die Rue St. Honoré, gingen durch eine Seitenstraße und kamen auf die Place Vendôme. Dort war eine kleine Wechselstube, die die ganze Nacht offen hatte; Reisende konnten dort ihre Expreßschecks ziehen. Die beiden traten ein; Eugen löste seine letzten drei Schecks ein und bekam dafür etwas über neunhundert Francs. Er zählte das Geld nach, faltete fünfhundert Francs für Starwick zusammen, schob den Rest in seine Tasche, drehte sich um, reichte Starwick die dünnen, zusammengefalteten Banknoten und sagte brutal:

»Da hast Du Dein Geld, Frank. Und nun, leb wohl. Ich will Dich nicht länger aufhalten.«

Er wollte weggehn, aber der verächtliche Hohn in seiner Stimme war nicht unbeachtet geblieben. Starwicks ruhige Stimme hieß ihn einhalten.

»Bloß 'nen Augenblick noch«, sagte Starwick. »Was wolltest Du damit sagen?«

Ein träger, dicker Ärger schwoll in Eugens Adern.

»Womit?«

»Mit dem, daß Du mich nicht länger aufhalten wolltest.«

»Du hast doch jetzt, was Du von mir wolltest, nicht wahr?«

»Du meinst das Geld?«

»Ja.«

Starwick sah Eugen ruhig ins Gesicht, steckte ihm die Banknoten wieder zu und sagte:

»Nimm das Geld!«

Einen Augenblick war Eugen sprachlos. Eine mörderische Wut erstickte ihm die Stimme, er knirschte mit den Zähnen, verspürte eine beinah wahnsinnige Lust, den andern an der Gurgel zu packen und ihm das Gesicht mit der Faust zu Blutbrei zu schlagen.

»Ei Gott verdamm Dich!« raunzte er zähneknirschend. »Gott verdamm Dich!« Er drehte sich um und sagte harsch: »Zum Teufel mit Dir! ... Ich kann's nicht mehr ausstehn!«

Wütend, mit großen Schritten eilte er über den Platz. Er hörte Schritte hinter sich. An der Ecke der Rue St. Honoré holte Starwick ihn ein und sagte störrisch:

»Nein! Ich geh' mit Dir! ... Ich muß das, weißt Du!« Seine Stimme hob sich, wurde beinah weibisch schrill, als er leidenschaftlich erklärte: »Wenn etwas zwischen Dir und mir steht, das aufgeklärt werden muß, eh Du gehst, dann kannst Du das nicht so lassen ... wir müssen es ins reine bringen, weißt Du ... wirklich, das müssen wir!«

Einen Augenblick stand Eugen stockstill da. Jedes Atom an ihm – Blut, Gebein, Herzschlag, die Substanz seines Fleisches – schien ihm in einer Paralyse kalter Mordlust zu Eis zu erstarren. Er leckte seine trocknen Lippen und sagte dickzüngig:

»Ins reine bringen!« – Das Blut überwallte ihn in einer erstickenden Flut, es schien ihm im Nu jäh in die Hände zu schießen, schien ihn mit einer unbändigen, reißenden Kraft zu füllen, mit einem bestialischen Fauchen entrang sich ihm der Fluch:

»Ins reine bringen! Ei, Du verdammter Schuft, wir werden's ins reine bringen! Schon recht! Wir werden's ins reine bringen, Du dreckiger kleiner Schwuler –!« Das gemeine Wort war endlich heraus, war ihm blindlings mit mörderischer Gehässigkeit entfahren, und plötzlich löste sich die quälende, unmögliche Spannung aus Haß, Versagen und Verzweiflung aus. Eugen langte aus, packte Starwick an der Gurgel und am Hemdkragen und, besessen von jener ungeheuren, unberechenbaren Kraft, die Haß und jähe Mordlust einem Menschen zu verleihen vermögen, hob er die kleine Gestalt des andern hoch, als wäre sie weiter nichts wie ein Bündel Reisig und Lumpen, und warf Starwick mit so roher Gewalt gegen die nächste Hauswand, daß der Kopf krachend auf den Stein aufschlug. Starwick verlor auf der Stelle die Besinnung. Der Hut flog ihm vom Kopf, der Spazierstock entfiel ihm und klapperte mit einem harten, hageren Geratter aufs Pflaster. Eine kleine Weile rollte Starwick die Augen; sie gingen hin und her mit der hölzernen, ausgewichteten Beweglichkeit von Puppenaugen. Dann, als Eugen die Gurgel losließ, gaben die Knie nach, die Lider fielen zu, der Kopf taumelte nach einer Seite, und der Körper begann, mit dem Rücken die Wand herunterrutschend, zu Boden zu sinken.

Starwick wäre umgefallen, hätte Eugen ihn nicht aufgefangen, festgehalten und ihn gegen die Wand gelehnt, bis ihm das Bewußtsein wiederkehrte. Und in diesem Augenblick erfuhr Eugen einen jähen Umschlag seiner Gefühle; er empfand Scham, Verzweiflung und Selbstekel in einem Maße wie nie zuvor. Ihm war, als wäre ihm alles Blut vom Herzen weggeströmt und das Herz läge nun wie eine tote Hülle in seiner Brust. Er glaubte, er habe Starwick getötet, habe ihm das Genick gebrochen oder das Schädeldach zerschmettert, und er sah, daß Starwicks schmächtiger Leib selbst im Zustand des Todes – oder der Ohnmacht – seine lässige Anmut und Würde beibehielt. Der schwere Kopf war fast auf die Schulter gefallen, und die leblose Gestalt mit ihrem entstrafften Gewicht sank seitüber in einer Haltung von furchtbarer und schöner Ruhe, ganz so, wie auf großen Gemälden von der Kreuzabnahme der Leib Christi zur Seite sinkt, und in der Tat war es, als hätten Wesen, Ausdruck und Gehaltenheit jener Kunst, die Starwick mit so leidenschaftlicher Einfühlung liebte, sich seinem Körper so unaustilgbar eingeprägt, daß der Körper sie selbst nun im Zustand des Todes oder der Besinnungslosigkeit zur Darstellung brächte.

Das Maß der Niederlage und des Zerfallenseins mit sich selbst, das Eugen empfand, war überwältigend. Ihm schien, wenn er es vorsätzlich darauf abgesehen hätte, ein verwirktes Leben mit einer unheilvollsten, verruchtesten Tat zu überbieten, dann hätte er sich keines schlimmeren Verbrechens schuldig machen können als dessen, das er gerade begangen hatte; das kam nicht nur von dem verzweifelten, herzlähmenden Schreck bei dem Gedanken, er könne Starwick getötet haben, es war mehr als das, es war ein Gefühl der Entwürdigung, das Gefühl, etwas so Übles und Abscheuliches getan zu haben, daß er es nie verwinden, nie den Makel aus seinem Blut tilgen könne. Es gibt nämlich einige seltene und sonderbare Menschen, zu deren Persönlichkeit die geschöpfliche Würde von der Unantastbarkeit des Geists und des Fleisches so unbedingt gehört, daß Vertraulichkeiten und Verletzungen, vor allem aber Gewalttaten ihnen gegenüber undenkbar sind, – Menschen, von denen daher furchtbar rächerisch jede beabsichtigte Verletzung, jede vollzogene Gewalthandlung abprallt und tausendfach auf den Täter zurückschlägt, so daß dieser dann tausendfach sein Verbrechen in aller Scham und mit dem ganzen Schreck des untilgbaren Gedenkens wiedererleben muß. Starwick war ein solcher Mensch.

