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10. Eine Mordbande

Am 6. Oktober in der Frühe schlenderten Ulrich und Friedrich durch die Stadt. Zunächst sahen sie sich den Markt an und wunderten sich über die große Menge prächtiger Früchte, die vor den dicken Negerweibern mit ihren häßlichen, verschrumpften Gesichtern in großen Haufen aufgestapelt waren. Mit den meisten dieser Früchte hatte sie Herr Lehmann gar nicht bekannt gemacht, einmal deshalb, weil viele dieser erfrischenden Erzeugnisse dem Neuling in den Tropen unzuträglich sind, indem sie eine Erkältung des Magens hervorrufen und dadurch leicht gelbes Fieber und Dysenterie verursachen; sodann, weil es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, innerhalb weniger Tage den ganzen Reichtum tropischer Nahrungsmittel kennen zu lernen.

Da lag die gewaltige, goldleuchtende Pina neben der kopfgroßen runden Mamey, die goldgelbe Mango, die grüne birnenförmige Aguakate, die geschuppte Cherimoya, deren herrlicher Duft das Riechorgan erquickte, die feigenähnliche Anona, die zapfenförmige, stachelige Guanabana, die gelbe apfelartige Guayaba, die quittenförmige Membrillo, die glänzend scharlachrote Merey mit ihren nierenförmigen Samenauswüchsen, die gelbbraune Caimito und Nispero, die eirunde grüne Caruto, die pflaumenartige dunkelviolette Ciruela, die grüne traubenförmige Mamon und die Cotoperi, die runde rotbackige Granada, die weiße Icaco, die melonenförmige gelbe Lechosa und Parcha, die länglichrunde braune Zapota, die vielen Arten goldgefärbter Naranja, Lima, Limaza und Limone von Hühnerei- bis Menschenkopfgröße, die Kokosnüsse, die gurkenförmigen Camburen und Platanen nebst unzähligen Knollen- und Küchengewächsen, Tomaten, Kürbissen, Wurzeln und Beeren.

Das Anstaunen dieser unendlichen Fülle von Herrlichkeiten wäre unseren Freunden bald übel bekommen. Die Marktweiber tuschelten erst leise, dann schrien und schimpften sie laut, und daß diese Wut niemand anders als den jungen Gaffern galt, die es wagten, alles zu betrachten, ohne etwas zu kaufen, das merkten die harmlosen Brüder erst, als sie mit starken Zuckerrohrstangen von den schwarzen Hexen tätlich bedroht wurden. Eilig begaben sie sich hinweg, wagten es auch nicht, sich auf dem hochinteressanten, aber stark duftenden Fischmarkt aufzuhalten, sondern wandten sich durch die breiten, gepflasterten Straßen an den großartigen Warenmagazinen vorbei dem Hafen zu.

Hier verwunderten sie sich über den eigenartigen Anblick, den die Manglegebüsche gewährten: die Mangroven oder Manglaren erheben sich auf stelzenartigen Luftwurzeln bis zu 30 Meter über den Wasserspiegel; aus ihren Ästen senken sich wiederum zahlreiche Wurzeln ins Meer und bilden neue Pflanzen, so daß ein einziger Mutterstamm ein ganzes Wäldchen erzeugt und sich weit ins Meer hinein zieht. Das merkwürdigste aber ist die Verworrenheit der festen Wurzeln, die unter dem schattigen Laubdach leicht zu begehende Wege über dem Meeresspiegel bilden. Zwischen den Bäumen und Wurzelbrücken bildet das Wasser eine Unmenge von Kanälen.

Ulrich und sein Bruder schritten neugierig über das Wurzelwerk weit in den Hafen hinein. Zu ihren Füßen wimmelte es im Wasser zwischen den Wurzeln von blauen und roten Krabben und anderen Seetieren; massenhaft hingen die Austern in dem Geflecht. Als die beiden Wanderer die äußerste Grenze des Gebüsches erreicht hatten, sahen sie den offenen Hafen und das weite Meer vor sich liegen. In der Ferne schaukelte das deutsche Kriegschiff Vineta, und unter den vielen größeren und kleineren Schiffen in nächster Nähe, unmittelbar am Hafenkai, bemerkten sie ein zweites deutsches Schiff, den Postdampfer Valesia.

Gar zu gern hätten sie einige deutsche Landsleute begrüßt, sie gingen daher wieder zurück, um das Ufer zu gewinnen; aber die Wurzelbrücken waren so zahlreich, daß sie sich bald im Manglebusch verirrt hatten und lange Zeit brauchten, um wieder hinauszufinden.

