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LX

Auf der Terrasse waren acht oder zehn Leute versammelt. Joel stellte Eugen vor – ruhig, gewandt, verbindlich-beflissen, wispernd wie immer, mit seiner feinen, gütigen Einfühlungsfähigkeit auf die Verlegenheit und die Verwirrung des andern Rücksicht nehmend. Gestalten hatten sich erhoben, sahen Eugen an, und in seinem Bewußtsein kam und ging und schwamm alles durcheinander: mondhelle Gesichter, Namen, höflich gemurmelte Begrüßungsworte. Alsdann war das Bild wieder wie zuvor. Man hatte Platz genommen oder sich zurückgelehnt, nur Eugen und Joels Mutter standen noch. Er sah sie hilflos bestürzt an, sie legte ihm schnell eine Hand auf den Arm und sprach gütig und leise: »Setzen Sie sich hier neben mich.«

Sie nahm in ihrem Lehnstuhl Platz, einem großen Korbsessel mit einem runden, hohen, fächerförmigen Rücken. Eugen setzte sich neben sie und versank in ein dankbares Vergessensein, während die andern ein unterbrochenes Gespräch wieder aufnahmen.

»Aber nein, Polly! Was Sie nicht sagen!« protestierte eine volltönige Stimme und erklärte mit unverhohlener Neugier forschend: »Das ist doch ausgeschlossen. So weit ist es wohl sicher nicht gekommen. Die Familie hat ihn zuvor abgehängt, wenn ich nicht irre.«

»Meine Liebe«, begann Polly bestimmt. »Ich weiß, daß es so weit gekommen ist.« Polly war offenbar richtig benamst worden. Im Mondschein sah Eugen das scharfe, spitze Gesicht, die Schnabelnase, die schlau-gescheiten, etwas bösartigen Züge eines Papageis. »Ich war, als sich die Sache zutrug, zu Besuch in Newport bei Alice Bellamy. Ich habe es von ihr. Die Familie tobte. Sie staken den ganzen Tag mit Hugo Bellamy zusammen. Sie ließen sich von ihm beraten, wie man es anstellen könne, was sich da tun ließe, wie man so eine Heirat annulliert. Wie ich sage –« krächzte Polly im Ton unbedingter Überzeugung und schüttelte abweisend den Kopf, »ich weiß doch, wovon ich spreche. Es besteht überhaupt nicht der geringste Zweifel, daß sie verheiratet waren, daß die standesamtliche Trauung tatsächlich stattgefunden hat.«

»Und sie hat wirklich mit diesem ... diesem Stallburschen gelebt?«

»Mit ihm gelebt?« krächzte Polly. »Meine Liebe, sie hatten schon zwei Wochen zusammengelebt, als der alte Dick Rossitter dahinterkam. Aber natürlich –« meinte sie fromm mit einem matten, böswilligen Schmunzeln, »– weiß ich nicht, was sie die ganze Zeit zusammen angestellt haben, möglicherweise war es eine reine Idylle, aber, nun ja, meine Liebe, da dürfte es wohl am besten sein, sich auf seine eigne Einbildungskraft zu verlassen. Meine persönlichen Erfahrungen mit Hausknechten reichen nicht weit, aber ich nehme nicht an, daß man gerade bei ihnen platonische Tugenden voraussetzen sollte.«

»Nein, das sollte man freilich nicht«, sagte Mrs. Pierce ruhig. Die Note eines unverkennbaren, gewohnheitsmäßigen, verhärteten Zynismus war in ihrer Stimme. »Bei Ellen Rossitter ebensowenig, soweit ich die Familie kenne. Was sollte man da anderes erwarten! Die Rasse ist schlecht, da ist irgendwann böses Blut reingekommen. Jedermann in der Gesellschaft weiß doch, daß der alte Steve Buchanan, der Großvater dieses Mädchens, so einen Ruf hatte, daß ihn niemand mehr ins Haus einlud. Deswegen hat er ja auch die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in Frankreich gelebt. Hier im Land war er ein unfreiwilliger Außenseiter geworden, kein Mensch wollte mit ihm zu tun haben, er mußte wohl oder übel wegziehen ... Aber guter Himmel, ein Stallbursch!« Sie lachte. Ihr Lachen klang beinahe hart und häßlich. »Das muß ein schwerer Schlag für Myra gewesen sein, nachdem sie sich jahrelang bemüht hat, den Timmy Wilson mit seinen Millionen zum Schwiegersohn zu kriegen.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort im Ton der festen, unerschütterlichen Überzeugtheit. »Ich hätte es voraussagen können, daß sie mit dieser Tochter Scherereien haben würde, ehe sie sie anbrächte. Schlechtes Blut, da mußte es doch früher oder später mal so kommen, und jedenfalls, Myra ist auch eine ausgemachte Närrin, sie hat nicht mehr Verstand als ein Karnickel. Aber – Himmel! – ist das ein Reinfall! Erst solche Pläne, und dann ein Stallbursch! Ich wette, daß sie getobt hat.«

»Immerhin«, wandte jemand in diesem günstigen Augenblick ein. Es war ein junger Mann namens Howard, der mit einem gezierten, lispelnden, weibisch-manierierten Ton meinte: »– wie Irene Cartwright sagte, es war die einzig originelle Sache, die Ellen Rossitter im Leben tat, und deswegen war's doch recht schade, daß die Romanze so schnell abgebrochen wurde. Ich fand auch die Geschichte, die von dem Hausknecht erzählt wurde, eigentlich rührend. Kennen Sie sie? Er bat sie, ihm seine Briefe zurückzugeben ...«

»Nein!« rief Mrs. Pierce erstaunt. »Wirklich? Na, und hat sie sie ihm zurückgeschickt? Erzählen Sie doch weiter, Howard!«

»Aber freilich«, sagte Howard. »Und den Trauring und überhaupt alles, was er ihr je gegeben hatte ... Ich las den Brief, den er ihr schrieb, schlichthin ergreifend. Er schrieb ihr, er ginge nun mit einem andern Mädchen, einem Dienstmädchen, glaube ich, und dieses solle nicht erfahren, daß er sich schon mal mit jemandem andern abgegeben habe ... er schrieb, er hätte es mit seiner Mutter besprochen, und die Mutter dächte genauso wie er, nämlich, daß Ellen ihm die Briefe zurückgeben solle.«

»Oh, Howard!« rief Mrs. Pierce. »Das kann er doch nicht getan haben! Das ist ja einfach unbezahlbar!«

Ihre glänzenden, gleichmäßigen Zähne blitzten einen Augenblick im Mondlicht auf. Sie führte die lange Zigarettenspitze zum Mund und tat einen langen, nachdenklichen Zug. Der herbe, duftige Rauch türkischen Tabaks, hellgraublau, wie frischgehobelte Stahlspäne, kräuselte aufwärts im Mondlicht. Sie wandte sich an Eugen mit der irgendwie geduldigen, pflichtschuldigen Liebenswürdigkeit, die man einem Fremden entgegenbringt, den man zum erstenmal als Gast im Hause empfängt.

