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22. Don Guancho Rodriguez

Die Verurteilten wurden abgeführt, während die Zurüstungen zum Blutgericht getroffen wurden: diese waren von kurzer Dauer; es handelte sich nur darum, den Ort der Hinrichtung zu bestimmen und eine Abteilung Soldaten zum Vollzug derselben zu kommandieren. Im übrigen gewährte man den Todeskandidaten bloß eine einstündige Frist zu einer Henkersmahlzeit und zur Vorbereitung auf ihr Ende; zu letzterer sollte ihnen ein Priester behilflich sein, der ihnen denn auch wacker Trost zusprach und sie auf das ewige Heil hinwies. Was die Mahlzeit betraf, so fand sie diesmal angesichts des grausamen und ungerechten Urteils wenig Zuspruch; war doch die Seele der Verurteilten zu sehr umdüstert, um noch auf leibliche Sättigung irgend einen Wert zu legen.

Die Stunde war bald abgelaufen, und begleitet von einer großen Volksmenge wurden die Bedauernswerten auf einen freien Platz vor die Stadt geführt, an eine Mauer gestellt und entfesselt, während man ihnen die Augen verband. Manuel machte alsbald einen Fluchtversuch; während seinen jungen Gebietern die Augen verbunden wurden und man seiner weniger achtete, sprang er mit einigen Sätzen in die Volksmenge, die, stets bereit, sich gegen die jeweilige Obrigkeit zu entscheiden, ihm willig Raum schuf, um sich hinter ihm alsbald wieder wie eine Mauer zusammenzuschließen.

Natürlich wurde sofort eine Abteilung Soldaten zur Verfolgung des Entwichenen entsandt; aber den Häschern ward es viel schwerer, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die sich diesmal nur langsam und widerstrebend auseinanderdrängen ließ. So gelang es dem Spanier, aus der Stadt zu entkommen und den Wald zu erreichen. Hier aber drohte ihm eine neue Gefahr: im Waldesschatten lagerte ein größerer Trupp der Rebellen, und Manuel erblickte in der Hast seiner Flucht die Feinde erst, als er selber schon von ihnen gesehen war. Rasch machte er kehrt; statt aber rechts oder links auszubiegen, eilte er wieder der Stadt zu; denn plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, daß es eigentlich unrecht sei, das eigene Leben zu retten und sich seiner Herren nicht weiter anzunehmen; er beschloß, irgendeinen, wenn auch tollkühnen Versuch zu ihrer Befreiung zu machen, sollte er darüber auch selber seine kaum erlangte Freiheit wieder verlieren. Gewiß ließ sich das Volk, das so willig seiner Flucht Vorschub geleistet hatte, auch zu einem Handstreich zugunsten seiner Leidensgefährten aufreizen.

Aber Manuels Pläne waren vergeblich: seine Eile war den Truppen im Walde von Anfang an als höchst verdächtig ausgefallen, und sein schneller Rückzug bestärkte den Verdacht; im Nu saßen einige Soldaten zu Pferde und jagten ihm nach. Binnen kurzem hatten sie denn auch den keuchenden Flüchtling erreicht und schleppten ihn vor ihren Anführer.

Dieser bekleidete einen hohen Rang in der Rebellenarmee und war ein mildgesinnter, wohlwollender Mann. – Als Manuel zu ihm geführt wurde, vernahm der Spanier da und dort einige verwunderte Ausrufe; mehrere Soldaten schlossen sich ihm an, und er hörte, wie sie einander zuriefen: »Das ist einer der drei Schützen vom Islote! Caramba! Ein Teufelskerl; den sollten wir für uns gewinnen!«

Die Leute, die sich derartig äußerten, waren selber an dem Kampf um den Islote beteiligt gewesen, und einzelne von ihnen waren damals auch in die Gefangenschaft der Regierungstruppen geraten, aber mit Hilfe guter Freunde in Nueva Valencia alsbald wieder entkommen.

Während Manuel vom General verhört wurde, sahen Ulrich und Friedrich dem Tode ins Angesicht. Einen Aufschub hatte Manuels Flucht freilich bewirkt; zunächst wurden den Jünglingen alsbald die Füße gefesselt, damit sie nicht ebenfalls entkämen; dann wartete man den Erfolg der Jagd auf Manuel ab, um alle drei zugleich hinzurichten.