Inzwischen hatten sie Hunger bekommen und begaben sich zunächst in eine Posada, eine Mahlzeit einzunehmen. Hier trafen sie einige Matrosen der Valesia beim Guarapotrunk. Der leicht gegorene Guarapo läßt sich literweise vertilgen, ohne daß dies angenehme Getränk die Sinne umnebelt, während der »Guarapo fuerte« berauschende Eigenschaften entwickelt. Die Matrosen begnügten sich mit dem leichten Trank, um bei der herrschenden Hitze desto mehr vertilgen zu können. Freudig begrüßten sie die Knaben, als diese in deutscher Sprache um Erlaubnis baten, bei ihnen Platz nehmen zu dürfen. Bald entspannen sich lebhafte Gespräche und besonders der Bootsmannsmaat der Valesia schloß Freundschaft mit den jugendlichen Landsleuten. Er lud sie ein, ihn auf das Schiff zu begleiten, ein Anerbieten, das unsere Freunde gerne annahmen. Auf dem Dampfer wurden sie von dem Kapitän und dem ersten Offizier freundlich empfangen, denen sie ihre Erlebnisse erzählen mußten. Auch einige Offiziere des Kriegschiffs Vineta lernten sie kennen, als diese im Laufe des Nachmittags in einem Boote zu Besuch auf die Valesia kamen.

Gegen Abend begleitete der biedere Bootsmannsmaat die beiden wieder an Land. Am Hafendamm bemerkten sie einige Venezolaner, die ihnen mit finstern, drohenden Blicken nachschauten, doch kümmerten sie sich nicht weiter um die Leute. In der Gruppe der Eingeborenen befanden sich die drei Mestizen. »Das sind sie!« sagte Don Jose, als das Boot mit den Knaben von der Valesia abstieß. Alvarez hatte die Jünglinge vom frühen Morgen an nicht aus den Augen gelassen und auch ihren Besuch auf dem Schiffe beobachtet. Eben dieser gab ihm Gelegenheit, die bereits verständigten Eingeborenen von dem Verdacht zu benachrichtigen und in ihrer Wut zu bestärken. Als aber die Leute sofort auf die Landenden einstürmen wollten, hielt er sie warnend zurück: »Laßt uns die völlige Dunkelheit abwarten und noch mehr Leute an uns ziehen: angesichts der Schiffe, und solange es noch hell ist, könnte uns eine Gewalttat verhängnisvoll werden; mit den Deutschen ist nicht zu spaßen!« Nur schwer ließ sich die Leidenschaft der Bande zügeln; doch sahen die Leute ein, daß Vorsicht ihnen selbst nur nützlich sein könnte, und so folgten sie den Deutschen in einiger Entfernung.

Da die Zeit noch nicht da war, in der sie nach Herrn Lehmanns Mitteilung den von ihm versprochenen Führer erwarten durften, der in der Stadt übernachten und in aller Frühe mit ihnen aufbrechen sollte, ließen sich Ulrich und Friedrich durch den Bootsmannsmaat überreden, noch einen Abschiedstrunk in der Posada am Hafenkai zu halten. Hier fanden sie wiederum einige Matrosen und Unteroffiziere der Vineta, sowie Matrosen der Valesia.

Es war schon völlig dunkel geworden, als die Schiffsleute aufbrachen, um sich an Bord zurück zu begeben. Ihre jungen Freunde gaben ihnen noch das Geleite bis zur Landungsbrücke.

Unterdessen hatten die Mestizen einen Pöbelhaufen um sich versammelt, der in größter Erregung nach dem Blute der jungen Deutschen begehrte; wahrlich, wenig gehört dazu, die südlichen Leidenschaften bis zu tödlichem Hasse zu erhitzen!

Don Jose hätte gern abgewartet, bis die Matrosen sich von seinen ausersehenen Opfern getrennt hätten; da aber die Leute nicht anders glaubten, als die Jünglinge wollten sich auch an Bord begeben, umzingelten sie rasch die ganze Schar, die gegen den Hafendamm zog. »Nieder mit den Verrätern! Nieder mit den Attentätern auf unsere heilige Freiheit! Nieder mit den deutschen Hunden!« so erschollen die wilden Rufe der Venezolaner. Messer, Gewehre und Revolver blitzten rings um die unbewaffneten Deutschen. Diese wehrten sich zwar mit gewaltigen Faustschlägen, die manchen der Feinde zu Boden streckten, und auch Ulrich und Friedrich kämpften mit Gewandtheit und Kraft. Aber Schüsse fielen, und der Bootsmannsmaat, der sich soeben schützend vor die Knaben geworfen hatte, als er drohende Revolverläufe auf sie gerichtet sah, brach, von zwei Kugeln getroffen, zusammen.