»Nun, hat Ihnen die Fahrt hierherauf gefallen? Oder ist Joel so schnell gefahren, daß Sie Todesängste ausgestanden haben? Den meisten Leuten geht es nämlich so, wenn er fährt.«

»Ziemlich schnell ist er schon gefahren«, gab Eugen zu, »und ein- oder zweimal hab' ich mich festhalten müssen. Als wir von der Hauptstraße abbogen, nahm er die Kurve ganz knapp, aber er schien zu wissen, was er tat.«

»Ich kann versichern, daß er's nicht weiß«, sagte Mrs. Pierce mit einem harten Lachen. »Mir wär's lieb, wenn ich Ihr Vertrauen in ihn teilen könnte, aber ich kann es nicht. Ich glaube, daß er nicht die leiseste Ahnung hat von dem, was er tut.«

Die sehr ruhige, angenehme, beinahe tonlose Stimme eines jungen Mannes, namens George Thornton, nahm hier den Faden der Unterhaltung auf. »Schließlich und endlich sollte man denken, daß ein vernünftiger Fahrer sich mit einer Geschwindigkeit von fünfunddreißig oder vierzig Meilen die Stunde begnügen könnte«, meinte er. »Vielleicht sind die wichtigsten Dinge im Leben mit Geschwindigkeit nicht zu erreichen, und vielleicht kann man gerade die Dinge, die des Lebens würdigste Ziele sind, überhaupt nicht erlangen, wenn man stets eine Meile in der Minute fährt.«

»Vollkommen richtig, George«, warf Mrs. Pierce entschieden befriedigt ein. »Vollkommen richtig! Jeder vernünftige Fahrer begnügt sich mit fünfunddreißig oder vierzig Meilen die Stunde, aber Joel fährt eben nicht vernünftig. Wenn er am Steuer sitzt, ist er wie ein Kind, das zum erstenmal ein neues Spielzeug in der Hand hat.«

Als George Thornton hierauf fortfuhr, war irgend etwas Unerklärliches in seiner ruhigen, angenehmen, beinahe tonlosen Stimme. So ungemein vernünftig und sachlich maßvoll sie klang, sie hatte eine düster-schicksälige Verhangenheit: in ihr war die äußerste Beherrschtheit, war die übertriebene Mäßigung eines Mannes, der geisteskrank zu werden fürchtet und heftige Irrsinnsregungen unterdrückt. Außerdem sprach George Thornton nun so, als spräche er zu sich selbst und hätte gar nicht gehört, was Mrs. Pierce gesagt hatte.

»Das Größte im Leben, die Höchstwerte«, sprach er, »kann man weder mit Maschinen, noch mit Geschwindigkeit, noch mit irgendandern materiellen Mitteln erreichen. Christus sagte, die Liebe wäre das Größte. Buddha sagte, das Größte wäre geistige Erleuchtung. Sokrates nannte den Gehorsam des Menschen gegen die Gesetze seines Staates die höchste Pflicht. Und Konfuzius erkannte, nachdem er Leben und Tod gegeneinander abgewogen hatte, die einzige Aufgabe des Menschen wäre, sich stets an so viele Übereinkünfte der Gesellschaft zu halten, als ihm nur möglich wäre ... Und das, Joel, ist vielleicht der wirkliche Grund, der einzig wirkliche Grund, warum Du nicht so verwegen fahren solltest. Du brichst das Gesetz des Landes ... und andern Leuten, darunter solchen, die Dich lieben, bereitest Du Sorgen, machst Du Angst, verursachst Du Schmerzen damit. Wenn es weiter keinen Grund gäbe, solltest Du es schon deshalb tun.«

George Thornton sprach diese Worte aus, wie jemand ein leidenschaftsloses Urteil abgibt, mit einer unverrückbaren Endgültigkeit, die weder eitel noch anmaßend war, einer Endgültigkeit, die fast prophetisch klang und keinen Raum für Erörterungen ließ. Daher entstand, als er geendet hatte, auf eine Weile eine tiefe, unpersönliche Stille. Alsdann ließ sich eine andere Stimme vernehmen, eine von fraulicher Süße verdunkelte, von Wärme und feiner Zärtlichkeit schwingende Mädchenstimme. Es war Joels Schwester Rosalind, die mit jugendlicher Herzenswärme aufwallte:

»Oh, George, Du bist ein Engel! Wirklich in allen Stücken! Wenn jeder so wäre wie Du, dann wäre der Himmel auf Erden.« Sie nahm Thorntons Hand zwischen ihre kräftigen, warmen Hände und drückte sie. Wie alles, was sie sagte oder tat, bezeugte diese Handlung ihr echtes, wahrhaft liebendes Wesen. Und freimütig ernst, naiv aufrichtig, spontan bewundernd fuhr sie fort: »Man kommt sich so klein vor neben Dir. Ich meine wegen der Art, wie Du lebst, wie Du andern hilfst, wie Du all diese wunderbaren Sachen über – über Buddha und Sokrates und Konfuzius herausgefunden hast. Wieviel Du weißt, George!« rief sie begeistert. »Statt ein träges, leeres Leben zu führen, hast Du so eine Menge gelernt, und alles gibst Du dann den andern weiter. Deswegen, meine ich, ist es ja auch, daß man sich so klein neben Dir vorkommt. Es ist die Art, wie Du alles hergibst, wie Du so vielen Menschen hilfst, wie Du – –« Sie stockte plötzlich. Tränen erstickten ihre Stimme. »–wie Du Dich um den armen Dick bekümmerst ...« brachte sie stoßweise hervor.

»Rosalind«! rief Mrs. Pierce. Der Ton war warnend, jedoch nicht auf eine tadelnde, sondern auf eine aufmerksammachende Art.

»Oh, ich kann doch nicht anders!« rief das Mädchen. »Ich – – finde ihn wundervoll! Wirklich, George, Du bist ein Heiliger«, erklärte sie und drückte abermals seine Hand.

