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11. Über die Küsten-Anden

Bei Einbruch der Dunkelheit war Manuel, der Diener des Herrn Lehmann, der zum Führer unserer Freunde ausersehen war, in der Posada, in der sie herbergten, eingetroffen. Hier erfuhr er, daß die jungen Herren noch nicht wiedergekehrt seien. Als er vom Hafen her den großen Tumult und Schüsse vernahm, eilte er dorthin, teils aus Neugier, teils aus Besorgnis für seine neuen Herren. Manuel war gut bewaffnet und besaß, wenn auch wenig Mut, doch Schlauheit genug, um für sich nichts zu befürchten. Am Hafen angelangt, sah er den Rückzug der Deutschen nach der Valesia und den weiteren Verlauf der Dinge mit an. Aus der Auskunft, die er auf seine vielen Fragen erhielt, entnahm er, daß der Schlag hauptsächlich auf eben die jungen Herren abgesehen war, die er führen sollte, und er rechnete ganz richtig, daß man scharf aufpassen werde, ob diese das Schiff verlassen würden.

Schnell hatte er seinen Plan gefaßt; er eilte in die Posada zurück, in der er gut bekannt war. Dort ließ er sich die Maultiere der Deutschen vorführen und ihr Gepäck ausfolgen. Dies lud er einem dritten Maultiere auf, das ihm sein Herr zu diesem Zwecke noch mitgegeben hatte; dann begab er sich auf Umwegen durch einsame Gassen an die abgelegenste Stelle der Bucht, wo er die Tiere im Manglegebüsch verbarg und festband.

Hierauf bestieg er ein Boot, fuhr durch die Kanäle zwischen den Bäumen hindurch in den offenen Hafen und kam so, ohne von der Hafenseite aus gesehen werden zu können, der Valesia nahe.

Seine Annäherung wurde, so leise er ruderte, von einem wachsamen Posten bemerkt, und ein Gewehrlauf blinkte ihm drohend entgegen. Aber leise rief Manuel auf deutsch empor: »Gut Freund!« Von seinem Herrn, der meist mit der kleinen Inez Deutsch sprach, hatte er diese Sprache notdürftig gelernt, während seine Muttersprache das Spanische war.

»Was ist los?« fragte der wachhabende Offizier, der den Vorgang bemerkte. Als der Posten ihm Meldung erstattet hatte, beugte sich der Offizier vorsichtig über die Brüstung. Er sah alsbald, daß ihm von dem einzelnen Manne, der sein Gewehr im Boot niedergelegt hatte, keine Gefahr drohte, und erkundigte sich auf spanisch nach seinem Begehr. Manuel erwiderte, er wolle die jungen deutschen Herren abholen. Hierauf wurde er an Bord gehißt, und an seiner Stelle begab sich ein deutscher Matrose in den Nachen, um ihn in der Nähe zu halten.

Inzwischen saßen Ulrich und Friedrich ganz gemütlich in der Kajüte und plauderten mit dem Kapitän und den Offizieren.

»Ich möchte nur wissen, warum die Leute von Puerto Cabello uns in so großer Anzahl auflauerten und überfielen,« hub Friedrich an, der eine Weile nachdenklich dagesessen hatte: »wir gaben ihnen doch nicht den geringsten Anlaß.«

»Braucht's nicht bei diesem Pöbel!« erwiderte ein Offizier. »Sie glauben nicht, wie rasch sich das Blut dieser Kerls erhitzt; ein kleines Mißverständnis genügt ihnen, um Blut zu vergießen. Erst letzthin wurde ein Deutscher wegen nichts und wieder nichts ermordet. Nun, aus so was macht man ja keine Staatsaktion, wenn es nicht gerade ein Gesandter oder ein katholischer Missionar ist; aber diese verlotterten Republikaner zahlen auch keine Schulden. Geben Sie acht, wegen dieses Punktes geht es noch einmal los! So ist es in der modernen Diplomatie: solange die Türken bloß Armenier schlachteten, mischte sich keine europäische Macht ernstlich drein. Als es sich aber um ein paar tausend Franken handelte, die der Sultan nicht berappen wollte, flugs wurde eine französische Flotte mobil gemacht.«

»Ja, in Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf!« lachte der Kapitän. »Ich glaube auch, daß die Borgwirtschaft der Venezolaner die längste Zeit gewährt hat. Man wird einmal mit einigen Kriegschiffen einen gelinden Druck ausüben, bis die Herren sich erinnern, daß Schuldenmachen eine schöne Sache ist, daß aber die Kehrseite mit dem Zahlen nicht ausbleibt.«

