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38. Die großen Katarakte

Am Nachmittag des 11. Novembers erreichten unsere Reisenden die erste der beiden berühmtesten Stromschnellen des Orinoko, von denen die Indianer Südamerikas bis in die entlegensten Winkel des Festlandes Wunder zu berichten wissen.

Auch Unkas und Matatoa sprachen schon lange von nichts anderm als von den großen Raudales de Atures und de Maypures oder von Mapara und Quittuna, wie die Eingeborenen sie nennen. Sie waren begierig auf das Schauspiel, das ihrer wartete, und ein wahres Fieber ergriff sie, als sie das Brausen der Fälle von ferne vernahmen.

»Da sagt man immer, die Naturvölker hätten keinen Sinn für Naturschönheiten,« bemerkte Friedrich. »Nun, hier haben wir den Beweis des Gegenteils. Jedenfalls sind besonders großartige Naturbilder auch ihnen ein Gegenstand der Bewunderung.«

»Na!« wandte Schulze ein, »zur wissenschaftlichen Begründung Ihrer Behauptung dürfen sie Unkas und Matatoa nicht wohl in Betracht ziehen; die Kerle sind inmitten der Zivilisation aufgewachsen.«

»Gewiß! Aber überall, auch bei den wildesten Völkerschaften Südamerikas, hört man seit undenklichen Zeiten die Wunder der Fälle Mapara und Quittuna preisen.«

Alle waren begierig, diese Wunder zu schauen, deren Nähe sich durch ein immer stärker anschwellendes Brausen ankündigte, das bald zum Wüten und Donnern wurde – und nun standen die Gefährten an den Stromschnellen von Atures, überwältigt von dem großartigsten Schauspiel, das sie je gesehen hatten!

Eine Kette von Granitfelsen, die von Osten her gegen den Strom drängt, scheint hier den Orinoko überschritten zu haben; die Wasser aber durchbrachen das Hindernis und stürzen nun in gewaltigen Fällen über staffelförmig aufgeschichtete Blöcke herab, zwängen sich zwischen schroffen Klippen hindurch und ergießen sich in mächtigen Wasserstürzen nach unten.

Hochauf spritzte der Schaum, und die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne durchflimmerten mit ihrem rosigen Goldglanze die zerstäubenden Wassermassen.

Unsre Freunde standen so, daß sie die ganze Reihe der breiten und schmalen Sturzbäche von einem Ufer bis zum anderen in einer Linie übersahen, und es machte ihnen den Eindruck, als schwebe der gewaltige Strom über seinem eignen Bette, sich unaufhörlich wieder in sich selbst hinabstürzend. Und zwischen den schwarzen Felsen, mitten im schäumenden Gewässer, erhoben sich lichtgrüne Inseln mit gefiederten Palmbäumen, und eben dieser Gegensatz von erhabener Wildheit und anmutiger Lieblichkeit gewährte einen Anblick, wie er sich herrlicher nicht denken ließ.

Lange Zeit standen alle stumm bewundernd vor dem unvergleichlichen Schauspiel, das ihnen der Salto de los Atures gewährte, die Indianer anscheinend in gleicher Verzückung wie die Weißen. Dann versank die Sonne im Westen, und sie rissen sich los, um das frühere Dorf Atures aufzusuchen, das in einiger Entfernung vom Ufer im Osten lag.

Man konnte deutlich sehen, daß der mit Felsblöcken bestreute ebene Grasboden, der das Dorf umgab, einst zum Flußbette gehört haben mußte. Erst hinter dem Dorfe erhoben sich die Felswände, die vor Zeiten das Ufer gebildet hatten.

San Juan Nepomuco de los Atures, die südlichste der Jesuitenmissionen am Orinoko, hatte das Schicksal so vieler ihrer Schwestern geteilt: sie stand verödet und verlassen; die Häuser waren meist zerfallen, doch hatten einige davon noch ziemlich gut erhaltene Dächer, und unsere Freunde freuten sich, wieder einmal in einer menschlichen Wohnung übernachten zu können, mochte sie noch so kahl und baufällig sein.