Eine Zeitlang sprach niemand. George Thornton saß unbeweglich auf den Stufen der Terrasse. Er hatte einen feinen, kleinen Kopf mit einem bronzebraungebrannten Gesicht. In den allzu steten, allzu ruhigen Tiefen seiner sehr stillen Augen war schon der verhängnisvolle Wahnsinn zu erkennen, der ihn einmal zerrütten würde. Er blickte über die mondbefluteten Fluren hinunter auf den glänzenden Strom. Das Schweigen der Gruppe war betreten von einer tiefen Bewegtheit des Gefühls; ganz offenbar hatte die Erwähnung des ›armen Dick‹ an eine Tatsache gerührt, um die dieser ganze Kreis wußte. Als dann Mrs. Pierce die steinerne Stille brach, verriet die erzwungene Sachlichkeit ihres Tons, wie sehr sie bewegt war.

»Aber es ist doch außergewöhnlich, George, wirklich, einfach erstaunlich, einen jungen Mann in Deinem Alter zu finden, der so viel gelesen und studiert hat und so fürs Leben gerüstet ist wie Du. Einfach erstaunlich!« schloß sie und tat dann etwas, was vielleicht bei einem Menschen ihrer Art wirklich erstaunlich war: sie schneuzte sich schnell und heftig die Nase. »Aber wirklich erstaunlich!« wiederholte sie, tat schnell das Taschentuch weg und steckte eine Zigarette in die fünfundzwanzig Zentimeter lange Spitze.

»Das glaube ich nicht«, sagte George Thornton ruhig und ohne eine Spur von Eitelkeit oder falscher Bescheidenheit. »Erstaunlich wäre es vielmehr, wenn ich es nicht getan hätte. Schließlich und endlich schulde ich der Gesellschaft so viel, daß ich keinem Menschen mit Anstand ins Gesicht blicken könnte, wenn ich mich nicht bemühte, einen kleinen Teil dieser Schuld abzugelten.«

»Wie wenige reiche junge Männer denken so!« sagte Mrs. Pierce ruhig. »Ich wünschte, so dächten mehr.«

Die Unterhaltung bewegte sich alsdann auf anderen, leichter begänglichen Pfaden; Klatsch und geistreiche, aber gewichtslose Debatten. Mrs. Pierce nahm ihr Gespräch mit Polly und Howard wieder auf. Auf den Stufen der Terrasse saßen Rosalind, Seaholm, ein dunkelhaariges Mädchen namens Ruth und George Thornton; sie redeten und schwatzten und lachten zusammen mit der reizvollen Vertraulichkeit der Jugend. Joel und Miss Telfair waren in eine eifrig erregte Debatte verstrickt. Joel sagte nur selten etwas; er saß nach vorn geneigt da und hörte zu mit der beflissenen Ehrerbietung, der achtungsvoll ergebenen Höflichkeit, die für alle seine Beziehungen zu Frauen kennzeichnend war. Miss Telfair sprach. Sie sprach ganz so, wie sie aussah, wie sie sich anzog, wie sie sich gebärdete, – ganz so, wie sie war: zerbrechlich, leer, nervös, künstlich, ganz so, wie die zahllosen seltenen Porzellannippsachen, die ihr Haus, ihr Leben, ihr Innerstes erfüllten.

»Nein, Joel«, sagte sie mit dieser Stimme, die eigenartig schneidend und eindringlich hell klang wie ein angeschlagenes Stück Porzellan. »Da bist Du durchaus im Irrtum, ganz bestimmt im Irrtum. Selbst wenn man die Einbildungskraft noch so sehr anstrengt, das Ding kann keinesfalls sienesisch sein. Es ist reines Ravenna, vollkommenes Ravenna, ganz bestimmt!« Sie schüttelte den Kopf, ihr emailliertes Gesicht hatte den Ausdruck unbeugsamer Überzeugtheit. »Bestimmt nicht anders als reinstes und vollkommenstes Ravenna und obendrein vierzehntes Jahrhundert ... Nein! Nein!« rief sie aus, als Joel ein lächelndes Wisperwort höflichen Zweifels einzuwerfen versuchte. »Wirklich, liebes Kind, es ist einfach grundfalsch, was Du sagst! Du weißt nicht, wovon Du sprichst! ... Ich war doch schon eine Autorität auf diesem Gebiet, eh Du auf der Welt warst! ... Ich habe mehr über Ravenna vergessen, als Du je wissen wirst! ... Nein! Nein! Bestimmt nicht Siena! Was Du sagst, ist einfach grundfalsch!«

Joel nahm diese harte, beinah kränkende Zurechtweisung hin mit der wohlanständigen Demut seiner strahlenden Gutherzigkeit, leis und liebenswürdig lachend, entzückt über dieses hoffärtige Besserwissen, ganz so, als wäre er lediglich die Zielscheibe einer zärtlich-witzigen Spöttelei.

 

In diesem Augenblick, als Eugen mit Groll und Mißbehagen der eindringlichen, nackt-anmaßenden Stimme Miss Telfairs lauschte, erhob sich Rosalind Pierce von ihrem Platz bei den andern jungen Leuten auf den Stufen der Terrasse. Sie kam schnell herbei und setzte sich neben Eugen.

»Warum sitzen Sie denn so still für sich allein?« fragte sie. Ihre Stimme war warm, süß, lieblich, zuneigungsvoll. »Darf ich ein bißchen mit Ihnen plaudern?« Bei diesen Worten schob sie ihren Arm in Eugens Arm und nahm seine Hand in ihre Hände. Diese schlichte, natürliche, herzhafte Gebärde enthielt das ganze Wesen dieses Mädchens, ja, diese Gebärde drückte etwas aus, was Worte nicht tun konnten, erklärte etwas, was viele Menschen in Jahren des Zusammenlebens nicht zu erklären vermögen: das ganze Wesen. Diese Gebärde teilte Eugen augenblicklich alles Eigenschaftliche von Rosalinds Leben mit, sie sagte ihm, was für eine Art Mensch Rosalind Pierce wäre. Und die Art Mensch, die Rosalind Pierce war, war unglaublich gut und schön.

