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7. Die Schiffbrüchigen

Lange dauerte es, bis die Knaben wieder zum Bewußtsein der eigenen Lage kamen. Der Sturm ließ immer mehr nach, und Friedrich, dessen Balken der bedeutend leichtere war, sah sich immer näher dem Bruder zugetrieben. Nun empfand er erst den Trost, daß wenigstens Ulrich der Katastrophe entgangen war, und er richtete sein Augenmerk darauf, mit ihm zusammenzukommen. Die Brüder waren einander so nahe, daß sie sich beim abnehmenden Getöse der Elemente gegenseitig verständlich machen konnten. »Steure auf mich zu!« rief Ulrich; aber das war leichter gesagt als getan, denn wie sollte Friedrich das Steuern bewerkstelligen? Er war in Gefahr, in einiger Entfernung an Ulrich vorbeizutreiben, und wer konnte dann wissen, ob sie nicht dauernd voneinander getrennt würden? Dies erschien ihnen nun als die augenblicklich größte Gefahr, und ließ ihre Gedanken von dem schrecklichen Schicksal ihrer Mutter etwas abkommen. Friedrich besann sich nicht lange, was er zu tun habe: er zog das im Meer treibende Tau an sich, bis er dessen freies Ende in Händen hatte, und nun warf er es mit einem geschickten Wurf dem Bruder zu, der so glücklich war, es aufzufangen, und alsbald an dem Seile Friedrichs Balken heranzog.

Nun aber begann für die Jünglinge eine schwere Arbeit. Ihre Kräfte waren nahezu erschöpft, und doch mußten sie darauf bedacht sein, nicht wieder getrennt zu werden und sich möglichst sicher an den Balken zu befestigen, da sie nicht wissen konnten, wie lange sie noch in den Fluten treiben mußten. Zunächst wollten sie versuchen, die Balken kreuzweise übereinanderzuschieben und in dieser Lage fest aneinanderzubinden. Sie fanden zu ihrem Erstaunen, daß der hohe Wogengang ihnen hierbei eher förderlich als hinderlich war. Während ein Schiff mit großem Tiefgang unter den starken Wellen, die sich an den Schiffswänden brechen und leicht das Deck überfluten, schwer zu kämpfen hat, werden leichtere Gegenstände auch von den höchstgehenden Wogen sanft emporgehoben und gesenkt, und der Schwimmer empfindet weniger Anstrengung als bei spiegelglatter See: nur Sturzseen und die Brandung am Ufer sind für ihn unmittelbar gefährlich. So gelang die allerdings anstrengende Arbeit des Übereinanderschiebens der Balken in verhältnismäßig kurzer Zeit, wobei unsere Freunde an den Balken selber stets einen Halt fanden, der sie über Wasser hielt. Schwieriger war es, das Tau unter dem Kreuzungspunkte hindurchzuziehen, dazu mußte unter Wasser getaucht werden; aber auch dieses Kunststück gelang nach einigen vergeblichen Anläufen.

Auf dem derart hergestellten Kreuze reitend, die Balken mit den Füßen umklammernd, zerschnitten unsere Freunde mühsam mit den Taschenmessern den langen Strick. Der Rest ihrer Arbeit war weit weniger beschwerlich, und nur die große Ermattung zwang sie, öfters zwischenhinein auszuruhen; sie knüpften aus den kürzeren und längeren Stücken des Seiles zwei Netze, die sie in zwei gegenüberliegenden Winkeln des Balkenkreuzes befestigten. In diesen Netzwerken konnten die Schiffbrüchigen, freilich mit halbem Leibe im Wasser, bequem und sicher liegen: von den Wellen gehoben und gesenkt fühlten sie sich ganz angenehm geschaukelt, ein Untersinken war nunmehr unmöglich. Zur Vorsicht banden sie sich noch selber mit dem Oberkörper unter den Armen an den Balken fest, so daß sie auch bei völliger Entkräftung, ja selbst im Falle einer Ohnmacht sicher waren, nicht mit dem Kopfe unter Wasser zu kommen. Auch einem erneuten Sturm konnten sie derart geborgen ohne Furcht entgegensehen: es kam jetzt alles darauf an, daß sie eine Küste erreichten, ehe sie dem Hunger erlagen, dessen erste Regungen sie schon verspürten.

Tiefgreifende Erlebnisse besonders schmerzlicher Art ermüden den menschlichen Geist gewöhnlich derart, daß er bald nicht mehr imstande ist, den traurigen Gedanken nachzuhängen. Je heftiger die Seelenerschütterung ist, desto rascher tritt natürlicherweise der Umschwung ein, und das ist gut, sonst müßte der Schmerz zur Schwermut führen. Der Geist erlebt in kurzer Zeit so viel, daß ihm nach wenigen Stunden das schmerzliche Erlebnis um Monate oder Jahre zurückzuliegen scheint und eine milde Wehmut an Stelle des heftigen Schmerzes tritt. Das erfuhren auch Ulrich und Friedrich, wenn sie ihrer Mutter gedachten. Die erste Trauer war so übermäßig stark gewesen, daß sie bald nicht mehr imstande waren, ihr dauernd nachzuhängen und ihre gesunde Natur das Übermaß des Schmerzes rasch überwand.

