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5. Nach Venezuela!

Herr Friedung konnte ziemlich günstige Nachrichten von Brasilien senden. Er hatte um wenig Geld fast unabsehbare Grundstücke in einer freilich ganz abgelegenen Gegend erworben. Ein romantisches und arbeitsreiches Leben nicht ohne Gefahren hatte am Saum des Urwaldes für ihn begonnen. Bis zur nächsten Stadt waren es mehrere Tagereisen, und da er keine andere Gelegenheit hatte, Nachrichten zu befördern oder in Empfang zu nehmen, als wenn er selber nach der Stadt reiste, so konnte ein brieflicher Verkehr nur mit monatelangen Unterbrechungen erfolgen. Als er schrieb, war er gerade zur Stadt geritten, um sich mit den notwendigsten Bedürfnissen für lange Zeit hinaus zu versehen und einige Arbeiter anzuwerben. Sein Unternehmen erschien ihm übrigens ganz aussichtsvoll, und er bat die Seinen, ihm bei nächster Gelegenheit zu folgen.

Bis zu ihrer Ankunft hoffte er ein behagliches Heim errichtet zu haben. Da es weit und breit keine zivilisierten Menschen gab, sehnte er sich doppelt nach seinen Lieben, und diese, von gleicher Sehnsucht erfüllt, versäumten es nicht, noch im gleichen Herbst einen Ozeandampfer zu besteigen mit der Bestimmung nach Caracas, von wo aus die Reise durch Venezuela nach Westbrasilien unternommen werden sollte.

Die vorsorgliche Mutter verteilte ihre Barschaft in der Weise, daß sie zwar die Hauptsumme behielt, aber jedem ihrer Söhne ein starkes Lederbeutelchen mit je fünfzig Zwanzigmarkstücken übergab, das sie auf der Brust zu tragen hatten für den Fall, daß sie durch irgend ein unglückliches Ereignis getrennt würden oder eines von ihnen um sein Geld käme.

So treffen wir die drei Reisenden an Bord des Dampfers Cartagena, der bei schönster Witterung die endlose Fläche des Atlantischen Ozeans furcht.

Bei der Fahrt durch den Kanal hatten Ulrich und seine Mutter alle Schrecken der Seekrankheit durchgemacht, während Friedrich merkwürdigerweise ganz davon verschont blieb. Nun waren aber auch die Patienten wieder wohlauf und in fröhlichster Stimmung. Schon während ihres Aufenthaltes in Hamburg hatte Friedungs Lebensweisheit die herrlichsten Früchte getragen: der plötzliche Wechsel, der unsere Freunde betroffen hatte, war nicht imstande gewesen, ihr Gemüt niederzudrücken, ja, sie empfanden das neue Leben in der Armut mit ihren Entbehrungen gar nicht als eine Last; denn wie oft hatten sie schon früher wochenlang freiwillig ein mindestens ebenso bescheidenes Dasein geführt: diese Gewöhnung kam ihnen jetzt reichlich zugute.

Die Fahrt auf dem Ozean mit seinen neuen Wundern hielt anfangs ihr Interesse in steter Anspannung; da aber unterwegs keine Insel berührt wurde bis zu den Antillen, so mußte das ewige Einerlei von Himmel und Wasser auf die Dauer ermüdend wirken, denn nur selten gab es interessante Fische zu beobachten. Frau Friedung und Ulrich litten daher bald etwas unter der Langeweile und sehnten sich nach dem Anblick einer Küste; nur Friedrich wurde die langwierige Fahrt nicht zuviel: seine lebhafte Phantasie ersetzte ihm den Mangel an äußeren Erlebnissen, und oft unterhielt er auch den Bruder und die Mutter mit den glänzenden Bildern, die sein Geist sich ausmalte.

So lehnte er eines Abends an der Brüstung des Verdeckes und schaute in die dunkle Tiefe, die den sternenbesäten Himmel geheimnisvoll widerstrahlte. Er war in Träume versunken und merkte nicht das Nahen des Bruders, bis dieser ihn anredete:

»Nun,« sagte Ulrich, »siehst du wieder etwas Neues in dieser Dunkelheit, Friedrich?«

»Etwas Neues nicht,« erwiderte der Bruder lächelnd, »wohl aber etwas Uraltes: schau doch nur hinunter, welche Herrlichkeiten aus dem Grunde des Ozeans heraufschimmern! Aber freilich, du siehst nichts davon, du nüchterner Mensch! Doch ich will es dir beschreiben, so gut ich kann. Weißt du, wir fahren über die Stätte, wo in grauer Vorzeit die glückliche Insel Atlantis versunken ist.«