Gleich eines der ersten Häuser wurde zum Nachtquartier ausersehen, da es zu den besterhaltenen gehörte; aber Matatoa, der voranging, sprang sofort wieder entsetzt von der Schwelle zurück, und gleich darauf erschien brüllend ein mächtiger Jaguar unter der Haustüre, ein Tier von der Größe eines kleinen indischen Tigers.

Alle waren über diesen unerwarteten Anblick verblüfft. Ulrich allein hatte so viel Geistesgegenwart, sofort die Flinte anzulegen und das Tigertier, das bereits zum Sprunge ansetzte, niederzuschießen. Durch den Kopf getroffen, stürzte es zu Boden; aber schon war ein zweiter Jaguar auf der Schwelle erschienen, und ehe ein Schuß auf ihn abgegeben werden konnte, stürzte er sich auf Unkas; dieser jedoch sah sich vor, wich blitzschnell aus und stieß dem Tier, das dicht neben ihm den Grund erreichte, sein Jagdmesser zwischen die Rippen, worauf eine Kugel aus Friedrichs Büchse dem schwerverwundeten Raubtier vollends den Garaus machte.

Nun krochen zwei ganz junge Tigerkatzen heraus, die sich winselnd und schmeichelnd an die tote Mutter schmiegten, ohne eine Scheu vor den Menschen zu zeigen.

Als unsere Freunde sich einem anderen Hause zuwendeten, sahen sie auch dort unter dem Eingang zwei Jaguare erscheinen, die offenbar durch das Knallen der Schüsse aus ihrer Ruhe aufgeschreckt worden waren: es sah aus, als träte der Hausherr in Begleitung seiner Gattin vor die Haustüre, um nachzusehen, was los sei; bald drängte sich auch die kleine Familie neugierig hinter den Alten vor.

»Die Mission ist von Tigern bewohnt,« sagte Matatoa. »Nun! früher war es auch nicht viel besser, wie die Guahibo erzählen; immerhin mag Matatoa nicht hier bleiben und die Sennores wohl auch nicht.«

»Gewiß nicht!« sagte Ulrich. »Wenn noch mehr solche Einquartierung vorhanden sein sollte, wäre es zweifelhaft, ob wir das Nest säubern könnten, auch könnten wir eine unruhige Nacht erleben, und es ist immer noch die Frage, wer zuletzt Sieger bliebe.«

Schulze stand noch starr vor Schrecken, dann aber raffte er sich plötzlich auf und rief: »Nur fort! weit fort, ehe es ganz dunkel wird, unter solchen Umständen verzichtet man gern auf ein schützendes Dach!« Sein Rat wurde denn auch gleich befolgt, und die wilden Tiere ließen Menschen wie Maultiere ziehen, sie mochten dem Frieden auch nicht recht trauen.

Als ein geeigneter Lagerplatz gefunden war, äußerte der Professor: »Ich habe wohl gelesen, daß die Umgegend der Atures-Fälle von Tigern wimmle, und daß die Tiere sich mit Vorliebe in verlassenen Hütten häuslich niederlassen. Aber Jaguare als Dorfbewohner – nein! das hätte ich doch nicht für möglich gehalten!«

»Woher hat eigentlich die Mission ihren Namen?« forschte Ulrich, als sie eine Stunde später beim Nachtimbiß um ein Feuer saßen.

