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Nachwort

 

»Darum mäßigen wir uns, üben wir die Resignation, daß wir auch die teuersten Probleme, die wir aufstellen, doch immer nur als Probleme geben, daß wir es hundert und hundertmal sagen: Haltet das nicht für feststehende Wahrheit, seid darauf vorbereitet, daß es vielleicht anders werde; nur für den Augenblick haben wir die Meinung, es könne so sein.«

(Rud. Virchow: »Über die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat.«)

 

Als das Orakel zu Delphi den Sokrates für den weisesten aller Männer erklärt hatte, wurde der bescheidene Weise beinahe irre an der Autorität des Orakels; denn er sagte sich, daß er weder im Großen noch Kleinen weise sei, sondern so gut wie nichts wisse. Um nun zu erfahren, was der Gott gemeint haben könne, ging er zu allen denen, die für weise galten, und die er selber für solche hielt, die mehr wüßten als er, und prüfte die Weisheit dieser Leute. Zuerst wandte er sich an einen berühmten Staatsmann, und da fand er, daß von wirklicher Weisheit bei dem Manne keine Rede sei, daß er aber vielen andern Menschen, am allermeisten jedoch sich selbst sehr weise vorkomme. Und Sokrates dachte bei sich selbst: »Weiser als dieser Mann bin ich freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser meint doch etwas zu wissen, während er nichts weiß, ich aber, wie ich nichts weiß, so bilde ich es mir auch nicht ein! Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, mir auch gar nicht einbilde zu wissen.«

Sokrates ging nun umher bei allen, die für weise galten, bei Staatsmännern, Dichtern und Künstlern, und überall fand er die gleiche Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, und dadurch, daß er versuchte, ihnen klar zu machen, daß sie im Grunde nichts wüßten, machte er sich diese Leute zu Todfeinden, weil er ihren hohlen Dünkel verletzte.

Schließlich gelangte Sokrates zu einer Erklärung des Orakelspruches, die wir mit seinen eigenen Worten (nach Plato) hier wiedergeben: »Und so scheint wohl, ihr Athener, der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel zu meinen, daß die menschliche Weisheit sehr wenig nur wert ist oder gar nichts, und offenbar will er dies, nämlich, daß Sokrates der Weiseste unter den Menschen sei, nicht von Sokrates sagen, sondern nur mich zum Beispiel wählend hat er sich meines Namens bedient, wie wenn er sagte: Unter euch Menschen ist der weiseste, wer wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.« Nach Platons Apologie 9, übersetzt von Dr. Max Oberbreyer. Leipzig, Philipp Reclam jun.

Merkwürdig stimmt diese Erkenntnis des Sokrates überein mit allem, was die Heilige Schrift, 1. Kor. 8, 2, über menschliche Weisheit sagt.

Es ist etwas Schönes und Wertvolles um menschliche Wissenschaft, sobald wir sie beherrschen und uns nicht von ihr beherrschen lassen. Der wahrhaft Weise sieht in der Wissenschaft ein wichtiges Hilfsmittel für allen menschlichen Fortschritt, aber er bildet sich nicht ein, sie könne ihm irrtumsloses Wissen bieten. Die große Menge nicht bloß der Halbgebildeten, sondern auch vieler Hochgebildeter wird aber vom eigenen Wissen so geblendet, daß sie in der Wissenschaft eine unfehlbare Wahrheitsquelle sieht und meint, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus mit spöttischem Lächeln über Glaubenswahrheiten und Erfahrungstatsachen aburteilen zu können.

Die Jugend, der Gelegenheit geboten ist, sich so viele Errungenschaften menschlicher Wissenschaft anzueignen, soll sich mit allem Ernst und Eifer diese Schätze zu eigen machen; dabei aber bleibe sie sich stets bewußt, daß die Wissenschaft ihr nie untrügliches Wissen bietet, sondern nur Vermutungen: daß sie auch nicht das geringste bis in seine letzten Anfänge erklären kann und auch da, wo sie etwas zu erklären versucht, nur von Wahrscheinlichkeiten ausgeht, die man Hypothesen nennt, und die mit der fortschreitenden Erkenntnis beständigem Wechsel unterworfen sind.

Die Wissenschaft kann daher niemals etwas für unmöglich erklären; denn was für ihr heutiges Erkennen unmöglich erscheint, können neue Entdeckungen schon morgen als etwas Tatsächliches erweisen.

Weil aber so viele ihr Wissen nicht beherrschen, sondern wie jene Weisen zu Sokrates' Zeiten von ihrer eigenen Weisheit gar zu hoch denken, erlebt man es immer wieder, daß vom wissenschaftlichen Standpunkt aus vieles geleugnet, für unmöglich erklärt, mit Hohn oder Eifer zurückgewiesen wird, das späterhin notgedrungen auch wissenschaftlich anerkannt werden muß.