»Was? Professor Häuble setzte uns doch auseinander, daß sie sich im Mittelländischen Meer befunden habe.«

»Geh mir weg mit solchen Fündlein: nach Platos Beschreibung mußte sie sich zwischen den Antillen und Gibraltar ausdehnen; er beschreibt ja die Lage so deutlich! Nur daß die Antillen damals noch miteinander zusammenhingen, so daß der Golf von Mexiko ein Binnenmeer bildete. Also! Hier unten liegt die Atlantis still und tot unter den Wassern. Aber ein Leuchten geht von ihr aus, daß ich ihre alte Pracht deutlich vor Augen sehe: die Ruinen phosphoreszieren da unten in grünem, blauem und rosigem Licht. Da schaue ich tiefe Täler und mächtige Gebirge, sanftgewölbte Hügel und weite Ebenen, versteinerte Wälder und erstarrte Gärten. Eben an dieser Stelle fahren wir über eine herrliche Stadt. Sie hat breite gepflasterte Straßen und jedes Haus scheint ein Palast aus buntem Marmor zu sein; freilich ist fast alles zerfallen, aber doch erkennt man noch die mächtigen Bogenfenster, die großen Terrassen und zierlichen Altanen, die schlanken Säulen, von bunten Blumengewinden aus durchsichtigem Stein umgeben, die hochragenden Türme und rings auf den Hügeln die Lustschlösser und Villen mit ihren kunstvollen Parkanlagen. Da wachsen aber Tang und Seepflanzen, Korallen ranken am Gemäuer empor, und Perlmuscheln haben sich an den Säulen festgesetzt; gespenstische Seespinnen und riesenhafte Krebse kriechen auf dem zerfressenen Pflaster umher und stumm schwimmen wunderliche Fische durch die Fensteröffnungen aus und ein.

»Und schau! Die Wassermädchen, wie sie über die goldnen Kuppeln hinhuschen und in die Gassen niedertauchen! Sie klopfen mit den Knöcheln an die Glocken, daß sie leise heraufklingen, – und horch! hörst du nicht ihr schwermutsvolles Klagelied über den Untergang menschlicher Größe?«

»O Friedrich!« sagte Ulrich, ganz hingerissen von der lebensvollen Schilderung, »du bist wahrhaftig ein Dichter; man könnte glauben, du sähest und hörtest das alles in Wirklichkeit.«

»So ist es mir selber: es ist ganz wie etwas Fremdes außer mir, das ich schaue und vernehme, gerade wie ein Traum, den man auch für einen wirklichen Vorgang hält, in dem man hört und sieht, was man im wachen Zustande gar nicht ausdenken könnte. Wenn du Lust hast, mir weiter zuzuhören: ich habe auch ein paar Verse über die Atlantis gemacht.«

»Nur zu! ich bin ganz Ohr!« erwiderte Ulrich begierig, und Friedrich sagte seine Verse aus dem Gedächtnis her:

»Wo sich in unsern Tagen
Dehnt ein unendlich Meer,
Sah man vor Zeiten ragen
Ein Inselland so hehr:

Es war ein Garten blühend,
Ein irdisch Paradies,
In Wunderpracht erglühend,
Wie sich's nur träumen ließ.

Dort wuchs in grauen Zeiten
Ein adliges Geschlecht,
Das ließ sich stetig leiten
Von Freiheit, Licht und Recht.

Sie hatten sich erbauet
Die schönste Königsstadt,
Dergleichen wohl erschauet
Seither kein Auge hat.

Die lichten Hallen glänzten,
Und Türme schlank und hehr
Und goldne Kuppeln kränzten
Ein Marmorsäulenmeer.

Einst ging aus ihrer Mitte
Hervor ein kühner Held,
Der träumt', daß er erstritte
Das weite Rund der Welt:

Wo rings die Welt in Grauen
Noch lag und tiefer Nacht,
Wollt' er ein Reich erbauen
Des Lichts mit Waffenmacht.

Da zogen stolze Flotten
Weit durch die Meeresflut,
Bemannt mit kühnen Rotten
Voll edler Kampfesglut.

Sie kamen hergezogen
Zum afrikan'schen Strand
Und sprangen aus den Wogen
Kampffreudig an das Land.

Nie sah man solch ein Streiten,
Nie solchen Heldenzug:
Sie stürmten durch die Weiten
Im Adlersiegesflug.

Wo ihre Waffen klangen,
Da hielt kein Gegner stand.
Wo sie ihr Schlachtlied sangen,
Da beugt' sich Volk und Land.