Schulze gab aus dem Schatze seines Wissens bereitwilligst Auskunft: »Sie trägt, wie übrigens alle Missionen der Gegend, neben ihrem Heiligennamen den Namen des Indianerstammes, nach dem die Gegend benannt war. Das Volk der Aturen gehört aber zu denjenigen, die auf rätselhafte Weise vom Erdboden verschwunden sind: man weiß nicht, ist es ausgestorben, ist es in eine unbekannte Gegend ausgewandert, oder ist es durch Vermischung spurlos in einem anderen Stamme aufgegangen.«

Am anderen Morgen ward die Reise fortgesetzt. Noch einmal wurden die Katarakte in der Morgendämmerung bewundert, wobei die schwarzen vom Wasser mit Eisen- und Manganoxyd überkrusteten Felsen sich noch düsterer von den weißschäumenden Fluten abhoben als im Abendsonnenglanz. Dann ging es rüstig weiter.

Die Gegend der Raudales de Atures und Maypures ist die ungesundeste und fiebergefährlichste im Orinokogebiet. Das Fieber ist aber gewöhnlich intermittent, das heißt, es tritt mit zeitweisen Unterbrechungen auf und ist nicht unmittelbar gefährlich. Ulrich und Friedrich fühlten an diesem Tage leichte Anfälle dieses sogenannten »dreitägigen« Fiebers; doch half ein Tee von Chinarinde ihrer kräftigen Natur bald über die Schwäche hinweg. Besonders bedenklich soll es sein, auf den »Laxas negras«, das heißt dem schwarzüberzogenen, übrigens abfärbenden, Granitgestein zu schlafen. Davor hüteten sich denn auch die Reisenden.

Mächtig erhob sich im Westen über dem linken Ufer des Orinoko der fünfhundertachtzig Meter hohe Bergkegel des Pic Uniana auf einer steil abfallenden Felsmauer, ein majestätischer Anblick, zumal der gewaltige Fels frei aus der Ebene aufstieg.

Die Landschaft bot eine außerordentliche Fülle von Abwechslung: Felsgruppen und -türme, von grünen Wiesen umgeben, die, mit zarten Kräutern und niederem Gras bewachsen, an europäische Matten erinnerten; ebene, völlig kahle Granitplatten dazwischen, dann wieder enge, sonnenlose Schluchten voll rankender Schlingpflanzen und leuchtender Blumen, steinige Öden, aus denen sich grüne blütenreiche Oasen erhoben – es war, als ob menschliche Kunst eine Parkanlage habe schaffen wollen, die die verschiedensten Naturschönheiten in sich vereinige.

Die Ferne war im Süden von hohen, schön geformten Bergen begrenzt, die meist dicht bewaldet waren; aus den Waldungen schossen gruppenweise schlanke bis zu vierzig Meter hohe Palmen auf, deren gekräuselte Wipfel sich scharf gegen den Himmel abhoben: es sah aus, als seien zwei Wälder übereinandergetürmt, oder der Wald sei in zwei Stockwerken aufgebaut.

Im Osten dagegen waren die Bergkämme mit gezackten Felsen besetzt, die wie Pfeiler über das Gebüsch emporragten.

Die Reiher, die Soldado und Flamingo, die auf den Felsbänken am Flußufer standen, machten den Eindruck militärischer Wachtposten und ließen sich aus der Ferne nur dann als Vögel erkennen, wenn sie aufflogen.

Auf dem ganzen Wege war das betäubende, donnernde Getöse der Fälle bald stärker, bald schwächer vernehmbar.

Zur Linken erhob sich ein steiler, glatter Granitberg; dort befand sich, wie Schulze versicherte, die berühmte Höhle von Ataruipe, die Grabstätte der Aturen, in der in Palmblätterkörbe gebettet sechshundert Skelette, teils mit wohlriechenden Harzen überzogen, teils mit Onoto gefärbt, ruhen; auch viele Graburnen mit kunstvollen Henkeln in Gestalt von Krokodilen und Schlangen seien dort zu finden.

Nachmittags vernahm man wieder ein lauteres Brausen und zunehmendes Getöse, das die Nähe der Katarakte von Maypures anzeigte. Als der Fuß des hohen Gebirges Cunavami erreicht worden war, erschienen die Fälle in ihrer großartigen Pracht.