Unter glühendem Sonnenschein trieben die Jünglinge immerfort langsam nach Süden, oft halb bewußtlos. Die Kühle des Abends bot ihnen endlich willkommene Erquickung, und zwischen Wachen und Schlummern oder Ohnmacht verging ihnen die Nacht in den salzigen Wogen.

Erst als der sonnige Morgen aufglänzte, kamen sie wieder zu völligem Bewußtsein, und trotz der ausgestandenen Strapazen und des nagenden Hungers ruhten ihre Augen entzückt auf dem prächtigen Schauspiel, das sich ihnen bot: wenige hundert Meter vor ihnen lag die Küste von Venezuela ausgebreitet. Seltsame Pflanzen mit riesigen Blättern und ungeheuren Blüten, Palmen und Bananen, Riesenkakteen, die bis zu zwanzig Meter hohen Armleuchtern glichen, Agaven und Mimosen säumten die merkwürdig rotgelben Ufer. Im Hintergrunde erhoben sich mächtige Berge, von Urwald bedeckt, und zur Linken, in einer Entfernung von etwa einer Stunde, leuchteten die Häuser von Puerto Cabello durch die Manglebüsche.

Das Wasser der Bucht war so klar, daß man bis auf den Grund sehen konnte, wo zierliche Seepflanzen und schimmernde Korallen wuchsen, zwischen denen sich allerlei Getier mehr oder minder lebhaft bewegte. Da die Balken in dem völlig beruhigten Meeresspiegel fast unbeweglich verharrten, entschlossen sich die Brüder, die kurze Strecke bis zum Ufer schwimmend zurückzulegen. In der Nähe des Strandes erblickten sie eine Hacienda, das heißt ein Landhaus, das fast völlig von den Bäumen eines tropischen Parkes verdeckt war; diesem beschlossen sie als dem nächstliegenden Landungspunkte zunächst zuzustreben.

In diesem Augenblick trat aus dem offenen Tore des Parkes ein kleines Mädchen, das eiligen Fußes dem Meere zu hüpfte; dort schien es Muscheln im Sande zu suchen; dann kletterte es auf einen Felsblock am Ufer, der wie ein Hafendamm sich lang ins Wasser hineinstreckte. Auf dem schlüpfrigen Felsen, der zur Flutzeit mit Wasser bedeckt sein mußte, trippelte das Kind weiter bis zu seinem äußersten Rande; dort aber glitt es plötzlich aus und fiel mit einem gellen Aufschrei ins Wasser.

Ulrich ruderte aus aller Kraft dem Felsen zu; Friedrich folgte ihm, konnte aber mit der Körperkraft des Bruders nicht wetteifern. Sie sahen das Kind noch einmal auftauchen, dann aber in den Fluten versinken. Allein Ulrich war alsbald zur Stelle; er tauchte hinab und erreichte in einer Tiefe von zwei Metern den Grund, auf dem er das zarte Geschöpf alsbald entdeckte. Rasch umfaßte er es mit einem Arme und stieg mit ihm ans Licht empor. Unterdessen war Friedrich nachgekommen und in weniger als zwei Minuten hatten die beiden mit dem bewußtlosen kleinen Mädchen den Strand erreicht. Kurz darauf kam ein bärtiger Mann in weißen Leinenkleidern und mit einem großen Strohhut aus dem Parktore gesprungen. »Mein Kind, mein Kind!« schrie er auf spanisch. »Hier ist es; es lebt, es ist gerettet,« rief ihm Ulrich in der gleichen Sprache zu.

Die Knaben hatten gleich, nachdem sie das Kind in den Sand niedergelegt, dessen Kleider geöffnet und durch Bewegung seiner Arme künstliche Atmung eingeleitet. Da das Mädchen nicht lange unter Wasser gelegen hatte, zeigte sich rasch der Erfolg dieser zweckmäßigen Behandlung, und als der Vater zur Stelle kam, sah er schon sein Töchterlein die großen Augen aufschlagen. Der entzückte Mann preßte das Kind an die Brust und bedeckte sein Antlitz mit Küssen. Dann aber reichte er den Knaben die Hand und dankte ihnen mit warmen Worten. Zugleich schalt er über die unachtsame Wärterin, die das Unglück verschuldet hatte.