»Fabelhafte Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit zugleich bei diesen Mischlingen!« nahm der Offizier wieder das Wort. »Wie reich könnte dieses Land sein mit seinen unerschöpflichen Hilfsquellen; aber es ist kein Unternehmungsgeist, keine Tatkraft da, auf Händel verstehen sie sich, nicht aber auf Handel. Deshalb sind auch die meisten Kaufleute Ausländer. Diese würden die besten Geschäfte machen, – aber man bleibt ihnen alles schuldig, und wagen sie dagegen aufzubegehren, so erregen sie damit die leidenschaftlichste Volkswut, als ob sie wer weiß welche haarsträubende Ungerechtigkeit begingen, wenn sie ihr Guthaben fordern.

»Die Regierung ist schwach und hat unaufhörlich mit Revolutionen zu kämpfen; Präsident Castro ist überdies ein eitler Prahler, ein Mann der Worte und nicht der Tat; er tut, als fürchte er sich vor der ganzen Welt nicht und habe die Pflicht, die armen unschuldigen Schuldner gegen ihre Gläubiger zu verteidigen; dabei weiß er sich im eigenen Lande nicht zu helfen. Na, warte nur! Er verläßt sich immer darauf, daß man nicht Ernst mache und setzt daher allen Forderungen, Mahnungen und Drohungen leere Worte und Ausflüchte entgegen. Der Krug geht nicht mehr lange zum Brunnen! Und sobald wir ein klein wenig scharf auftreten, wird die Sache bald anders aussehen. So leidenschaftlich, rauflustig und großsprecherisch diese Republikaner sind, so feige sind sie im Grunde. Darum hört auch die Revolution nie recht auf; entscheidende Siege können nicht erfochten werden, wo es auf beiden Seiten an Mut und Entschlußkraft fehlt. Die Regierungstruppen haben so wenig Manneszucht wie die Rebellen. Soldaten? Ne! das gibt es da gar nicht: schauderhafte Zustände! Wenn wir einmal einige Kompanien landen – und so weit wird es wohl bald kommen –, da werden sie laufen wie die Hasen. Schade, daß die mittelalterlichen Eroberungszüge nicht mehr beliebt sind; hier könnten wir ohne viel Blutvergießen ein ausgedehntes, reiches Land erobern, für das es ein Segen wäre, wenn es einmal unter stramme Zucht käme.«

Während der Offizier noch redete, wurde Manuel in den Raum geführt. Er konnte sich als Diener Lehmanns ausweisen, hatte auch noch einen Brief seines Herrn den jungen Leuten zu überbringen. Dennoch erfolgte eine lange Beratung, ob man ihm unter den gegenwärtigen Umständen die Schützlinge der Valesia anvertrauen dürfe. Da aber diese ihre Reise nicht länger hinausschieben wollten und Manuel versicherte, er werde sie ungefährdet aus der Stadt bringen, hielten schließlich alle diesen Ausweg für den geeignetsten; eine Verzögerung der Abreise konnte Ulrichs und Friedrichs Lage nur verschlimmern, da sie nun einmal auf ihrem gefahrvollen Plane verharrten. So verabschiedeten sich denn Offiziere und Mannschaften aufs herzlichste von den mutigen Knaben, und der Kapitän ließ es sich nicht nehmen, jedem von ihnen ein Magazingewehr neuester Bauart zu verehren, und ihnen so viel Munition dazu mitzugeben, daß er scherzend meinte, damit könnten sie ganz Venezuela und Kolumbien von Rebellen säubern und noch dazu die Ungeheuer des Urwalds ausrotten.