»Was haben Sie denn die ganze Zeit gedacht, als Sie so dasaßen?« fragte sie leis. »Ich sah sie dasitzen und zusehen und mitanhören, und das war ganz so, als wären Sie eine Million Meilen weit weg. Was haben Sie denn gedacht? War es, daß wir Nichtstuer seien und weiter nichts können, als uns mit seichtem Schwatz über andre, genauso nutzlose Leute zu unterhalten?«

»Ei, nein – nein«, stammelte er. »Durchaus nicht –« Er sah sie an, errötet und verlegen, und da erkannte er, daß sie ganz ohne Arg und Tücke war. Sie war nicht gescheit genug für Spott und Bosheit, nicht witzig genug für Ironie und Sarkasmus; sie war ein Wesen aus Unschuld und Glut, zwar ohne tiefes Verständnis, aber mit einer Natur, die ganz erfüllt war von geschöpflicher Wärme, begeisterungsfähig bis zum Überschwang und voll inniger Zuneigung.

»Ich – ich glaube, Sie sind alle fein«, platzte er heraus. »Ich glaub, Sie sind groß

»Glauben Sie das, Sie lieber Mensch?« sagte sie sanft. »Nun, das sind wir gerade nicht.« Sie zog ihn freundlich-traulich an sich und sagte: »Kommen Sie, gehn wir ein paar Minuten spazieren. Ich möchte gern mit Ihnen reden.«

Sie standen auf und gingen – ihre warme Hand lag noch auf seiner Hand –, sie gingen an der Terrasse entlang, an dem mondweißen Flügel des großen Hauses entlang nach der zu einer Längsschleife gewundnen Anfahrtsstraße.

»Sie mögen uns wirklich?« fragte sie, als sie die Straße hangab gingen, vom Hause weg, unter den großen Bäumen, durch die das Mondlicht sickerte und in Kringeln auf die Erde fiel. »Den Joel doch bestimmt, nicht wahr? Finden Sie ihn nicht auch großartig?«

»Ich – ich halte ihn für den besten Kerl in der Welt«, sagte er. »Er ist einfach zu gut.«

»Oh, er ist ein Heiliger«, erklärte sie ruhig. »So einer wie er hat noch nicht gelebt. Er ist der liebste Mensch, den ich kenne ... Sagen Sie, sind Menschen nicht etwas Wunderbares?« Sie blieb mitten auf dem mondhellen Weg stehn und sah ihn an. »Ich meine es so, wissen Sie, ... daß es gewiß einen Haufen gemeine und nutzlose und schäbige gibt wie ..., nun, wie auch ein paar von denen, die heut abend hier sind, ... daß aber doch in allen etwas Gutes steckt. Sogar der arme kleine Howard hat etwas Gutes und Süßes in sich; er hat ein gütiges Herz, wirklich, das hat er, er möchte amüsant sein und die Leute unterhalten aus dem Wunsch heraus, jeden glücklich und vergnügt zu sehen ... Und wenn man dann jemand wie den Joel trifft, dann ist alles andere wettgemacht, nicht wahr? ... Oder George Thornton? – Mögen Sie ihn nicht? Finden Sie ihn nicht großartig?«

»Er scheint mir recht fein«, antwortete er mit einiger Bemühung. »Ich – ich kenne ihn eben erst seit heute abend.«

»Sie werden ihn lieben, wenn Sie ihn näher kennenlernen«, sagte das Mädchen ernst. »Es geht jedem so ... Er ist auch ein Heiliger, ganz wie der Joel ... so tapfer und gütig und gut, und dabei ist sein Leben so furchtbar gewesen.«

»Furchtbar? Ich denke, er sagte doch ...«

»Oh, ja, das stimmt schon. Daran fehlt es ihm nicht. Geld meine ich. Er ist schrecklich reich, einer der reichsten jungen Männer in der ganzen Welt ... Aber er hängt das Geld nicht an sich, er gibt alles weg, und dann ... George hat von Kind auf ein unglückliches Leben gehabt ... Sein Vater starb gewaltsam in der Umnachtung; in der Familie geht der Wahnsinn mehrere Generationen zurück ... die Mutter war eine gräßliche Frau; als George noch ein Kind war, brannte sie mit einem Manne durch. Eine Tante, die Schwester seines Vaters, hat ihn großgezogen, und diese Tante war auch halb verrückt ... Und nun lebt er ganz allein auf dem großen Gut, das er geerbt hat; er hat einen Bruder Dick, der ist zwei Jahre jünger, und George bekümmert sich die ganze Zeit um Dick.«

»Bekümmert sich?«

»Ja«, sagte das Mädchen ruhig. »Dick ist wahnsinnig. Er hat die Tobsucht. Er muß ständig Wärter haben. Wenn George zu Dick kommt, will Dick ihn jedesmal umbringen. Und George liebt ihn, er tut alles, was er kann, um Dick glücklich zu machen, und Dick haßt ihn so, daß er ihn umbringen würde, wenn die Wärter nicht wären. Das lastet nun die ganze Zeit auf George, er kann es keine Sekunde vergessen, und das ganze Leben ist ihm deswegen verleidet. Und doch zeigt er das nicht im geringsten, wenn man mit ihm spricht; er erwähnt es überhaupt nicht; er bleibt sich immer vollkommen gleich, mit wem er auch zusammenkommt, er ist immer gut und gütig und sanft und denkt nie an sich.«

»Und das ist wohl auch der Grund, weshalb er diese verschiedenen Lehren studiert, Christus und Sokrates und Konfuzius?«

»Ja«, sagte sie. »Und Buddha. Ich glaube es auch ... Er würde es wohl nie zugeben ... er hat auch nie so gesagt ... und man kann ihn doch unmöglich fragen ... aber ich glaube schon, daß das der Grund ist. Manchmal ist so etwas – etwas Verzweifeltes in seinen Augen«, sagte sie langsam nach einer Pause. »Es wird einem bang, wenn man es sieht ... es ist so ... ich kann mir vorstellen, daß ein Ertrinkender so einen Blick in den Augen hat.«

»Sie meinen, daß er befürchtet ... wahnsinnig zu werden?«

Sie schwieg einen Augenblick und ließ die Frage offen.

»Seit zwei Jahren studiert er die buddhistische Lehre«, sagte sie. »Er hat alle möglichen Leute im Haus gehabt, um von ihnen zu lernen, Hindus, Mystiker, Gelehrte, Wissende ... und er selbst ist mehr und mehr ... ich weiß nicht, wie man es nennen könnte ... mehr und mehr so eine Art Mystiker geworden.« Sie hatte diese letzte Äußerung getan wie jemand, der vor einem Rätsel steht und davon sprechen möchte. Sie schwieg alsdann eine Weile und bemerkte schließlich ganz sachlich: »Er geht nächstes Jahr nach Indien.«

»Um dort zu studieren?«

»Ja, ich glaube«, sagte das Mädchen und schwieg wieder. Und dann sagte sie leis: »Irgendwie ist diese Vorstellung furchtbar, nicht wahr? Ich hab' mich schon oft gefragt, ob George dann je zurückkommen wird. Vielleicht lieben wir alle ihn deswegen so sehr«, schloß sie ruhig, »es ist so, wie man einen tapferen, guten, sanften Menschen liebt, von dem man weiß, daß er sterben muß.«

Sie gingen langsam den mondweißen Weg entlang und schwiegen.