Als er vernahm, daß die Retter seines Lieblings Schiffbrüchige waren, nötigte er sie alsbald in seine Wohnung und ließ sie vollständig neu kleiden, da er Diener von ihrem Alter und von ihrer Größe besaß. Dann wurde ihnen zunächst ein reichlicher Imbiß vorgesetzt, der den Halbverhungerten vorzüglich mundete, obgleich er meist aus ihnen völlig unbekannten Speisen und Früchten bestand.

Ganz außer sich vor Freude zeigte sich jedoch der Besitzer der Hacienda, als er vernahm, daß die neugewonnenen jungen Freunde Deutsche waren. »Ich selber bin deutscher Geburt,« sagte er nun in deutscher Sprache, »und heiße Lehmann; freilich habe ich mein Vaterland seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. So lange ist es her, daß ich mich hier niederließ. Mein Geschäft hat einen glänzenden Aufschwung genommen, aber was kümmerten mich noch meine Reichtümer, wenn ich meine kleine, süße Inez verloren hätte? Sie allein ist es, für die ich lebe und arbeite, sie ist meine einzige Freude, seit ich vor drei Jahren meine geliebte Gattin zu Grabe tragen mußte.« Lehmanns Frau war die Tochter eines reichen spanischen Kolonisten aus Caracas gewesen und hatte ihm ein einziges Töchterlein hinterlassen, die nunmehr sechsjährige Inez. Es läßt sich begreifen, zu welchem Dank sich der liebende Vater den Rettern seines einzigen Kindes verpflichtet fühlte.

Als er erfuhr, daß die Jünglinge sich in das Gebiet des Amazonenstromes begeben wollten, um ihren Vater aufzusuchen, wandte er alle Überredungskunst an, sie von diesem Vorhaben abzubringen: er schilderte ihnen die tausend Gefahren der Reise; er erbot sich, einen Boten an Friedung zu schicken und bis zu dessen Rückkehr die Knaben bei sich zu behalten. Friedung käme dann gewiß, sie persönlich abzuholen.

Es war aber alles umsonst: sowohl Ulrich als Friedrich zeigten sich allzu ungeduldig, den Vater wiederzusehen, und Furcht vor den geschilderten Gefahren war ihnen nicht beizubringen.

Die nächsten zwei Tage jedoch mußten die Jünglinge zur Erholung bei Herrn Lehmann verweilen. Diese Zeit benutzte ihr freundlicher Wirt, um sie über alles aufzuklären, was ihnen für die Reise wissenswert sein konnte. Dabei belehrte er sie nicht bloß über die Vorsichtsmaßregeln, die zum Schutze vor wilden und giftigen Tieren notwendig seien, sondern machte sie auch hauptsächlich mit den verschiedenen Pflanzen und Bäumen vertraut, die ihnen reichliche Nahrung auf der Reise bieten konnten.

»Viel Proviant könnt ihr nicht mitnehmen,« sagte er, »wer aber nur die Fülle der köstlichen Nahrungsmittel einigermaßen kennt, die die üppige Pflanzenwelt dieser Länder allerwärts hervorbringt, der kommt kaum in Gefahr, Hunger leiden zu müssen. Auch Wild gibt es fast überall in reichlicher Menge, nur leider auch sehr gefährliches!«

Die Pflanzen und Bäume, die Herr Lehmann sie kennen lehrte, wuchsen meist auf seiner ausgedehnten Besitzung, so daß er ihnen alles anschaulich einprägen konnte. Auch versäumte er nicht, sie für den Notfall zu unterweisen, wie man auf indianische Weise Feuer anzündet; er zeigte ihnen die geeignetsten Bäume, in deren Holz, wie der Indianer sagt, Feuer wohnt, und übte sie in den nötigen Kunstgriffen. Ihr deutsches Gold wechselte er ihnen in einheimische Münze ein, wobei er eine bedeutende Summe zulegte unter dem Vorwande, deutsches Gold stehe hier sehr hoch im Kurse. Schließlich nötigte er die Jünglinge, zwei prächtige Maultiere aus seinen Stallungen ›als kleinen Beweis seiner Dankbarkeit‹ anzunehmen. Ohne diese Tiere, versicherte er, sei die Reise überhaupt nicht zu machen, und er habe deren übergenug. Das war ein wertvolles Geschenk, denn die Mittel unserer jungen Freunde hätten ihnen eine Ausgabe von etwa zweitausend Mark für zwei solche Tiere unmöglich gestattet.

Am 5. Oktober begleitete Herr Lehmann die Brüder nach Puerto Cabello, half ihnen noch bei den notwendigsten Einkäufen und brachte sie abends in einem Gasthofe unter, worauf er sich aufs herzlichste von ihnen verabschiedete und die Hoffnung auf ein späteres Wiedersehen aussprach. Ganz besonders empfahl er ihnen noch Vorsicht in Hinsicht auf die gegenwärtigen kriegerischen Ereignisse; dann mußte er sie schweren Herzens ihren weiteren Schicksalen überlassen.


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