Nachdem Manuel unsere Freunde durch die Manglekanäle gerudert hatte, bestiegen sie alsbald die am Ufer angebundenen Maultiere und trabten durch abgelegene Gassen aus Puerto Cabello hinaus. Der Führer schritt voran, das Lasttier mit dem Gepäck vor sich hertreibend. Sehr angenehm und erfrischend begrüßte die Reisenden draußen eine kühle Seebrise, von der man in den dumpfigen Straßen nichts gespürt hatte; dafür hatten sie nun aber auch unter den quälenden Stichen zahlreicher Stechmücken zu leiden, gegen die kein wirksames Schutzmittel bekannt ist, dafür aber eine Menge von solchen, die nichts helfen. Der rotbraune Weg, der vom zunehmenden Monde grell beleuchtet war, führte durch eine mit einer Salzkruste bedeckte Ebene, die sich in der Regenzeit in einen Morast verwandelt. Alles wimmelte von Krabben, und zu Tausenden ließen die Zikaden ihr eintöniges, schwermutsvolles Lied ertönen. Allmählich begann die Straße zu steigen und erreichte in einer Höhe von fünfundsiebzig Metern die Porta Chuela, den Eingang zum herrlichen Tale von San Esteban, wo die ausländischen Kaufleute ihre prächtigen Landhäuser angelegt haben.

Ein Blick zurück gewährte eine prachtvolle Aussicht auf das mondbeleuchtete Häusermeer von Puerto Cabello und die weite verdämmernde See. Dann nahmen unsere Freunde Abschied von der Küste; das Meer sollten sie für lange, lange Zeit zum letzten Male gesehen haben.

Unter Kokospalmen und Mimosen, an denen sich herrliche Aristolochien mit großen blau und purpurn schillernden Blüten emporschlängelten, ging es nun weiter. Die langen Blüten der Vanille erfüllten die Luft mit betäubendem Wohlgeruch. Unmöglich wäre es, die Menge der verschiedenartigen Bäume auch nur aufzuzählen, die in tropischer Üppigkeit den Weg säumten: alle Sorten von Palmen mit ihren zierlichen und doch großartigen Wedeln, Pisang mit ungeheuren vom Winde zerfetzten Blättern, Tausende von Camburen und Bananen, die in Venezuela »Platanos« genannt werden, und neben der Kassave den Eingeborenen ihr Brot liefern, standen in langen Reihen da. Dann verengte sich das Tal, und ein hoher Wald nahm die Reiter auf; dieser bestand aus einer einzigen Baumgattung, dem Buscare, dessen Schatten den Kakao- und Kaffeepflanzungen zum Gedeihen hier unbedingt nötig ist.

Der Morgen dämmerte bereits, als sich das herrliche Tal von San Esteban bei einer Wegbiegung plötzlich den Augen der entzückten Jünglinge zeigte. Mitten in den Urwald sind die leuchtenden Landhäuser der Europäer gebaut, überschattet von riesigen Kokospalmen, Bananen, Brotfruchtbäumen, Mango, Guayaba, Papaya und Paraiso. Im Hintergrunde erheben sich mächtige Gebirgsmassen, deren schöne Formen sich scharf gegen den klaren Himmel abheben. Bis zum Gipfel sind sie mit Urwald bedeckt, und noch in weitester Ferne sieht man deutlich die reizend-zarten Umrisse der hoch über die andern Bäume emporragenden Riesenpalmen. Gegen Süden türmt sich das Gebirge immer höher auf; besonders fallen die seltsamen hochzackigen Felsenformen des Burro Sin Cabeza und der fast siebzehnhundert Meter hohe Gipfel der Cumbre del San Hilario mächtig ins Auge.

Das Leben begann zu erwachen; das Gekreisch der fasanenähnlichen Huacharaca und der buntflatternden Papageien durchgellte die Stille, reizende Kolibri huschten von Blüte zu Blüte, das Gefieder wie mit leuchtenden Edelsteinen besät. Affen schwangen sich schwatzend und lärmend von Zweig zu Zweig. Unbeschreiblich reizvoll war der reiche Blumenschmuck, mit dem die zahlreichen Lianen, gleich wallenden Gewinden von Syringen aller Farben, die Riesen des Urwalds bekleideten. Ulrich und Friedrich vermochten nur zu schauen und zu genießen: gewiß, das Paradies der ersten Menschen konnte keinen größeren Reichtum an lieblichen und überwältigenden Reizen geboten haben!

Nun erreichten sie das Ufer des Rio de San Esteban, der, von dichten Gruppen der fast fünf Meter hohen »Canna brava«, eines Schilfrohres mit fächerartigen Blätterkronen und weißen Blütenbüscheln, dämmerig und geheimnisvoll überschattet, zwischen hohen Felsblöcken dahinrauschte. Ein Bad in den kühlen Fluten erfrischte unsere Freunde derart, daß sie von der Ermattung nach einer schlaflosen Nacht nichts mehr spürten; leider zwangen sie die unangenehmen Bisse zahlreicher kleiner schwarzpunktierter Fische, den Aufenthalt im Wasser bedeutend abzukürzen.