Inzwischen nahm das Gemurmel in der Volksmenge zu; die gleichmäßige, kaltblütige Ruhe der blühenden Jünglinge erweckte ihnen überall Wohlwollen. Die Venezolaner sind zwar leicht erregbar und, zum Zorn gereizt, rascher Gewalttaten fähig, aber die kalte Grausamkeit der Spanier ist ihnen im allgemeinen fremd; das kann man schon bei den Stiergefechten beobachten, die in Venezuela ziemlich unblutig verlaufen, und bei denen selbst das Leben der Stiere geschont wird.

Einer raschen Hinrichtung hätte die Menge wohl ruhig zugesehen; je länger sich aber die Sache hinzog, desto mehr Stimmen wurden laut: »Was haben sie eigentlich getan?« – »Für die Regierungstruppen gekämpft? Deswegen erschießt man einen doch nicht!« – »Es ist eine barbarische Schändlichkeit, die armen Burschen so lange auf den Tod warten zu lassen!« – »Und wie mutig und ruhig sie sind, obgleich noch halbe Knaben! Wahrhaftig, man sollte es nicht dulden, daß man die jungen Helden erschießt.« – »Wenn ihr Männer wäret, so ließet ihr's nicht zu! Gebt acht, wir Frauen werden uns noch ins Mittel legen: so jung und so schön, und grausam hingemordet werden!«

So schwirrten die Stimmen durcheinander, und der Offizier, der persönlich die Hinrichtung leitete, merkte, daß das Publikum sich zu erhitzen anfing; er wartete daher nicht weiter auf die Einbringung Manuels, sondern erteilte rasch seine Befehle.

Ulrich und Friedrich hatten einen schweren Stand; sie bewahrten zwar äußerlich ihre Ruhe, aber innerlich wurden sie von den widersprechendsten Gefühlen umgetrieben. Es ist schwer, unter blauem Himmel, in lachendem Sonnenschein, im Vollgefühle der Jugendkraft, an den nahen Tod zu glauben! Und hatten sie sich auch mit dem Gedanken vertraut gemacht, – Manuels Flucht, die lange Verzögerung und das Murren der Menge, aus dem heraus hier und da ein verständlicher Satz an ihre Ohren drang, belebte aufs neue ihre Hoffnung, und nun war es ihnen nicht leicht, sich darein zu finden, daß alles umsonst sein sollte und ihr Schicksal dennoch besiegelt sei.

Aber was war noch zu hoffen, als ein möglichst rasches Ende? Schon standen die Soldaten in einer Reihe mit angelegten Gewehren und warteten nur noch des Kommandos »Feuer!« Ach! und diesen mehr als mittelmäßigen Schützen war es wohl zuzutrauen, daß sie ihre Opfer nicht einmal sofort tödlich trafen!

Wahrlich, es waren keine angenehmen Gedanken, die in diesen letzten Minuten die Seelen der beiden Verurteilten erfüllten, und sie waren nahe daran, ihre ganze Widerstandskraft einzubüßen; namentlich Friedrich fühlte allmählich seine Augen feucht werden und seine Kniee zittern; aber jetzt war der letzte Augenblick gekommen. Hoch erhob der finster blickende Offizier den Arm und öffnete die Lippen, um das todbringende Kommandowort auszurufen.

Da donnerte eine Stimme: »Halt!« Es war Don Guancho Rodriguez, der sich mit kräftigen Armen Bahn durch die Menge brach und plötzlich vor dem Offizier stand.

»Was untersteht Ihr Euch?« schrie dieser ihn wütend an. »Hier habt Ihr nichts mehr zu befehlen, die Zeiten sind vorbei!« Und als ob er fürchtete, seine Opfer könnten ihm entrissen werden, rief er sofort mit lauter Stimme: »Feuer!«

Die Soldaten, die, durch die plötzliche Störung verwirrt, zum mindesten eine nochmalige Verzögerung der Hinrichtung erwartet hatten, legten in aller Eile wieder an und gaben Feuer, ohne weiter zu zielen.

Eben in diesem Augenblick rannte Manuel, der gleichzeitig mit Don Guancho erschienen war, über den Platz auf seine jungen Herren zu.