Wie bei Atures zeigte sich eine ganze Reihe staffelförmiger Fälle hintereinander, deren jeder aus einer Unzahl kleinerer oder größerer Wasserstürze gebildet war, die in einer Linie von einem Ufer zum anderen liefen. Zwischen diesen Einzelfällen befanden sich wiederum reizende Palmeninseln und wilde Felsendämme. Der unterste Katarakt war der gewaltigste: hier stürzte das Wasser aus einer Höhe von drei Metern über den Granitdamm herab. Mitten aus den strudelnden Wassermassen ragten, gleich alten Burgen, die Felseninseln Quivitari und Camanitamini empor. Drüben auf dem westlichen Ufer lagen malerisch im Grünen gebettet die Überreste der Mission San Jose de Maypures.

Die Schwärze der Felsen, das Grün der weit über zwanzig Meter hohen Palmen, das Blau des Himmels und darunter der silberweiße Gischt; die Totenstille der Natur ringsum und das wütende Zischen und Donnern der Wassermassen – das alles machte einen unauslöschlichen Eindruck auf die Gemüter der ergriffenen Zuschauer. Nicht zum wenigsten schienen die beiden Indianer überwältigt zu sein, so daß sie sich hernach ganz abgestumpft zeigten und bei den großartigsten Naturbildern, auf die sie späterhin aufmerksam gemacht wurden, für gewöhnlich die Achseln zuckten und sagten: »Ach was! das will nichts heißen wir haben die Raudales Mapara und Quittuna gesehen!«

Besonders auffallend waren zwei Felsen, der Mondfelsen Keri, der aus einem vertrockneten Arm des Orinoko am westlichen Ufer aufragt und hoch oben einen weithin glänzenden silberweißen Fleck zeigt: das Bild des Mondes, und östlich von diesem, mitten in den Fällen, der Sonnenhügel Quivitari mit dem scheibenförmigen Bilde der Sonne.

Nach einstündigem Aufenthalt an dieser unvergleichlichen Stelle brachen unsere Freunde wieder auf. Ziemlich schwierig war der Paß zwischen dem Orinoko und der Bergkette des Cunavami, die sich hier mit ihrem letzten Ausläufer, dem Pie von Calitamini, bis hart an den Strom drängt.

»Dies ist ein geographisches Ereignis!« sagte Schulze feierlich. »Humboldt sagt, kein Mensch sei je diesem Berge nahe gekommen, um dessen Fuß wir uns jetzt herumdrücken, und seit Humboldt hat sich hierin nichts geändert. Wir dürfen stolz sein auf diese Tat!«

Zwei Stunden später durchquerten sie den Rio Sipapo und beschlossen, an seinem linken Ufer ihr Nachtlager aufzuschlagen. Der geheimnisvolle Pic Calitamini, ein abgestutzter Kegel, erstrahlte, von der untergehenden Sonne beleuchtet, in seinem eigentümlichen rötlichen Feuer, hier und da von silberweißen Blitzen unterbrochen, wie er dies, nach Humboldts Bemerkung, alle Tage tut; die sichere Ursache dieser einzigartigen Erscheinung konnten auch unsere Freunde nicht ergründen.

Der Imbiß, der vor der Nachtruhe eingenommen wurde, bestand diesmal nur aus Palmfrüchten, Kassavebrot und Honig; an Fleisch mangelte es, da kein Wild erlegt worden war – zum großen Bedauern des tierkundigen Feinschmeckers. Ein großer Frosch, den Friedrich aufstöberte, schien ihm für einen Braten wenig geeignet, wogegen er sein wissenschaftliches Interesse mächtig erregte; das Amphibium war prächtig gefärbt, Rücken und Kopf von sammetartigem Purpur, der Bauch gelb, und vom Maul bis zu den Hinterbeinen zog sich ein einziger schmaler weißer Streifen.

Angesichts der Seltenheit dieses Tieres beschloß Schulze, auf die Schenkel des Tieres zu verzichten und es vollständig seiner Naturaliensammlung einzuverleiben.


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