Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Eine Schreckensnacht

Am 23. September erschien das südliche Kreuz am Himmel. Mit Entzücken beobachteten unsere Freunde diese neue Erscheinung, auf die sie sich schon lange gefreut hatten; von einem alten Matrosen lernten sie bald aus der senkrechten oder geneigten Stellung des funkelnden Sternbildes die Stunden der Nacht wie auf einer Uhr ablesen.

Dann ging es noch mehrere Tage durch die öde Wasserwüste; bald aber verkündeten bunte Vögel, die sich auf den Masten und Rahen niederließen, die Nähe von Land, und am 30. September wurde den Reisenden der langersehnte Anblick einer nicht fernen Küste zuteil. Es ist nicht möglich, den Jubel zu beschreiben, der an Bord ausbrach, als die Nachricht bekannt wurde, daß der Dampfer sich der Insel Tobago nähere. Hoch klopfte das Herz der Knaben bei der Aussicht, nun bald La Guayra, den Hafen von Caracas, zu erreichen, von wo aus sie die Landreise zum Vater antreten würden. Ob er wohl schon Nachricht von ihrer baldigen Ankunft hatte? Bei den Schwierigkeiten der Postverbindung war dies sehr zweifelhaft, und so sehr es sie gefreut hätte, von ihm in La Guayra empfangen zu werden, so entzückte sie fast noch mehr die Hoffnung, ihn gänzlich unerwartet in seiner Einsamkeit zu überraschen: welch ein Wiedersehen würde das sein! Ach! Sie ahnten nicht, daß ihre Träume nicht in Erfüllung gehen sollten!

Die Insel Tobago kam immer näher und gewährte einen höchst malerischen Anblick: aus leuchtend weißen Felsmassen grüßten zerstreute Baumgruppen, und hohe zylindrische Fackeldisteln gewährten, einen seltsamen und hochinteressanten Anblick. Mit lauten Rufen der Verwunderung und des Entzückens begrüßte besonders die Jugend an Bord die eigenartig herrliche Pflanzenpracht der Tropen.

Eine Landung auf Tobago war nicht vorgesehen, und so fuhr die Cartagena über die Untiefe zwischen Tobago und La Grenada auf die Insel Margarita zu. Die scharfen Blicke der Seeleute, unterstützt durch eine reiche Erfahrung, bemerkten die Anzeichen eines heftigen Sturmes, der in kürzester Zeit auszubrechen drohte. Doch kümmerten sich die Passagiere wenig darum: die außerordentlich günstige Überfahrt hatte sie sicher gemacht, und sie dachten gar nicht daran, daß ihnen so nahe ihrem Ziele noch ernstliche Gefahren drohen könnten. Der Kapitän aber beschloß, angesichts der Umstände auf eine Landung in Cumana zu verzichten und direkt auf La Guayra zu halten.

In der Nacht brach das Unwetter mit solch rasender Gewalt aus, daß kein Mensch an Schlaf denken konnte. Wild heulte der Sturm, und die Masten bogen sich und knarrten; das Schiff wollte dem Steuer nicht mehr gehorchen und wurde weit von seinem Kurs abgetrieben. Gewaltige Sturzseen richteten auf dem Verdecke große Verwüstungen an, und die heiseren Kommandorufe des Kapitäns, die fast ununterbrochen erschollen, waren in dem Brausen der Elemente kaum zu vernehmen.

Nun war freilich bei den Reisenden die höchste Todesangst an Stelle der Zuversicht getreten. Unter Deck war es nicht auszuhalten, und oben galt es, sich anzuklammern oder festzubinden, wo man konnte, um nicht über Bord geschwemmt zu werden. Um die Schrecken noch zu vermehren, brach ein furchtbares Gewitter aus; Blitz auf Blitz zuckte; aber die grollenden Donnerschläge waren kaum in dem allgemeinen Tosen und Brausen zu unterscheiden. Da traf der Blitz den Hauptmast, der mit fürchterlichem Krache zersplitterte und vom Sturme vollends gestürzt wurde. Das Maß des Unglücks aber ward erst voll, als der Orkan sich in einen Tornado, einen Wirbelsturm, verwandelte, der das mächtige Schiff wie einen Kreisel um seine Achse drehte, wobei das Steuerruder in einem Augenblick abgeknickt wurde. Bei der dichten Finsternis, die herrschte, war die Verwirrung an Bord unbeschreiblich. Von den Reisenden wußten die wenigsten, welches Unglück den Dampfer betroffen hatte, aber alle sahen das Verderben vor Augen. Ulrich und Friedrich wichen nicht von der Seite ihrer Mutter, die sie fest umklammert hielten, und die drei waren entschlossen, sich auch im Tode nicht voneinander zu trennen.

Der Tornado hatte nur wenige Sekunden gewütet. Sie hatten aber genügt, das stattliche Schiff in ein Wrack zu verwandeln, eines der Boote durch die Luft zu entführen und mehrere Menschen, Matrosen und Passagiere, in die kochenden Wogen zu reißen. Nun ließ der Orkan nach und die Wolken zerrissen, so daß die Morgendämmerung allmählich das Bild der Verwüstung den entsetzten Blicken der Schiffbrüchigen offenbarte. In geringer Entfernung zeigten sich die grauen Umrisse einer flachen Insel, die von den Matrosen für die Punta Brava in der Nähe des Festlandes von Tucacas erklärt wurde.