So kam es, daß die ohnehin schlechten Schützen mit ihren mangelhaften Gewehren weiter kein Unheil anrichteten, als daß sie den treuen Manuel durch einen Streifschuß am Arme verwundeten.

»Carajo!« rief Manuel erzürnt den Soldaten zu. »Paßt doch auf, wenn da Menschen laufen! Wie leicht hättet ihr ein Unglück anrichten können.« Er vergaß ganz, daß ein zum Tode Verurteilter solche Rücksichten eigentlich weder fordern noch erwarten durfte.

Der kommandierende Offizier jedoch war wütend über die Erfolglosigkeit der Salve und befahl, die Gewehre wieder zu laden, da seine Soldaten keine Magazingewehre besaßen. Don Guancho, aufs höchste empört und erschreckt durch das vorhergegangene rasche Kommando des Befehlshabers, hatte bereits seine Dazwischenkunft für gescheitert angesehen. Als er nun sah, daß seine Schützlinge noch unversehrt waren, rief er nochmals donnernd: »Halt!« und legte zugleich seine Eisenfaust schwer auf den Arm des Offiziers.

»Diese leichtfertige Hinrichtung wird nicht stattfinden,« sagte er drohend. »Die Sennores sind schuldlos, und die Klage war verleumderisch. Hier sind die Zeugen!«

Gleichzeitig erschien auf dem Platze ein Trupp Soldaten, denen die Menge bereitwilligst Platz machte.

Don Jose de Alvarez, der mit Diego und Lopez zugegen war, um sich am Sterben seiner Feinde zu weiden, rief nun dem Offizier zu: »Exzellenz werden sich doch nicht durch Leute behindern lassen, die Eure Angelegenheiten nichts angehen?«

»Fällt mir nicht ein!« rief der Offizier. »Das Urteil ist gesprochen, und ein Zeugenverhör ist nun nicht mehr am Platze: dem Recht muß sein Lauf gelassen werden.«

»Ja! dem Rechte, aber nicht dem Unrecht!« donnerte eine herrische Stimme hinter dem Offizier. »Tretet ab, Sennor Capitano: ich will hier das Kommando übernehmen.« Erschrocken wandte sich der Angeredete um und grüßte verdutzt den General, seinen Vorgesetzten, der hochaufgerichtet vor ihm stand.

Der General aber wandte sich an einige der neu angekommenen Soldaten: »Sind das die Verteidiger des Islote, die Mitkämpfer Don Manuels, den ich soeben auf euer Zeugnis hin freiließ?«

»Sie sind es!« bestätigten die Gefragten. »Wir haben sie mit eigenen Augen gesehen, als wir damals in Gefangenschaft der Regierungstruppen gerieten, denen wir seither glücklich entronnen sind.«

»Und ihr bleibt bei eurer Aussage, daß sie nur auf die Pferde geschossen haben und keinen Menschen verwundeten?«

»Sie schossen uns fast alle Pferde tot, und wenn sie gewollt hätten, hätten ebensoviele von uns ins Gras gebissen; denn solche Schützen gibt es sonst nicht mehr. Aber sie wollten nicht; nur dem Herrn Mestizen dort haben sie einen Finger weggeschossen.«

»An dem liegt uns nichts!« sagte der General geringschätzig.

Alvarez knirschte mit den Zähnen.

»Also, ihr Leute! Jener Mestize dort hat vor Nueva Valencia einen unserer Generäle angelogen, diese harmlosen Reisenden seien Regierungsspione, genau wie es der freche Verleumder hier wiederum gemacht hat. Unsere Leute griffen die jungen Sennores an, und diese waren gezwungen, sich zu wehren; und dennoch haben sie mit Absicht das Leben unserer braven Soldaten geschont und nur auf die Pferde geschossen. Es wäre schändlich, das Blut solcher edelmütiger junger Helden zu vergießen. Dank sind wir ihnen schuldig! Die Herren Verleumder sollen machen, daß sie aus dem Bereiche meiner Macht kommen; die Gefangenen aber werden sofort auf freien Fuß gesetzt!«

Alvarez, Diego und Lopez waren im Nu verschwunden, denn ein drohendes Gemurmel hatte sich in der Menge erhoben; unter Jubelrufen aber drängten sich die Leute um die hochaufatmenden Brüder, denen Manuel die Stricke durchschnitt.