»Ich möchte auch, daß Sie Carl Seaholm kennenlernen«, sagte sie. »Er erscheint einem zunächst kalt und absonderlich, aber das ist nur seine ausländische Art. Er ist wirklich einer der liebsten und feinsten Menschen in der Welt.«

Nach einer Weile sprach sie weiter: »Sie wissen doch, wir heiraten im Oktober.«

»Ja, ich weiß es. Joel hat's mir gesagt. Werden Sie drüben leben ... in Schweden?«

»Nein, befürchte ich, leider nicht. Carl ist Diplomat, und solche Leute werden in der ganzen Welt herumgeschickt, sie müssen hingehn, wo sie hinversetzt werden.«

»Wissen Sie schon, wo Sie zuerst hinkommen?«

»Ja. Sein nächster Posten wird in Paris sein.«

»Ist Ihnen das angenehm? Gehn Sie gern nach Paris? Sagt Ihnen das Leben dort zu?«

»Ei natürlich!« erklärte sie mit einem vollen, warmen, leichten Lachen. »Ich mache nicht viel Ansprüche. Ich mag alles gern – bin überall glücklich – wo es auch ist. Ist das schlimm von mir?« fragte sie scherzhaft mit einem gütigen, leisen Lächeln.

»Nein, das ist sehr gut von Ihnen ... Sind Sie je in Paris gewesen?«

»Ja!« rief sie beglückt. »Und ich liebe Paris, finde es zum Anbeten schön. Ich habe dort Musik studiert. Mutter und ich haben zwei Jahre lang dort gelebt.«

»Da werden Sie Schwedisch und Deutsch und Italienisch und Spanisch und Russisch lernen müssen, alle die vielen Sprachen, nachdem Sie einen Diplomaten heiraten, nicht wahr?«

»Ja, all das!« sagte sie mit ihrem süßen, achtlosen Lachen. »Ich werde mich in eine richtige zweibeinige Berlitz School verwandeln müssen. Aber deswegen mach ich mir keine großen Sorgen. Ich bin sehr dumm, aber Carl ist so gütig und gescheit, daß ich es sicher trotz aller Hindernisse schaffen werde.«

»Da werden Sie dann in Paris und London und Rom und Berlin leben, in all diesen Hauptstädten, nicht wahr?«

»Ja, mein Lieber«, sagte sie in ihrem warmen, süßen Ton, in dem ständig etwas Mütterliches, duldsam-belustigt Humoriges schwang. »– und in Kopenhagen und Stockholm und Bukarest und Madrid und sogar in Pogo Pogo oder in China oder Peru, wo es gerade beliebt, daß wir hingeschickt werden. Zwei internationale Landstreicher, das wird das Leben sein, das wir führen werden.«

»Gott! Klingt das wundervoll! So eine Zukunft, wenn man so jung ist wie Sie!« platzte er täppisch heraus. »Aber ... sagen Sie, wird Ihnen dann nicht all dies ... ich meine diese Welt hier ... furchtbar weitweg vorkommen, und sehr seltsam erscheinen, wenn Sie zurückdenken?«

»Ja«, sagte das Mädchen still und dann kam es so sacht, als hauche sie die Worte nur, so sacht, daß er kaum hören konnte, was sie sagte: »– und ganz unausdenkbar schön.«

Er starrte sie eine Minute lang dumm verdutzt an. Sie hatte die Hände auf der Brust gefaltet in einer so schlichten, natürlichen Gebärde, das Mondlicht zauberte eine Aureole um die Seidensträhnen ihres braunen Haars, und plötzlich sah er, daß ihre Augen feucht waren.

»Sehr, sehr weit weg«, sagte sie leis, »und ungeheuer schön ... Verstehn Sie«, erklärte sie einfach, »dies ist meine Heimat. Ich liebe sie. Ich bin hier geboren.« Sie schwieg.

Nach einer Weile fragte Rosalind ruhig und in einem etwas sachlicheren Ton:

»Finden Sie nicht auch unser Gut, diese ganze Gegend hier schön?«

Er antwortete nicht sofort, im Augenblick war er sich nicht einmal bewußt, daß er ihre Frage gehört hatte. Er starrte sie komisch an mit offnem Mund und wie hypnotisiert. Er wurde sich einer tollen, unangemessenen Bestürztheit bewußt, einer jähen Benommenheit, einer ungereimten Verwunderung, und das war so, als wüßte er, wenn er alle Bücher und Gedichte der Welt gelesen und sich dann etwas so unmöglich Schönes wie dieses Mädchen vorzustellen versucht hätte, daß er nie, selbst mit dem höchsten Schwung der Einbildungskraft nicht, den Millionen-Meilen-Umkreis der Wirklichkeit erreichen könne.

Um ihren Kopf hatte der Mond die feinstrählige Aura aus Zauberlicht gelegt; das Kleid, das sie trug, war aus irgendeinem süßen, sommerfädenfeinen, hellmondblauen Stoff, und ganz wie mondgesponnen schien es zu fließen und zu wallen wie ein magischer Duftrauch; Rosalind selber aber war lieblich und süß und stark wie die Erde ringsum. Sie war kein Ding aus einer Elfenphantasie, sie war nicht geschmeidig und schlank und flüchtig wie eine Nymphe, sie war ein Wesen, warm und mit einem kräftigen Körper, ein Menschengeschöpf mit weiten, gebärfähigen Hüften, wohlig, sanft und umgängig von Natur wie eine Kuh, aber strahlend und schön von der Helle ihrer Mädchenhaftigkeit, voller Süße, Kraft und zärtlich heiterem Frohsinn.