Da das Schiff leck war und zu sinken begann, ließ der Kapitän die Boote aussetzen. Rasch füllte sich das erste mit den in Todesangst sich drängenden Reisenden. Ulrich und Friedrich hatten Mühe, ihre Mutter noch hineinzubringen, ehe der letzte Platz besetzt war. Die edle Frau hatte sich von ihren Söhnen nicht trennen wollen und bestieg das Boot nur in der sicheren Voraussetzung, daß diese ihr folgen würden. Sobald sie bemerkte, daß das überfüllte Fahrzeug keinen Raum mehr bot, wollte sie zurück; aber schon stieß die Nußschale ab und schaukelte so gewaltig auf den bergeshohen Wogen, daß die zu Tode erschöpfte Frau halb ohnmächtig zu Boden sank. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie die Genugtuung, wenigstens noch sehen zu können, wie ihre Knaben im zweiten Boote Platz fanden. Aber ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr, als sie gleich darauf die Cartagena in den Wellen versinken sah: unter eigentümlichem Gurgeln verschwand der Koloß, und der ungeheure Strudel, der in demselben Augenblick entstand, erfaßte das Boot, in dem Ulrich und Friedrich Unterkunft gefunden hatten: es schwankte, schöpfte Wasser und schlug um. Mit stieren Blicken hatte die unglückliche Mutter das gräßliche Schauspiel verfolgt; – nun sank sie ohne Besinnung zurück, und ihr letzter Gedanke war ein Bedauern, daß sich ihr eigenes Boot nicht an Stelle des andern noch im Bereiche des Wirbels befunden habe, oder daß nicht beide miteinander untergegangen seien.

Die beiden Knaben waren beim Umschlagen des Bootes weit hinausgeschleudert worden, und da sie sich ziemlich am äußersten Rande des Strudels befanden, gelang es ihnen, sich als treffliche Schwimmer über Wasser zu halten. Die anziehende Kraft des Wirbels verlor bald ihre Wirkung, und das Meer glättete sich wieder über dem versunkenen Schiffe – wenn man so sagen darf, denn die Glättung war bei dem immer noch hohen Wogengange nur eine verhältnismäßige. Spieren und Fässer schwammen in Menge umher. Ulrich gelang es bald, sich an einem Balken festzuklammern, und auch Friedrich erreichte einen solchen. An dem Balken, den Friedrich erfaßt hatte, hing noch eine ganze Taurolle, die aber eben im Begriffe war, weggespült zu werden. Rasch ergriff der Knabe das Tau und band es mit einem Ende fest an seinen Balken, wohl einsehend, wie wertvoll es noch für ihn werden könnte. Dann aber war es sein Erstes, sich auf den Balken zu schwingen, um nach seinem Bruder und nach seiner Mutter Ausschau zu halten. Ulrich erblickte er dann ganz in der Nähe, ebenfalls auf einem Balken reitend; außer ihnen beiden schien kein Insasse des verunglückten Bootes gerettet zu sein.

Schwieriger war es, das Boot auszukundschaften, in dem sich die Mutter befand: es näherte sich rasch der Küste von Punta Brava und war nur zu erblicken, wenn es sich auf den Kamm einer Woge erhob. Auch Ulrich schaute scharf nach dem Boote aus. Die Knaben hatten selber keine Hoffnung, die Insel erreichen zu können, da sie sich willenlos mit ihren Balken dahintreiben lassen mußten: sie wurden von der Insel weg gegen Süden getrieben, der venezolanischen Küste zu, von der jedoch bloß westlich in weiter Ferne ein Streifen zu erblicken war. Nur von der Rettung der Mutter wollten sie sich überzeugen: ihr eigenes Schicksal kümmerte sie in diesem Augenblick wenig.

Ihre Hoffnung wuchs, je mehr sich das ängstlich beobachtete Boot der Insel näherte; doch sollten sie bald grausam enttäuscht werden: Punta Brava ist rings von einem Korallenriffe umgeben, das nur eine einzige Durchfahrt bietet. Dieser steuerte das Boot zu. Der Kampf mit den mächtigen Wogen erschwerte aber das Steuern ungemein, und in der Nähe des Riffes herrschte eine gewaltige Brandung; von dieser wurde das Boot erfaßt, ehe es sich in der Einfahrt befand; wie ein Ball wurde es gegen das Riff geschleudert, an dem es zerschellte.

Schreckenstarr sahen die Knaben dem grausigen Vorgange zu: schon hatten sie die Rettung der geliebten Mutter unzweifelhaft gewähnt, da mußten sie sehen, wie die Insassen jenes Bootes, die in der Ferne nur wie dunkle Punkte erschienen, im weißen Schaume der Brandung versanken. Nur instinktmäßig hielten die beiden sich an den Balken noch fest: es war, als hätte ihre eigene Rettung gar kein Interesse mehr für sie.


 << zurück weiter >>