»Nun hast du recht behalten!« sagte Ulrich zu seinem Bruder. »Eine Notwehr, wie ich sie verstand, hätte uns heute das Leben gekostet, nur dadurch sind wir heute gerettet worden, daß wir damals deinem mildherzigen Rate folgten und unsere Angreifer schonten.«

Der General ließ sich hierauf die Befreiten vorführen und bat ihnen das voreilige Verfahren eines übereifrigen Offiziers ab, zugleich ihnen Glück wünschend, daß er rechtzeitig zu ihrer Befreiung gekommen sei, und ihnen seine Bewunderung über ihr mutiges Verhalten hier und auf dem Islote ausdrückend; ihre Gewehre und Maultiere wurden ihnen auf Befehl des Generals wieder ausgefolgt. Don Guancho aber bat sie, für die nächsten Tage seine Gäste zu sein, und führte sie alsbald in seine Wohnung. Hier wurde Manuels Wunde verbunden, die sich nur als eine Hautschürfung erwies und ihm wenig Schmerzen verursachte. Alle drei erholten sich rasch von den ausgestandenen Todesschrecken und gaben sich dem Vollgefühl der wiedererlangten Freiheit hin.

Don Guancho Rodriguez war von Hause aus ein Llanero. Ein Mann von scharfem Verstande und ungewöhnlicher Körperkraft, besaß er ein treues, edles Gemüt und dabei eine den Kreolen meist fremde Bescheidenheit. Als Jüngling tat er es im Reiten und Schwimmen und namentlich auch im Jagen allen seinen Altersgenossen zuvor: mit Leichtigkeit riß er den wilden Stier am Schwanze zu Boden oder bändigte ihn von ferne mit seinem nie fehlenden Lasso; am Apure nahm er einst den Kampf mit drei Jaguaren zumal auf und blieb Sieger.

So war er schon in jungen Jahren ein bewunderter Held, zugleich aber wegen seines offenherzigen, freundlichen Wesens und seiner Gastfreundschaft allgemein beliebt. Das Jahr 1868 brachte ihm Kriegsruhm und den Generalstitel, denn er war es, der mit nur zweihundert Lanzenreitern die von zweitausend Mann besetzte Stadt Calabozo erstürmte.

Das war der Mann, dessen großmütiges Herz sich den Unterdrückten und ungerecht Verfolgten zuwendete, der auch heute, sobald er von dem Prozesse gegen unsere Freunde vernommen hatte, Erkundigungen einzog und in der Überzeugung, daß es sich um kein todeswürdiges Verbrechen handle, für die Gefährdeten eintrat.

Als sein erster Versuch ihrer Rettung scheiterte, ließ er es keineswegs dabei bewenden; er suchte seine Freunde auf, er ließ die Bevölkerung von Calabozo von den Vorgängen und seiner Meinung darüber unterrichten und hatte alle Aussicht, die Bluttat noch im letzten Augenblicke gewaltsam verhindern zu können, als ihm noch unerwartete Bundesgenossen kamen. Auf Manuels Bericht hin war der Rebellengeneral, von Bewunderung für die Helden vom Islote erfüllt, in die Stadt eingerückt und lieh dem von ihm hochgeachteten Greise williges Gehör. Er erklärte hierauf dem erfreuten Don Guancho, daß es eben seine Absicht sei, den Verurteilten womöglich noch Rettung zu bringen, und so kam es, daß Don Guancho und Manuel in banger Sorge und Hoffnung der verhängnisvollen Stätte zuflogen und eben noch im rechten Augenblick dort ankamen. Der General folgte ihnen mit denjenigen Soldaten, die als Augenzeugen das Verhalten der ungerecht Beschuldigten bei jenem Kampfe um den Islote bestätigen konnten. Auf solche Weise wurden denn drei junge Menschenleben gerettet, dank den Bemühungen eines edlen Greises und eines treuen Dieners, in letzter Linie aber infolge ihres eigenen edelmütigen Verhaltens, als sie auch aus der Notwehr keinen Grund machten, Menschenblut zu vergießen.


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