Sie stand mitten auf der weißen, leeren Straße im Zauberschimmer des Monds, und er starrte sie ungläubig an wie ein Mensch, dem eine Traumgestalt begegnet, und der, obgleich er nicht weiß, ob er schläft oder wacht, dennoch klar die Wirklichkeit des Bildes erkennt. Er löste seinen faszinierten Blick von dem Bild und blickte unter sich auf die mondweiße Straße. Er stampfte mit dem Fuß auf, hackte und schürfte den Boden, um zu sehen, ob diese mondweiße Straße wirklich wäre. Und dann hob er den Blick und sah sie wieder an, und dann wandte er sich und sah über die weite, süße Flur, sah auf den im Mondlicht träumenden Weiden grasende und gelagerte Kühe, die ihn mit fremden, stummen Augen anguckten, sah die dunkelschlafenden, feierlich schönen, geheimniswilden Nachtgehölze, sah die große, wallende Erde, schlummernd und selig verwunschen, und weit drunten blitzend und blinkend, wie von Fischschwärmen gleißend, wie mit tanzenden Feuerschalen treibend und in all die Dunkelheit und Kühle des sammetbrüstigen Geheimnisses gebettet den fremden und stummen Strom, den heimsucherischen Strom, den großen Hudson River, der auf immerdar aus der dunkeln und heimlichen Erde die Quellen seiner tiefenlosen Gezeiten nehmend, dahinzieht, der in der Nachtzeit, im Dunkeln, im lautlosen Schwall seiner Flut auf immerdar – an dem fremden, heimlichen Land, der rätselhaften Erde, den schlafenden Städten und den verlornen einsamen Städtchen des dunklen Amerika vorbei – wie Zeit und Stille dahinzieht.

So fremd war sie, so unfaßbar lieblich, so drangsälig vertraut, diese großartige, wie zufällig hingeworfene Erde Amerikas. Sie schien jenseits des Säglichen und der Glaubbarkeit so sehr zu diesem Mädchen zu gehören und dieses Mädchen so sehr zu ihr, als habe diese verschwiegene Erde mit ihrem heimsucherischen Geheimnis, mit ihrem stillen Strom, mit all ihrer Süße, ihrem Gedüft, ihrer Fruchtbarkeit, mit ihren Beiläufig- und Belanglosigkeiten und mit ihrer unausgesagten Liebesfülle das Leben dieses Mädchens gespeist, als wäre sie in es eingegangen und hätte sein ganzes Wesen in aller Beschaffenheit geformt, als wäre sie wie eine Feiermusik dem Blut und der Seele dieses Mädchens auf immerdar vermählt, – und Eugen war es nun, als könne er nicht ertragen und zulassen, daß dieses Geschöpf von der ihm eigenen Erde weggerissen werden sollte. Er empfand diese Trennung als etwas Grausames, Zerstörerisches, Vergeuderisches, Sinnloses, als einen Verlust, ganz so, als würde von roher Hand eine seltene, herrliche Blume entwurzelt, aus dem einzigen Boden herausgerissen, der sie hervorbringen könne, einem Boden, der alsdann, dieser holden Blume beraubt, verarmt und elend wäre. Ein blinder, bittrer Groll begehrte in Eugens Gemüt auf, sein ganzes Herz wehrte sich dagegen, daß Rosalind von hier weggehe, und eine störrisch-unversöhnliche Stimme in ihm begehrte auf und sagte in einem fort: »Warum soll sie von hier weg? Warum verloren sein? Warum muß sie diesen verdammten Schweden heiraten?«

Auf der großen, mondbetrauften Weide neben dem Weg kamen die Kühe langsam näher, das duftige Nachtgras rupfend und käuend mit dem kühlen Gemalm ihrer Mäuler; sie kamen langsam und traulich verwundert näher mit dem Gereg ihrer ruhigen Körper, dem streifenden Geräusch der Hufe im Gehälm und dem schweifenden Geräusch ihrer trockenen Schwänze.

Rosalind tat ein paar Schritte und stellte sich an den Drahtzaun, und eine von den Kühen kam, nachdem sie das Mädchen mit ernstem, sanftem Blick betrachtet hatte, langsam auf es zu.

Die Kuh brachte die Drähte des Zauns zum Klingen, hob behutsam den Kopf herüber, und rieb die Nüstern liebkosend in der offenen Hand des Mädchens.

»Sie scheint Sie zu kennen«, sagte der junge Mensch.

»Ja«, sprach das Mädchen. »Ich kenne sie alle beim Namen, und sie kennen mich. Die Namen hab' ich ihnen selber gegeben. Diese da heißt Brindle. Sind sie nicht lieb?« fragte sie ruhig, während sie die Kuh streichelte. »So – so – sanfte Geschöpfe, zärtlich wie Schoßtiere. Und mit diesem gutmütigen Blick in den großen, weichen Augen. Sie kennen mich alle, und wenn ich sie bei Namen rufe, kommen sie.«

Die andern Kühe standen nun still, äugten herüber und kamen dann langsam mit dem streifenden Geräusch ihrer Hufe an den Zaun. Das Mondlicht spliß auf den kurzen, gebogenen Hörnern, es glomm auf großen, weißen Placken scheckigen Fells, es glitt um die mageren, dungbespritzten Flanken, es umfloß das träge, traute Wunder der langen, hageren Köpfe.

Und so wunderbar war dies alles – die schlafenden Wälder, die zaubrische Flur, die vom Mondlicht beglänzten Kühe und dazu der Nachtgeruch von Gras und Klee und Wiesenblumen, die magisch-warme Lieblichkeit des Mädchens, die süße, leise Stimme – daß es Eugen schien, sein ganzes Leben sei nur ein Vorspiel, eine Vorbereitung auf dieses Wunder gewesen. Er wußte nicht, was er sagen könne, aber der Drang zu sprechen schwoll in einer wilden Flut aus Zärtlichkeit und Leidenschaft in ihm auf, er spürte, daß er irgendwie etwas sagen müsse, und doch hatte er keine Worte, dieses Etwas auszudrücken; er griff nach ihren Händen und stammelte:

»Sehen Sie – und wenn ich eine Million Jahre alt werde, ich werde es niemals, niemals vergessen. Wie der Fluß heut abend war. Wie Joel mich empfing. Und wie ich dann Sie und Ihre Mutter und Ihre Freunde da droben im Mondlicht fand. Und wie der Fluß da drunten dann aussah. Und nun diesen Gang mit Ihnen – diesen Weg – das Feld da – und all diese Kühe auf der Weide – und Sie – Sie!! Ei bei Gott!« rief er dickzüngig, zusammenhanglos. »Sie sind das feinste Mädchen, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hab! Dieser Platz hier – diese Nacht nun – ist das Wundervollste – – –«

»Kommen Sie!« sagte Rosalind ruhig mit ihrem warmen jungen Lachen und nahm ihn am Arm. »Wir müssen zurückgehn. Die andern werden auf uns warten. Aber es ist schön gewesen, nicht wahr?«

»Ei, bei Gott!« murmelte er dickzüngig und griff wieder nach ihrer Hand. »– Ei, bei Gott! Bei Gott!«

 

Als sie zum Haus zurückkamen, waren die Gäste bereits im Aufbruch begriffen, standen aber noch in einer interessierten Gruppe um George Thornton, der Leibesübungen vormachte.