Da plötzlich aber stehen
Sie an der Wüste Rand
Und stutzen, da sie sehen
Das weite Meer von Sand.

Und wie sie dennoch weiter
Stets treibt ihr stolzer Mut,
Verzehrt die kühnen Streiter
Der Wüstensonne Glut.

In Schmachten und in Dürsten
Schwand ihre Heldenkraft,
Die stolzen Kriegerfürsten
Sind bis zum Tod erschlafft!

Sieh an Ägyptens Grenzen
Im glühnden Sonnenstrahl
Ein wogend Meer erglänzen
Von Gold und blankem Stahl:

Mit Rossen und mit Wagen
Zog an in seiner Pracht
Der Pharao, zu schlagen
Des fremden Volkes Macht.

Die müde Schar muß weichen
Zurück durch Feindesland;
Nur wenige erreichen
Den fernen Meeresstrand.

Doch wie sie auch durchsuchten
Das weite, öde Meer, –
Der Heimat traute Buchten
Erschaute keiner mehr:

Die wilden Wogen schlangen
Das Paradies hinab,
Und müde Glocken klangen
Tief aus dem nassen Grab.

Da sprangen aus den Schiffen
Sie weit ins Meer hinein
Und zogen in den Tiefen
Zur Heimat wieder ein.«

»Und nun noch eins,« fuhr Friedrich fort, als Ulrich ergriffen und schweigend verharrte:

»In des Meeresgrundes Frieden
Königlich und wunderbar
Schläft die Stadt der Atlantiden
Schon so manche tausend Jahr'.

Wie vor grauer Zeit sie nächtig
In die Fluten sank hinab.
Ragt sie heut noch stolz und prächtig
In dem weiten Wassergrab;

Denn in jenem tiefen Grunde
Ruhn die Wasser regungslos,
Seit sie einst zur Mittnachtstunde
Aufgewühlt der wilde Stoß.

Was dem Stoße standgehalten,
Ist noch heute unversehrt:
Keine feindlichen Gewalten
Haben mehr den Ort verheert.

Sieh die goldnen Kuppeln leuchten
Wunderbar im Sternenschein,
Der nur dämmernd in die feuchten
Tiefen dringt und blaß hinein.

Durch die rötlichen Korallen
Schimmern, wie im Mondlicht, bleich
Jene stolzen Marmorhallen
Herrlich und geheimnisreich;

Möchten gerne Kunde geben
Von den Wundern dieser Stadt,
Von dem fröhlich frischen Leben,
Das sie einst durchflutet hat.

Denn sie schlummern und sie träumen,
Träumen von der goldnen Lust,
Die in ihren lichten Räumen
Einst geschwellt so manche Brust,

Da so oft bei frohen Festen
Noch im buntgeschmückten Saal
In den glänzenden Palästen
Klang der funkelnde Pokal,

Wenn zu hohen Siegesfeiern
Sich geschart die Helden hehr
Und der Klang von goldnen Leiern
Quoll hinaus ins stille Meer.

Ozean der Atlantiden,
Der so still im Mondlicht lag,
Ahnte wer in diesem Frieden
Jenen grausen Schreckenstag,

Wo in Wetterfinsternissen
Deine Wogen, Bergen gleich,
Brüllend in die Tiefe rissen
Dieses blühnde Inselreich?

Nun die Hallen stehn und trauern,
Die so gar verödet sind,
Zieht doch klagend durch die Mauern
Nicht einmal ein Abendwind.

Öde, öde und verlassen!
Keinen Laut vernimmt man mehr:
In den ausgestorbnen Gassen
Schwimmen Fische nur umher.

In den hohen Säulengängen
Schwimmen keck sie aus und ein,
Bunte Perlenmuscheln hängen
An dem weißen Marmelstein.

Wassermädchen ziehn in Kreisen
Ob den goldnen Kuppeln hin.
Singen sehnend ihre leisen,
Schwermutsvollen Melodie'n«.

Friedrich schwieg, und auch Ulrich konnte lange kein Wort sagen; denn ihm war es wirklich, als sei alles vor seinen Augen vorbeigezogen, wie die Phantasie seines Bruders es geschildert hatte. Dann aber sagte er: »Es ist merkwürdig, Friedrich, welches Interesse und welches Leben du dem toten Ozean abzugewinnen vermagst. Ich selber sehe jetzt diese eintönige Wasserfläche mit ganz andern Augen an, seit ich darüber nachdenke, was sie alles in ihrem Grunde verbergen mag. Doch Mutter ruft! Wir wollen hinuntergehen: es ist schon spät!«


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