So wurden die Riesenvögel der orientalischen Märchen für Hirngespinste angesehen und die Berichte eines Marko Polo über ihr Vorhandensein als Schwindel betrachtet, bis man neuerdings auf Madagaskar ihre Eier entdeckte.

So wurden die alten Sagen von Zwergvölkern, so allgemein sie verbreitet sind, und so sehr sie miteinander übereinstimmten, ins Reich der Fabel verwiesen, und als der Afrikareisende Schweinfurth solche Völker entdeckte, fand er keinen Glauben; bis neuerdings ihr wirkliches Vorhandensein über alle Zweifel erhoben wurde.

So konnte es die französische Akademie der Wissenschaften noch vor wenigen Jahrzehnten für einen Aberglauben erklären, wenn man behauptete, es könnten Steine vom Himmel fallen. Aber ihre feierliche Erklärung wurde kurz darauf widerlegt, da ein großer Meteorsteinhagel in Frankreich niederging.

Wie es der Wissenschaft mit dem australischen Bumerang ging, möge man in Ronins »Jagden in fünf Weltteilen« nachlesen. Solcher Beispiele könnte man noch unzählige aufführen – und doch verfallen blinde Jünger der Wissenschaft immer wieder in den Fehler, an die Unfehlbarkeit der sogenannten wissenschaftlichen Ergebnisse zu glauben, die zur Zeit als feststehend gelten, und von ihrer Höhe aus über Dinge abzuurteilen, die über ihren vorläufigen Horizont hinausgehen. Sie vergessen, daß die Wissenschaft niemals abgeschlossen ist, sondern in ihren Erkenntnissen fortschreitet und dabei immer wieder als Irrtümer umstoßen muß, was ihr zuvor unfehlbar festzustehen schien.

Diese falsche Vergötterung menschlichen Wissens hindert nicht bloß den raschen Fortschritt – denn wie viele Erfindungen, wie viele Entdeckungen werden immer wieder verzögert oder verhindert, weil die Vertreter der Wissenschaft sie für unmöglich erklären Die Entdeckung Amerikas wurde verzögert durch den Unglauben der damaligen Vertreter der Wissenschaft, ebenso die Erfindung des Dampfschiffs, der Gasbeleuchtung und unzählige andere. Die Erfinder wurden von wissenschaftlichen Autoritäten meist für verrückt erklärt. Wissenschaftliche Bedenken verzögerten lange die Einführung der Eisenbahnen, hinderten die Entwicklung des Unterseeboots, des Telephons und des Zeppelinschen Luftschiffes usw. usw. – nein! auch so mancher leidet an seinem Glauben Schiffbruch in dem Wahne, die Wissenschaft könne ihm Wahrheit bieten, und wo sie im Widerspruch mit der Offenbarung stehe, da sei der Offenbarungsglauben unhaltbar.

Darum, eignet euch an, was ihr von menschlicher Wissenschaft euch aneignen könnt, aber beherrschet euer Wissen in der allein vernünftigen Erkenntnis, daß es Stückwerk ist und niemals einen sicheren, unwandelbaren Boden bietet, auf den wir unsere Überzeugungen gründen könnten.

Goethe zeigt uns im Faust die Lächerlichkeit wissenschaftlicher Hohlköpfigkeit in dem Eigendünkel des Famulus Wagner, der, von seinem geringen Wissen geblendet, staunt, wie herrlich weit wir's gebracht haben, und alles wissen möchte, während er sich einbildet, schon viel zu wissen. Der wahre Weise und Gelehrte Faust hingegen erkennt genau, daß er trotz allen Studierens im Grunde so klug geblieben ist wie zuvor – er fühlt sich als einen armen Toren, so sehr man seine Gelehrsamkeit bewundert. Er steht auf dem einzig richtigen Standpunkt des Sokrates und des Paulus, daß es mit unserem Wissen nichts ist.

Daran wird man, wie zu Sokrates' Zeiten, jederzeit den wahren Weisen erkennen, daß er an das eigene Wissen nicht glaubt, sondern erkennt, daß alles, was die Wissenschaft ihm bietet, zweifelhaft ist, daß er also im Grunde gar nichts gewiß weiß. Dann kann auch die Wissenschaft nicht wider den Glauben streiten. Leider sind auch in der Gelehrtenwelt diese wahren Weisen selten, und auch hier stehen so viele auf dem geistig beschränkten Standpunkt des Famulus Wagner.