»Eine andre Sache«, sagte er in seiner ruhigen, angenehmen, tonlosen Stimme, »ist diese da. Das müssen Sie mal probieren.« Mit diesen Worten streckte er seine kleine, zierliche Gestalt, die zäh wie Hickory und geschmeidig wie eine Peitsche war, flach auf den mit Klinkern belegten Boden der Terrasse.

»Versuchen Sie das gelegentlich mal«, rief er. Seine gleichmäßige Stimme klang eigenartig gedämpft, wie mit Leisheit belegt, düster eindringlich in der tiefen Mondstille der Nacht. »Einfach flach auf dem Rücken liegen, so, wie ich es vormache.« Und er lag da, klein, anmutig, wunderbar biegsam, vollkommen entspannt.

»Und dann was, George?« fragte Mrs. Pierce interessiert.

»Nichts! Einfach daliegen«, erklärte die hohle, verhangene Stimme. »Es entspannt. Mir hat ein Hindu gezeigt, wie man es macht.«

»Aber das bringt doch jeder fertig«, wandte Howard Martin ein in seiner manierierten, ziemlich weibischen Stimme. »Das brächte selbst ich fertig, George.«

»Nicht so leicht, wie Du denkst«, erklärte George. »In Wirklichkeit macht es sehr viel mehr Mühe, sich völlig zu entspannen, als man annehmen möchte. Wir sind alle gewissermaßen verknotet, wie aus fester Kordel geknüpft und viel unlockerer, viel ungelöster, als wir ahnen. Und was man da tun muß, ist sich entspannen, sich vollständig entspannen, sich ganz und gar aus der Gespanntheit entlassen. Du mußt also so daliegen, daß alles, der Hinterkopf, die Schultern, die Wirbelsäule, der ganze Körper flach auf dem Boden ruht. So!« sagte er. Die schicksälig verhangene Stimme klang sonderbar eindringlich, da sie von einer scheinbar leblosen Gestalt ausging. »Es ist gar nicht so leicht, aber man kann es lernen.«

»O bitte, laß mich das mal machen, ich möchte das gern versuchen!« rief der kleine Howard, begierig wie ein guter Junge und mit einer Unbefangenheit, die anziehend und rührend war. Unbekümmert um das Gelächter der Gruppe legte er sich sofort neben George auf den Boden und streckte sich aus. Seine forsche, kleine Gestalt wirkte ungeheuer komisch, als er sich bemühte, Georges Anweisungen zu befolgen und Georges Lage nachzuahmen.

»Wie ist es jetzt, George?« fragte er nach einer Weile. Er lag unbeweglich da. »Hab' ich's jetzt heraus?«

»Nein, Howard, noch nicht. Gib mal acht, Du mußt Dich vollständig flachmachen, Du mußt Dich gehenlassen, so daß alles an Dir schlafft, bis Dein Rücken flach auf dem Boden ruht.«

»Aber ich liege flach! Ich liege flach!« begehrte Howard so komisch empört auf, daß alle Leute lachen mußten und selbst George sein feines, seltenes, ernstes Lächeln lächelte. »Wahrhaftig!« erklärte Howard, als sich das Gelächter gelegt hatte, »wahrhaftig!« stöhnte er wie ein Mann, der mit dem Tode ringt, »wenn ich noch flacher wäre, kam ich mir wie ein Pfannkuchen vor.«

»Also, Howard, Du hast es noch nicht heraus«, sagte George ruhig nach einem Augenblick beobachtender Stille. »Sieh mal, Dein Kreuz ist wirklich noch gebogen, und nicht entspannt. Dein Rücken ruht also noch nicht auf dem Boden. Die Sache aber ist die, daß Du Dich flachmachen mußt wie ein Brett. So –«, sagte er und drückte mit seiner kräftigen, kleinen, bronzebraungebrannten Hand Howards Magen herunter. Howard grunzte einen leisen Protest, blieb aber liegen. George, der nun nochmals Howards Lage genau prüfte, nickte zustimmend und erklärte:

»Ja, das ist besser. Nun kriegst Du es heraus. Aber das mußt Du täglich üben. Es sieht leicht aus und ist schwer.«

»Was mich interessiert, George«, fragte nun Mrs. Pierce, während Howard aufstand, »ist, wie Du's fertigbringst, körperlich so in Form zu bleiben. Und diese Tänzertaille! Es gibt einen Fluch des Frauendaseins, mein Lieber, und wenn Du mir verraten kannst, wie man um die Hüften schlank bleibt, werd' ich Dir ewig dankbar sein.« Sie selbst war zwar schlank und in Form wie ein Rennpferd, aber demungeachtet antwortete ihr George, der noch auf dem Boden lag, in aller Ruhe:

»Hast Du das mal versucht, Ida? Ich glaube, das dürfte eine ausgezeichnete Übung gegen Hüftspeck sein. Du legst Dich flach auf den Rücken, – so – die Arme bleiben gestreckt auf der Seite liegen, – sie und auch der Kopf dürfen bei dieser Übung überhaupt nicht bewegt werden. Dann die Beine. Sie müssen ganz grad sein, Knie durchgedrückt, – so – und dann«. Mit harter Muskelkraft und Ausdauer machte er die Bewegung vor, die er nun beschrieb. »Die Beine heben, bis sie im rechten Winkel zum Oberkörper stehen, und wieder strecken, – heben, strecken – heben, strecken – heben, strecken – und wenn Du das hundertmal am Tage machst, nach dem Aufstehn und vorm Zubettgehn, dann glaube ich nicht, daß Du je um die Leibesmitte Fett ansetzen wirst.«

»Ich kenne die Übung«, pflichtete Joel heftig nickend bei. »Ich hab' sie probiert. Sehr gut! Aber hundertmal ist eine Zumutung. So oft bringt sie ein Anfänger kaum fertig.«

»Ja, aber man gewöhnt sich dran, wenn man sie täglich macht. Ich kann sie ohne Beschwer hundertmal machen«, sagte George ruhig.