Glühend stieg die Sonne über das Gebirge empor, als der Weiterritt begann; allein bald wurde sie von Wolkenmassen verhüllt, die sich bleischwer ins Tal senkten. Ein heftiger Sturm erhob sich, und dann brauste der Regen als Wolkenbruch hernieder und durchnäßte die Wanderer bis auf die Haut. Erloschen waren all die glühenden Farben, grau und unheimlich blickte der Wald durch die Wasserfäden, und hoch schwoll der Fluß an. Nur kurze Zeit währte der Guß; dann zerrissen die Wolken und kletterten an den Bergen hinauf und bald schimmerte wieder der Himmel im reinsten, tiefdunklen Blau. Die Feuchtigkeit des Bodens lockte nun aber neue, widerliche Geschöpfe zutage: breite, fußlange Kröten, den Rücken mit rauhen Warzen bedeckt, plumpsten daher, unheimliche Tausendfüßler, entsetzliche Buschspinnen krochen über den Weg.

Das Wasser des Flusses sank wieder so rasch, wie es angeschwollen war, und mit der zunehmenden Wärme flatterten fledermausgroße, prächtige Schmetterlinge empor, Schlangen und Rieseneidechsen lugten aus dem Gebüsch, und aus dem Wasser tauchte der schwarzgrüne Kopf eines lauernden Alligators auf.

Der Weg stieg immer steiler zum über fünfzehnhundert Meter hohen Paß der Cumbre del San Hilario empor, und die Hitze wurde beinahe unerträglich.

Die alte Straße (el camino viejo), die über den Paß führt, während die neue um den Berg herum gebaut ist, machte einen ziemlich verwahrlosten Eindruck; um so schöner war die Aussicht, die man von der Höhe aus genoß. Auch die Pflanzen- und Tierwelt zeigte immer neue überraschende Formen, je höher unsere Freunde stiegen: da traten die zierlichen Baumfarne auf mit ihren großgefiederten hellgrünen Wedeln, und die herrliche Rosa de la montana, ein schlanker, bis zu fünfzehn Metern hoher Baum, dessen fußlange blaugrüne Blätter in gefiederter Anordnung die beinahe wagerecht abstehenden Aste besetzen, während die meterlangen Blätterbüschel der jungen Triebe blaßgelb und purpurgefleckt gleich gewaltigen Federbüschen an den Zweigspitzen schlaff herabhängen, wodurch der Baum ein äußerst merkwürdiges Aussehen gewinnt. Die prächtigen Blüten bestehen aus riesigen Büscheln von vierhundert bis fünfhundert dunkelkarminroten, leuchtenden Blumenkelchen und werden zu heilkräftigem Tee verwendet.

Plötzlich hörten unsere Freunde eigentümliche, glockenähnliche Töne im Walde erklingen. »Was ist das?« fragte Ulrich verwundert.

»Das ist der Campanero, der Glockenvogel,« erwiderte Manuel, »der uns zur Ruhe läutet; denn ich meine, es ist an der Zeit, daß wir etwas rasten.«

Die Brüder hatten nichts dagegen einzuwenden; obgleich sie heute noch keine große Strecke zurückgelegt hatten, waren sie doch durch die große Hitze nach einer schlaflosen Nacht ziemlich ermattet. Sie machten halt unter einem eigenartigen Baume, dessen sieben Meter im Umfang messender Stamm sich bis zu einer Höhe von dreißig Metern erhob, ehe die ersten Riesenäste von ihm ausgingen, die ein dichtes ungeheures Laubdach bildeten. Nach der Beschreibung des Herrn Lehmann erkannten unsere Freunde in dem Baume sofort den berühmten Kuhbaum, der im Gegensatz zu den anderen Urwaldriesen von allen Schmarotzerpflanzen frei dasteht. Einige Schnitte in die braune Rinde ließen den herrlichen Milchsaft des Stammes reichlich fließen. Die Reisenden hielten Kokosschalen darunter und stillten Hunger und Durst vollkommen durch den Genuß der klebrigen Milch.

Dann banden sie ihre Hängematten im Waldesschatten fest, entlasteten die Maultiere und ließen sich die Ruhe schmecken, von den wunderlichen Tönen des Urwalds in märchenhafte Träume eingewiegt.


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