 

Südamerika ist ein merkwürdiges Land: während im Norden der Landenge von Panama im blutigen Kampfe mit grausamen Indianerstämmen jeder Schritt Landes von der Kultur erobert wurde und uns kaum noch die eisigen Gefilde Alaskas Unbekanntes bieten, haben wir hier noch gewaltige Länderstrecken, die keines Weißen Fuß betreten hat, und die niemand zu erforschen unternimmt: Afrika ist schon genauer bekannt als diese Urwälder und Llanos zwischen den Anden und dem Orinoko.

Und obgleich die Gegenden, in denen sich nach übereinstimmenden Kunden das Reich des Dorado finden sollte, bis heute nicht erforscht wurden, obgleich seit Hutten die Stätte nicht mehr betreten wurde, wo dieser Held die Goldstadt der Omagua erblickte, obgleich die Napo noch heute mit Goldstaub gefüllte Bambusstäbe nach Quito bringen, hält die Wissenschaft El Dorado für ein Hirngespinst, das die Eldoradosucher narrte; und man lächelt heute über jene »leichtgläubigen«, »wundersüchtigen« Abenteurer.

Trotz aller so bestimmten Erzählungen über die Amazonen, die in einer Gegend leben sollten, die ebenfalls bis heute noch nicht erforscht wurde – wer glaubt noch an ihr früheres oder jetziges Vorhandensein? Und doch wagte Humboldt selber nicht daran zu zweifeln, daß den so übereinstimmenden Berichten Tatsachen zugrunde liegen müßten.

Und die Amazonensteine? – Ihr Vorhandensein ist unleugbar, und die aus ihnen gefertigten Kunstwerke erscheinen als unerklärliche Wunder – ihre Fundorte aber sind bis heute nicht entdeckt.

Das Streben der Alchimie, unedle Metalle in Gold und Silber zu verwandeln, galt lange Zeit der aufgeklärten Wissenschaft für eine kindische Torheit; neuerdings muß die Wissenschaft ihre Übereilung einsehen und kann die Möglichkeit von Umwandlungen der Metalle nicht mehr ernstlich leugnen.

Alles in allem, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus darf einfach nichts für unmöglich erklärt werden; denn wer von der Wissenschaft nicht geblendet ist, sondern beherrschend über ihr steht, der weiß, daß des Unbekannten und Unentdeckten auf wissenschaftlichem Gebiete viel mehr, unendlich viel mehr ist als des Bekannten, und daß das Bekannte selbst zweifelhaft bleibt; jede Stunde kann durch ungeahnte neue Entdeckungen alles umwälzen und zunichte machen, was die blinden Jünger der Wissenschaft für unumstößlich, für alle Zeiten feststehend hielten. Das lehrt uns auf Schritt und Tritt die ganze Geschichte der Wissenschaft.

Und so will auch unsere Erzählung vom Dorado dem vernünftigen Leser, dem alten wie besonders dem jugendlichen, zu Gemüte führen, wie so vieles möglich, ja wahrscheinlich ist, für das so mancher in eitlem Bildungswahne nur ein mitleidiges Lächeln übrig hat, meinend: »Über diese Fabeln und Phantasien sind wir Kinder einer aufgeklärten Zeit weit hinaus!«

Es wird ja, wie bei den Geschichten eines Jules Verne, auch bei dieser Erzählung selbst der jugendliche Leser sich darüber klar sein, daß ihm in der Schilderung des Amazonenreiches und Manoas mehr Phantasie als Wirklichkeit geboten wird. Aber diese Schilderungen möchten den Eindruck erwecken, als ob sie nichts tatsächlich Unmögliches enthielten. Wir wünschten, unsere Erzählung könnte so überzeugend wirken, daß viele ihrer Leser dauernd davor bewahrt bleiben, solche blinde Anbeter der wissenschaftlichen Autorität zu werden, wie der Famulus Wagner und die weisheitstrunkenen Zeitgenossen des Sokrates. Es ist wohl ein stolzes Hochgefühl, daß die aufgeblasene Brust eines Mannes oder Jünglings schwellt, der sich einbildet, durch die Wissenschaft sich einen großen Schatz »ewiggültigen« Wissens angeeignet zu haben. Im Grunde aber ist es der lächerliche Wahn des Frosches, der seinen Tümpel für das Weltmeer hält.

Es bleibt bei der Erkenntnis des Sokrates: keiner ist wahrhaft weise, als wer die Unzulänglichkeit alles menschlichen Wissens einsieht.

Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft ist nicht minder töricht und gefährlich als ein anderer krasser Aberglaube. Darum auf zu einer höheren, vernünftigeren und menschenwürdigeren Erkenntnis! Nicht aber um die Arbeit der Wissenschaft zu verachten und für entbehrlich zu halten, sondern um sie fruchtbarer zu machen dadurch, daß ihr euer Wissen beherrscht, statt seine Sklaven zu werden. Vergleiche hierzu auch das Gespräch über die Wissenschaft in Kapitel 49 dieses Buches.


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