Der Postdampfer Valesia hatte mit Einbruch der Dunkelheit hart an der Brücke angelegt; dieser Umstand sollte die Rettung unserer Freunde werden. Die Fallreepstreppe war schon früher hinuntergelassen worden, um den heimkehrenden Matrosen den Aufstieg an Bord zu ermöglichen. Kaum vernahm man auf der Valesia den Tumult am Ufer, als der zweite Offizier mit mehreren Leuten der Bemannung den Bedrängten zu Hilfe eilte. Beim unerwarteten Erscheinen der bewaffneten Matrosen wichen die Venezolaner einen Augenblick zurück. Im Nu war der Bootsmannsmaat mit anderen Verwundeten ergriffen und an Bord getragen, während die befreiten Matrosen, unsere Freunde in der Mitte, die Eingangstreppe emporstürmten. Aber noch ehe die Treppe emporgezogen werden konnte, drängte die Mordbande, die ihre Opfer entkommen sah, in höchster Wut nach. Der erste Offizier der Valesia, der mit den auf Besuch an Bord weilenden Offizieren der Vineta bei Beginn des Kampfes ahnungslos im Salon gesessen hatte, gab nun den Befehl, die Fallreepstreppe zu besetzen. Dieser Befehl wurde sofort ausgeführt und die Venezolaner kollerten beim geschlossenen Anrücken der Deutschen hilflos die Treppe hinab. Gleichzeitig wurde aber vom Lande aus mehrmals auf den seine Befehle erteilenden Offizier geschossen. Glücklicherweise waren die Schützen nur auf zwei Schritt Entfernung ihres Zieles sicher, und so richteten die Kugeln weiter keinen Schaden an.

Inzwischen wurden auf Befehl des Kapitäns auf dem Achterdeck Raketen und Notsignale abgebrannt. Die Mestizen, die wohl bemerkten, daß damit die Aufmerksamkeit des Kriegschiffes erregt werden sollte, schossen von einem Pavillon aus, in den sie sich zurückgezogen hatten, sobald die Sache ernst wurde, auf den zweiten Offizier, der das Abbrennen der Signale beaufsichtigte. Allein trotz der guten Beleuchtung ihres Zieles hatten sie keinen Treffer aufzuweisen. Nach einer kurzen halben Stunde traf ein Kutter der Vineta ein, bemannt mit bewaffneten Matrosen unter Führung eines Offiziers. Nun wurde die Valesia in regelrechten Verteidigungszustand gesetzt. Ein Teil der Leute wurde an Land beordert, während der Hafendamm durch den Scheinwerfer der Vineta taghell erleuchtet wurde. Nun war es lustig zu sehen, wie das Gesindel schleunigst die Flucht ergriff und jeden Schlupfwinkel aufsuchte, als es das verdächtige Geräusch der klappernden Gewehrkammern vernahm. Bis gegen Mitternacht sah man zwar noch einzelne Banden von Zeit zu Zeit heranschleichen; der Anblick der blinkenden Gewehrläufe auf dem Achterdeck der Valesia bewog sie jedoch stets wieder zu beschleunigtem Rückzug.

Don Jose beobachtete übrigens abwechselnd mit seinen sauberen Gesellen die ganze Nacht hindurch vom Pavillon aus das Schiff, um sich die Knaben nicht entgehen zu lassen, sobald sie es verlassen würden. Als aber die Nacht und der nächste Vormittag vorübergingen, ohne daß sie sich blicken ließen, überzeugten sich die drei, daß der heilsame Schrecken die jungen Deutschen jedenfalls von ihrem verwegenen Plane abgebracht habe, und die beiden wohl mit dem Postdampfer in ihre weniger lebensgefährliche deutsche Heimat zurückkehren dürften. Sollten sie je dennoch späterhin die Reise unternehmen, so gab es in den Wildnissen des Orinoko und des Amazonas noch Gelegenheit genug, sie unschädlich zu machen.

Die drei Mestizen trafen denn vollends ihre Reisevorbereitungen, die für diese Leute wenig Zeit in Anspruch nahmen, und traten noch vor Abend die Reise nach dem Lande ihrer abenteuerlichen Hoffnungen an.


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