Starwick hatte diese Eigenschaft der persönlichen Unantastbarkeit, er besaß sie mehr als irgend jemand, den Eugen je gekannt hatte. Und als Eugen nun dastand und Starwick festhielt, ihn gegen die Wand drückte, ihn beim Namen rief, ihn schüttelte, ihn anflehte, wieder zu sich zu kommen, überwältigte ihn ein abgrundtiefes, heilloses Gefühl der Scham und Verzweiflung, das Wissen um seine bittre, schmähliche Niederlage. Ihm schien, er hätte nichts tun können, was seine eigne Niederlage und die schicksälige Überlegenheit seines Feindes nachdrücklicher herausgestellt hätte als gerade das, was er getan hatte. Und das Gefühl, daß Starwick ihn stets schlagen, ihm stets das Meistbegehrte nehmen würde, daß er mit keinen Mitteln der Welt dem andern je gewachsen wäre und ihm auch nur den kleinsten Sieg abringen könne, dieses Gefühl packte Eugen mit übermächtigem Entsetzen an. Bitter und krank vor Herzenselend verwünschte er die gemeine Narrheit seiner Tat. Er hätte sich willig die Hand abgehackt, jene Hand, die den Schlag geführt hatte, hätte er so die Tat ungeschehen machen können; er wußte aber, daß es dazu für immer zu spät war, und in seinem blinden Schrecken fiel ihm ein, daß er dieses Wissen um seine Unterlegenheit und um seine Furcht mit Starwick teile, daß Starwick nun sein Lebtag darum wissen würde und schon hieran allein das volle Maß seines Sieges erkennen könne. Und das Gefühl unsühnbarer Schande, das Entsetzen und die Reue hielten selbst dann noch an, als Eugen, gleichviel angewidert wie erleichtert, sah, daß Starwicks Augen zuckten, daß Starwick die Augen aufschlug, daß Starwick ihn nach einer Weile der vagen, wirren Bestürztheit mit ruhigem Bewußtsein anblickte.

Trotzdem, Eugens Gefühl der Erleichterung war unsäglich. Er bückte sich, hob Starwicks Hut und Stock auf, gab sie dem andern und sagte ruhig:

»Tut mir leid, Frank.«

Starwick setzte seinen Hut auf, nahm den Stock in die Hand.

»Macht nichts. Nachdem Du so empfandest, mußtest Du es eben tun«, sagte er mit stiller, tonloser, unbeugsamer Stimme. »Aber nun müssen wir dieser Sache auf den Grund gehn, eh wir voneinander scheiden. Wir müssen diese Sache herausstellen, müssen ausfindig machen, worum es sich handelt. Das muß geschehn, weißt Du!« Seine Stimme hatte sich mit dem Nachdruck unbeugsamer Entschlossenheit gehoben, er hatte in einem Ton gesprochen, den Eugen an ihm kannte, und Eugen wußte, keine Furcht vorm Tod, vor Gewalttätigkeiten oder vor irgendwelchen andern verzweifelten Folgen könne Starwick nun bewegen, auch nur um ein Tüttelchen von seinem Vorsatz abzurücken. »Ich muß verstehn, was diese Sache ist, ehe ich von Dir gehe«, sagte Starwick. »Es muß geschehn.«

»Schon recht!« sagte Eugen verzweifelt ins Blinde hinein. »Also komm mit!«

Und stillschweigend gingen sie zusammen weiter auf dem leeren Bürgersteig der Rue St. Honoré, an heruntergelassenen Schaufensterrolläden vorbei, an den alten, stummen Häusern entlang, die da standen und – so schien es – der Herzensnot gequälter Jugend lauschten mit der ganzen unendlichen grausamen und fühllosen Stille der dunklen Zeit, beladen mit der unaussprechlichen Chronik abgetaner Jahrhunderte, den wortlosen Ängsten, Kümmernissen und Drangsalen von einer Million entschwundner, namenloser, vergess'ner Menschenleben.

Und so, in bittrer Scham und Stille und Verzweiflung, begann im sinnlosen, betrunknen Taumel des Fleischs die kaleidoskopische Runde durch die Nacht.


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