»Ei freilich«, lispelte Joel, »Du bist auch hart wie Stein, George. Du kannst alles.«

»Aber so schwer sieht die Übung doch nicht aus«, sagte Howard wieder mit fröhlichem Selbstvertrauen. » Die bringe ich ganz bestimmt fertig«, meinte er geziert. Und ohne viel Federlesen zu machen, legte er sich wieder unter dem Gelächter der Anwesenden auf den Boden, lag da, streckte die Beine, die in forschen Flanellhosen staken, und schickte sich, von George angewiesen, an, die Übung vorzumachen. Unter schmerzlichem Stöhnen brachte er sie dreimal fertig, beim viertenmal gab er auf, erkannte sich geschlagen und erklärte, während er wieder aufstand: »O Gott, wenn ich das hundertmal machen müßte, könnte mich der Leichenbestatter holen.«

»Und dann ist dies noch eine gute Übung, Ida«, fuhr George mit seiner ruhigen, angenehmen Stimme fort. »Kräftigend für die Rücken- und Bauchmuskeln. Das Bogenmachen. Man spannt dabei den Körper vom Hals zu den Füßen zu einem Bogen, – so –.« Sofort war sein starker, schmaler, wohlproportionierter Körper zum Bogen gespannt. »Und dann sich langsam herunterlassen.« Er ging langsam wieder in die Strecke. »Und dann wieder den Bogen.« Er führte die Übung aus.

»Aber das sieht furchtbar schwer aus. Könnte ich nie lernen. Das ist ja ein regelrechtes Zirkuskunststück«, protestierte Mrs. Pierce.

»Doch«, sagte er auf seine ruhige, tonlose Art. »Du könntest das lernen, Ida. Am Anfang ist es freilich schwer, aber das Können kommt mit der Übung. Es kräftigt ungemein«, erklärte er mit einer vollkommen unpersönlichen Sachlichkeit. »Sieh mal!« Er spannte den straffen, zähen Körper wieder zum Bogen und hielt ihn in dieser Positur. »Ich könnte das unendlich lang tun. Man wird hart dabei wie Schmiednägel«, bemerkte er ohne eine Spur von Eitelkeit oder Selbstbefangenheit. »Ich könnte das Gewicht eines Menschen so tragen und die Last sogar heben.«

»Was Du nicht sagst!« wisperte Joel erstaunt. »Einfach unglaublich!«

»Gar nicht erstaunlich«, meinte George ruhig. »Die leichteste Sache von der Welt, wenn man sich dran gewöhnt hat. Komm mal her, Howard, und setz Dich auf mich«, sagte er. Er verblieb unentwegt in der Bogenpositur.

»Mich auf Dich setzen?« fragte Howard komisch bestürzt. »Ei wohin denn, George?«

»Auf meinen Magen«, erwiderte George und lächelte sein feines, ernstes Lächeln, als er Howards Zögern sah. »Schon recht, Howard. Setz Dich ruhig drauf. Mir tut das nicht weh.«

»So etwa? So?« fragte Howard, als er sich schließlich peinlich behutsam auf Georges Magen setzte. Sein Gesicht bekam einen so komisch besorgten und fragenden Ausdruck, daß jedermann lachen mußte. »Ist es so recht? Geht es so?« fragte er ängstlich.

»Ja, vollkommen. Nun zieh Deine Knie hoch, Howard, und halte sie mit den Armen ein, so daß Dein ganzes Gewicht wie ein Päckchen auf mir lastet. Gut! So ist's richtig. Nun, bist Du fertig? ... Eins, zwei ... Eins, zwei ... Eins, zwei.« Georges geschmeidig gestählter Körper hob und senkte, bog und streckte sich, während Howard auf ihm saß und aussah wie ein furchtsam zusammengekauerter Zwerg. Als die Vorführung beendet war, standen die beiden jungen Männer auf, und Joel rief, erstaunt wispernd und mit einem von Bewunderung strahlenden Gesicht:

»Einfach unglaublich!!«

Und Mrs. Pierce gab mit ihrer stärkeren, eindringlicheren Stimme langsam, Wort für Wort, die entschiedene Erklärung ab:

»George! Das ist das Erstaunlichste – wirklich, ich glaub', das ist das Erstaunlichste – –«

Sie hatte keine Worte für ihr Erstauntsein. Sie sah ihn an, der ganz ruhig gefaßt vor ihr stand mit seiner ganzen, geschmeidigen Anmut und Stille, sein ernstes, seltnes Lächeln lächelnd.

»Wirklich, Ida«, sagte er und lächelte sie mit dem feinen, leisen Lächeln an. Und nun kam die einzige spaßhafte Bemerkung, die er an diesem Abend machte: »Wenn Du Dir wirklich Sorgen wegen Deiner Mädchenfigur machst, dann versuche doch einfach dies.« Mit diesen Worten bog er sich herunter, geschmeidig wie eine Peitsche, stützte die Fingerspitzen auf den Boden, und ganz plötzlich, mit vollkommner Anmut und Geschwindigkeit und ohne auch nur einen Zoll von der Stelle zu geraten, schlug er ein dutzendmal das Rad aus dem Stand, und zwar so glänzend, daß es einem Parterreakrobaten zur Ehre gereicht hätte.

Und dann stand er wieder anmutig und völlig unermüdet aufrecht unter dem atemlos und freimütig gespendeten Beifall der Gesellschaft.

Aber nun war es wirklich Zeit zum Heimgehen geworden. Man hörte draußen einen Kraftwagen vorfahren. Eine Minute später erschien unauffällig ein Dienstmädchen auf der Terrasse und meldete Miss Telfair, daß ihr Wagen warte. Miss Telfair zog den Abendmantel um ihre zarten, porzellanenen Schultern, drückte Mrs. Pierce schnell und fest zum Lebewohl die Hand, wandte sich und sagte in ihrer spröden, helleindringlichen Stimme: »Also, Kinder, ich gehe weg ... Joel«, sie hielt schon im Weggehn einen Augenblick inne. »Ich erwarte Dich und Deinen jungen Freund morgen zum Tee bei mir.«

»Kommst Du morgen vormittag zum Schwimmbad, Margaret?« rief ihr Mrs. Pierce nach.

»Kann ich noch nicht sagen, meine Liebe, ich werde aus der Stadt angerufen. Also, wir werden schon sehn. Gute Nacht allseits«, sagte sie und ging durch die mondbeglänzte Tür ins Haus.


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